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Ausgabe:

1916 Nr. 8

Spalte:

179-180

Autor/Hrsg.:

Nolte, Friedrich

Titel/Untertitel:

D. Johann Albrecht Bengel. Ein Gelehrtenbild aus der Zeit des Pietismus 1916

Rezensent:

Zscharnack, Leopold

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179

Theologifche Literaturzeitung 1916 Nr. 8.

180

Bauer, Kirchenr. D. F.: Johann Heinrich Büttner. Ein Bild
evangel. Glaubenstreue zur Zeit des ßojähr. Krieges u.
der nachfolg. Jahre des Friedens in der früheren Herrfchaft
Lahr-Mahlberg. (III, 182 S.) 8°. Karlsruhe i. B.,
Ev. Schriftenver. 1913. Geb. M. 2.40

Nolte, Ob.-Lehr. Frdr.: D. Johann Albrecht Ben gel. Ein Gelehrtenbild
aus der Zeit des Pietismus. (XVI, 169 S.) 8°.
Gütersloh, C. Bertelsmann 1913. M. 2.40; geb. M. 3 —

Kleuker, Superint. a.D. Karl: D. Johann Friedrich Kleuker.

(Profeffor der Theologie in Kiel 1799—1827), e. Zeuge
der evangelifchen Wahrheit im Zeitalter der Aufklärung.
(III, 133 S.) gr. 8°. Hannover, H. Feefche 1913. M. 2 —

Es hat einen eigentümlichen Reiz, diefe drei Biographien
, die dem Referenten zufällig zu gleichzeitiger Besprechung
vorlagen, nach einander zu lefen und an den
drei Theologen, von denen fie handeln, den Gang der
kirchlichen Entwicklung vom Zeitalter des konfefiionellen
Streites und der Religionskriege des 17. Jahrhunderts durch
den Pietismus hindurch zur Aufklärungsperiode und der
orthodoxen Reaktion gegen den Rationalismus zu verfolgen.
Freilich find nicht alle drei fo gearbeitet, daß uns darin
das Zeitalter, dem der betreffende angehörte, und das
Milieu, in dem er lebte, gleich plaftifch vor Augen träte.
Am beften genügt diefen Anfprüchen Bauers Bild des
treuen, um den Proteftantismus in der Herrfchaft Lahr-
Mahlberg befonders während der Drangfalszeit des dreißigjährigen
Krieges hochverdienten Pfarrers Büttner, bei
deffen Lebensfchilderung die politifchen Zeitverhältniffe ja
fchon deshalb dauernd berückfichtigt werden mußten, weil
fie fo oft einen Wechfel in feiner Lebensführung veranlaßt
(1612 Pfr. in Harskirchen, Herrfchaft Naffau-Saarwerden;
1631 in Mietersheim, 1633 in Ichenheim, 1635 m Altenheim
; f 1669) und auch mit ihren kulturellen, wirtfchaft-
lichen und fittlichen Folgen fchwer auf feinem Leben und
feiner Amtsführung gehaftet haben. Aber man merkt es
der Schrift Bauers an, daß ihm die Milieufchilderung an
fich Freude macht, fodaß er auch ohne fo zwingende
Gründe aus dem reichen Schatz feines hiftorifchen Wiffens
und den Erträgen feiner Studien im Karlsruher Generallandesarchiv
und in den Kirchenbüchern plaftifche Zeitbilder
und lebendige Schilderungen derZuftände derLahr-
Mahlberger Gemeinden jener Jahrzehnte vor uns entrollt,
wie er es in noch größerem Umfange in feinem neueften
Werk .Reformation und Gegenreformation in der früheren
naffau-badifchen Herrfchaft Lahr-Mahlberg' (1915) getan
hat. Aus der vorliegenden Biographie fei noch befonders
auf die Schilderungen S. 80—138, die der Zeit nach dem
30jährigen Kriege gelten und teils auf Büttners Aufzeichnungen
, teils auf Vifitationsakten (1667 fr.) beruhen,
hingewiefen, die Beachtung verdienen — auch zum Ver-
ftändnis des Aufkommens des Pietismus —, obwohl Bauer
felbft gelegentlich (S. 83) davor warnt, diefe vorwiegend
die Schattenfeiten im kirchlichen und fittlichen Leben der
Gemeinden betonenden Schilderungen als objektiv-hifto-
rifche Schilderungen zu nehmen, ftatt ihre Einfeitigkeit zu
bedenken. Wohl aber laffen fie uns verliehen, wie ernfle
Geiftliche nach Büttners Art durch diefe von ihnen tief
empfundenen Schäden in eine der pietiftifch-praktifchen
Tendenz nahekommende Linie hineingezogen und, ohne
die reine Lehre zu vergeffen, das fittliche Leben und gott-
felige Verhalten ftärker zu betonen veranlaßt wurden.
Leider reichen die Quellen nicht hin, um Büttners innere
Entwicklung zu rekonflruieren; fie ifb wohl die übliche
gewefen. Überhaupt hat man den Eindruck, als ob Büttner
fo gut wie garnichts Eigenartiges an fich gehabt, fondern
in allem Wefentlichen dem allgemeinen Typ der ernft-
gerichteten Geiftlichen der Zeit entfprochen habe. Oder
ift dies nur die Folge von Bauers Darftellungsmethode?

