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Ausgabe:

1915 Nr. 7

Spalte:

149-150

Autor/Hrsg.:

Schuster, Hermann

Titel/Untertitel:

Religiöse Kriegsliteratur 1915

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H9 Theologifche Literaturzeitung 1915 Nr. 7. 150

finden fich, die in einer thiiringifchen Stadt viel Anklang
gefunden haben; wahrfcheinlich wären diefe am erften
entbehrlich gewefen. Das 2. Heft bietet ausgeführte Gottes-
dienftordnungen für die einzelnen Feftzeiten, auch für eine
liturgifche Feier zum Gedächtnis der Gefallenen. 11 Seiten
in Heft I bringen Gedanken für Kriegspredigten, die man
in einer Agende kaum erwartet, die aber grundfätzlich
fehr beachtenswert find; vielleicht könnten fie noch mehr
in praktifche Vorfchläge münden. Ihr Verfaffer ift F.
Niebergall; zu den liturgifchen Materialien haben außer
den Herausgebern Niebergall und die Pfarrer Berendt
(Landow), Bungenberg (Jnden), Cesar (Jena), Sup.
Müller (Düren), Dekan Raupp (Mundingen), Schwenke
(Brandenburg), Staudte(Aachen), Voß(Zarpen), Werner
(Weimar), Wolff (Aachen) beigefteuert; auch find zahlreiche
gedruckte Quellen benützt, besonders Wurfters
Kriegsgebetbüchlein. Im Allgemeinen fcheint mir bei der
Auswahl eine glückliche Hand gewaltet zu haben.

Zwar hatten die Gottesdienftordnungen Nr. i—3 (,Am I. Mobilmach-
ungstag' und ,Bei Beginn des Krieges') und II (,Nach einer erften Siegeskunde
') fchon als die Agende erfchien, nicht mehr die Bedeutung prak-
tifcher Verwendbarkeit; fowohl die Begräbnis- wie die Trauungsliturgie
können natürlich nicht den Vorfchriften der verfchiedenen Landesagenden
entfprechen; an der Form der Gebete kann man gelegentlich Kritik üben
(z. B. das 2. Eingangsgebet Heft II, S. 4 hat Härten); auch mag manchem
an die überlieferte liturgifche Ausdrucksweife Gewöhnten der Stil öfter
zu .modern' fein; möglich ift auch, daß die theologifche Sonderart fich
zuweilen vom Gedankeninhalt nicht voll befriedigt fühlt. Aber es wäre
fehr falfch, wenn man durch irgendwelche Einzelwünfche die Anerkennung
irgend beeinträchtigen ließe, daß dem fraglos fehr lebhaften Bedürfnis
nach einer Kriegsagende hier in einer fehr fchönen, praktifchen Geftalt,
unter Darbietung reichlicher und fehr brauchbarer Materialien, fo rafch
genügt worden ift.

Rüling15 ftellt allerhand Ratfchläge zufammen; er
denkt fowohl an die kirchlichen als auch an die häuslichen
Andachten. Schriftlefung, Gebet und Lied werden
befprochen; dabei find Bibelftellen zur Auswahl genannt
und einige Gebete für Kriegszeiten nach J. F. Stark,
Löhe, Herold (fehr lang) und anderen abgedruckt. Über
die Lieder ift ganz wenig gefagt. Der Gedanke des
Heftes ift gut, doch die Ausführung ift gar zu fragmentarifch.

M. Schian, Gießen.

Von den von Jäckh herausgegebenen politifchen
Flugfchriften (Stuttgart, Deutfche Verlags-Anftalt, je
50 Pf.) haben mehrere für unfere Lefer befonderes Intereffe,
da fie auch religiöfe oder ethifche Probleme berühren.
Becker: Deutichland und der Islam16 behandelt u. a. das
Verhältnis der Türkei zum nichttürkifchen Islam und ftellt
feft, daß heutzutage in den Mofcheen nicht nur aller ehemals
türkifchen Gebiete fondern auch in Ländern, die nie
zur Türkei gehört haben, wie Britifch-Indien, für den regierenden
Sultan als den ,Kalifen' gebetet wird. Ja fogar
heterodoxe Sultane wie die vonSanfibar haben dem Volksempfinden
foweit entgegenkommen müffen, daß fie die
in ihren Augen ketzerifchen Türkenfultane vor fich felber
Jm Gebete nennen ließen. Der im Kalifatsgedanken liegende
Zufammenhang in der islamifchen Welt ift alfo fehr
ftark. Demgegenüber hat es gar nichts zu fagen, daß nach
der Mehrzahl der orthodoxen Rechtsfchulen die Türken
nie Kalifen fein können, weil diefe Würde den Arabern
vorbehalten ift. Was verfangen diefe Rechtstheorien gegenüber
der Wirklichkeit und dem Zufammengehörigkeits-
gefühl der Mohammedaner, das fich naturgemäß an die
itarkfte noch beftehende islamifche Macht anlehnt?!' Doch
warnt Becker, der vor dem türkifchen Kriegsbeginn fchreibt,
vor Uberfchätzung der Wirkungen des heiligen Krieges.