Wie ftark die Darftellungsmethode das Bild verzerren
kann, kann man an der uns vorliegenden den Kieler Theologen
Kleuker (+ 1827) betreffenden Schrift feines Nachkommen
fehen, wo auf jede Zeitfchilderung, auf jede
Parallelifierung und alle Vergleiche verzichtet wird, fodaß
der Eindruck entfleht, als habe man in Kleuker eine ganz
eigenartige Größe vor fich, — was doch nicht der Fall
ift, obwohl ein Claus Harms diefen biblifch-fupranatura-
lifiifch und antiaufklärerifch gerichteten Apologeten als
einen .Morgenftern der Reformation der evangelifchen
Theologie' hat feiern können. Das vorliegende Heft druckt
S. 3 — 15 den Lebenslauf, fowie die Würdigung der Per-
fönlichkeit und der Theologie Kl.s wieder ab, die H. Ratjen
in Verbindung mit Pfaff und Dorner in feiner Kleuker-
biographie v. J. 1842 geboten hatte, gibt S. 117—133 eine
eigene, Dorner vielfach widerfprechende, aber nicht tiefgehende
Beurteilung der Theologie Kl.s und befchränkt
fich in dem großen Mittelftück auf Exzerpte: aus Kl.s
theologifcher Erftlingsfchrift .Menfchlicher Verfuch über
den Sohn Gottes und der Menfchen' (1776; S. 19—34),
aus feinen für die neuteftamentliche Theologie nicht unbedeutenden
Briefen unter dem Titel: Johannes, Petrus
und Paulus als Chriftologen betrachtet' (1785; S. 94—117),
aus feinen apologetifchen Hauptwerken über ,Die Wahrheit
und den göttlichen Urfprung des Chriftentums wie
j der Offenbarung überhaupt' (1787fr.; S. 34—65) und über
,Die Echtheit und Glaubwürdigkeit der fchriftlichen Urkunden
des Chriftentums' (S. 65—85) und endlich aus
feinem kräftig gegen das Nebeneinander von biblifch-
chriftlichen undrationaliftifchen Theologen in einer Kirche
proteftierenden Votum v. J. 1819 .Über das Ja und Nein
der biblifch-chrifllichen und der reinen Vernunfttheologie'
(S. 86—94). Den vielen fich aufdrängenden Fragen über
Kl.s hiftorifche Stellung wird leider nicht nachgegangen.
Man erfährt nicht, welchen Einfluß fein Verkehr mit Michaelis
in Göttingen und mit Herder in Bückeburg auf
ihn ausgeübt hat; feine Stellung zu Kant bleibt trotz
S. 35fr. n8f. unklar; er hätte ferner mit den zeitgenöffifchen
Apologeten wie Leß, Lilienthal, auch Nöffelt verglichen
werden müffen, um feftzuftellen, inwiefern auch feine anti-
rationaliftifche Schriftftellerei fchließlich nicht doch noch,
wie Horft Stephan es in feiner Kirchengefchichte § i2;i
tut, unter der Überfchrift ,Der Gefamtertrag der Aufklärung
' mitzubuchen ift — trotz feiner fcharfen Polemik
gegen die Vernunfttheologie und deren Offenbarungs- und
Bibelkritik. Das bleiben offne Fragen, ebenfo wie feine
Stellung zur Theofophie, zum biblifchen Realismus pieti-
ftifcher Obfervanz u. dgl.

Um wieviel plaftifcher ift das Bild Bengels von Nolte
gezeichnet, obwohl auch N. fich, abgefehen vom Vorwort,
meift auf eingehendere Milieufchilderungen nicht einläßt
und fo nicht in Allem die wünfchenswerte Klarheit erreicht
wird. Während z. B. Bengels Verhältnis zur Brüder-
I gemeine, deren Vordringen in Württemberg er infonder-
heit feit 1742 kräftig entgegengewirkt hat, in einem be-
fonderen Kapitel behandelt wird (S. Iii—135), wird Bengels
; Gegenfatz zum Hallefchen Pietismus, deffen Art ihm trotz
| feiner Verehrung A. H. Franckes (f. S. 18 ff. 32 h) als ,zu
kurz' galt (vgl. S. XII f., 148 u. ö.), nicht fcharf genug
j herausgearbeitet, und ebenfo hätte B. als Gelehrter und
I als kirchlicher Praktiker dem befonderen Typus des
■ württembergifchen Pietismus, als Theologe und Wiffen-
fchaftler auch der pietiftifchen Gefamtbewegung noch
fefter eingegliedert werden können; in letzterer Hinficht
hätte dem Verfaffer ein Blick in Horft Stephans lefens-
werte Brofchüre über den .Pietismus als Träger des Fort-
fchritts ufw.' (1908) von Nutzen fein können. Trotz diefer
Lücken lieft man diefe im Aufbau an die älteren Biographien
und Darftellungen von Burk und Wächter, auch
Neftle (,B. als Gelehrter', in: .Marginalien und Materialien',
1893) angelehnte, aber durch gute Kenntnis der Bengelfchen
Schriften (vgl. bef. S. 35—110) ausgezeichnete Biographie
mit Freuden, obwohl das bekannte Bild Bengels dadurch
nicht modifiziert wird.

Berlin-Steglitz. Leopold Zfcharnack.