Gottfried Traub: Der Krieg und die Seele17 gibt in
aphoriftifcher Form ernfte und feine Gedanken über die
Art, wie draußen und daheim der Krieg auf uns wirkt

15) Rüling,' Pfr. D. J.: Die Herzen zu Gott. Ratfchläge f. kirchl. u.

ftausl. Kriegsandachten. 2. Aufl. (20, S.) kl. 8». Leipzig, A. Deichert

»914. M. — 45 v v ;

id) Becker, Prof. Dr. C. H.: Deutfchland u. der Islam. (31 S.) 1914-
17) Traub, Gottfr.: Der Krieg u. die Seele. (26 S.) 1914.

I und wie wir feelifch den Krieg und feine Aufgaben bewältigen
follen. Wertvoll ift z. B. der Hinweis darauf,
daß der Krieg freilich feelifche Maffenwirkungen auslöft,
daß aber der Wert der Einzelfeele ungeheuer gewonnen
hat, da ihr gewaltige neue, ungeahnte Aufgaben zuge-

I mutet werden.

Binswangen Die feelifchen Wirkungen des Krieges18

| bildet zu Traub eine höchft wertvolle Ergänzung; denn
hier redet einer unferer erften Nervenärzte. Wenn es
wahr ift, daß die feelifche Erfchütterung den Schwachen
niederwirft und den Starken emporreißt, fo hat fich
Deutfchland in diefem Krieg feelifch ftark und gefund
erwiefen. Das fchildert B. (der geborene Schweizer) mit
überzeugter Wärme. Er verfchweigt nicht unfere Fehler,
die aber weit zurück bleiben hinter den (urkundlich belegten
) krankhaften Ausbrüchen von Lüge und Haß bei
unferen Gegnern. Mit Freude und Dank begrüßen wir
auch, was B. gelegentlich (S. 20) über den Wert der
ftärkeren religiöfen (und philofophifch-idealiftifchen) Bewegung
des letzten Jahrzehnts fagt, wie überhaupt feine
GrundauffafTung ausgeprägt antimaterialiftifch ift.

Eucken findet die weltgefchichtliche Bedeutung des
deutfchen Geiftes19 darin, daß er die beiden Seiten —
Unterwerfung der fichtbaren Welt und damit Entfaltung
einer Arbeitskultur, fowie Vertiefung in die Innerlichkeit
und fomit Schaffen einer Seelenkultur — in fich vereinigt
. Unfer Idealismus ift ja nicht quietiftifch wie der
indifche und nicht äfthetifch wie der griechifche, fondern
aktiv und ethifch. Möge nur Deutfchland bei feiner eigenartigen
Berufstreue bleiben, die Seele in die Arbeit legt,
und fich nicht zum Haften und Jagen des Nützlichkeitsideals
verführen laffen.

Ebenfo verdient Gertrud Bäumer: Der Krieg und
die Frau20 dankbare Erwähnung, da fie in ausgezeichneter
Weife die feelifche Wirkung des Krieges auf die
Frau und die verfchiedenen Kriegsaufgaben der Frau
befchreibt.

Rade21 behandelt nicht das allgemeine Thema ,Krieg
und Chriftentum' oder wenigftens nur nebenbei. Er behandelt
vielmehr die Probleme, die gerade diefer gegenwärtige
Krieg dem Chriftentum ftellt. Er fchreibt nicht
für folche, die keine Probleme kennen, und ift damit gedeckt
gegen den Vorwurf, er biete mehr Probleme als
Löningen. Seine Hauptfragen find: Ift die grundfätzliche
Neutralität das eigentlich chriftliche Verhalten? Bedeutet
diefer Krieg den Bankerott der Chriftenheit? Welche
konfeffionellen Momente find wirkfam? (Innere Ver-
wandtfchaft zwifchen englifcher Hochkirche und ruffifcher
Kirche, Gegenfatz der ruffifchen Orthodoxie zum öfter-
reichifchen Katholizismus.) Welche Bedeutung fpielt das
Chriftentum bei den verfchiedenen kämpfenden Völkern?
Welche fpezififch religiöfe Wirkung übt der Krieg? (Ab-
folutes Abhängigkeitsgefühl.) Wie hat fich fpeziell die
chriftliche Moral bewährt? (Kein Fortfehritt in der Ethi-
fierung des Krieges.) Welche Spannungen beftehen zwifchen
dem Krieg und den drei chriftlichen Forderungen
Bußfertigkeit, Friedfertigkeit und Internationalismus? (Hier
eine verftändige Behandlung der belgifchen ,Neutralität'.)
Endlich: Wie werden unfere Kirchen ausfehen nach dem
Frieden? Ernftlich warnt R. vor Wiederholung des böfen
Wortes von den ,zwei Religionen' und beklagt, daß man
für Traub keine Wirkungsftätte finden konnte.

Eine Fülle von Fragen und Anregungen, gerecht und
gewiffenhaft erörtert. Wer einen ungefunden Pazifismus
erwartete, wird angenehm enttäufcht.

H. Schufter, Hannover-Kleefeld.

18) Binswanger, Prof. Geheimr. Dr. Otto: Die feelifchen Wirkungen
des Krieges (40 S.) 1914.

19) Eucken, Prof. Dr. Kud.: Die weltgefchichtliche Bedeutung des
deutfchen Geiftes. (23 S.) 1914.

20) Bäumer, Gertr..: Der Krieg u. die Frau. (30 S.) 1914.

21) Rade, Prof. Dr. Mart.: Diefer Krieg u. das Chriftentum. (34
S.) 1915.