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Ausgabe:

1915 Nr. 5

Spalte:

111-112

Autor/Hrsg.:

Winkelmann, J.

Titel/Untertitel:

Die Offenbarung 1915

Rezensent:

Lobstein, Paul

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III

Theologifche Literaturzeitung 1915 Nr. 5.

112

teiligt find. Manche Aufftellungen diefer Aktpfychologie
mögen wohl zum Widerfpruch reizen. Im großen und
ganzen muß aber doch anerkannt werden, daß hier ein
fruchtbarer Denkweg befchritten ift. Die Dunkelheiten,
mit denen gerade das höhere Geiftesleben behaftet ift,
erfahren vielfach eine überrafchende Aufklärung, wenu
man fie vom Standpunkte der Akttheorie aus betrachtet.
Vor allem läßt fich die Abgrenzung der normativen Werte
von allem gewöhnlichen Seelifchen reiner und fchärfer
vollziehen. Wer diefes Werk ftudieren will, tut gut, zur
Vorbereitung den Vortrag ,Konformismus als Erkenntnisart
' (im Bericht üb. den III. internationalen Philofophen-
kongreß, Heidelberg 1909, S. 8i6ff.) und zur Ergänzung
den Auffatz ,Befchreibende und erklärende Pfychologie'
(im ,Archiv f. d. gef. Pfychol., Bd. XXVIII, S. 302fr.) nach-
zulefen. Namentlich der Auffatz bringt manche Präzi-
fierung. Es fei noch betont, daß diefe beachtenswerte
Rechtfertigung geiftiger Eigenart urfprünglich aus natur-
wiffenfchaftlichem, fpeziell chemifchem Gedankenkreife angeregt
wurde.

Königsberg i. Pr. A. Kowalewski.

Winkelmann, PfrJ.: Die Offenbarung. Dogmatifche Studien.
(V, 508 S.) gr. 8°. Gütersloh, C. Bertelsmann 1913.

M- 9 — ; geb- M- 10—
Diefe umfangreiche dogmenhiftorifche Monographie
verfolgt in letzter Inftanz nicht einen gefchichtlichen, fondern
einen fyftematifchen Zweck, den der Verf. durch die
Begründung der Sonderftellung des Chriftentums im Ge-
genfatz zur religionsgefchichtlichen Richtung zu erreichen
fucht. Seine ,dogmatifchen Studien' wollen ,eine Orientierung
auf dem Schlachtfeld der fyftematifchen Theologie
unter dem Gefichtspunkt des Offenbarungsbegriffs' geben.
,Nicht das ift unfere Frage: was hat dann und wann als
Wahrheit über die Offenbarung gegolten? — fondern:
was ift es um die Offenbarung? . . Es foll an den Hauptträgern
die Bewegung des Problems im ganzen ftudiert
werden. Indem wir durch die Fragen, die da auftauchen,
uns zum Suchen rechter Antwort und durch die gegebenen
Antworten uns zu rechter Frageftellung anleiten laffen,
werden die Vorgänger uns in die Tiefe der Sache hineinleiten
, wird das Denken mit ihnen und über fie die
eigene Arbeit vorbereiten' (5).

Der Verf. beginnt mit einer ausführlichen Darfteliung
des Standpunktes der lutherifchen Orthodoxie, als deren
Vertreter Johann Gerhard erfcheint (6—84). Dort ift kein
Bedürfnis für eine Offenbarungslehre vorhanden, die etwas
anderes wäre als Schriftlehre. Dadurch erhält diefe Lehre
ein einfeitig intellektualiftifches Gepräge. ,Die Verkündung
der Bibel als Dogmatik leitet den Deismus ein' (72).
Eine andere Seite diefes Intellektualismus ift Mangel an
Verftändnis für die Gefchichtlichkeit des Chriftentums;
diefe Verkürzung der Offenbarung um ihr gefchichtliches
Wefen hängt damit zufammen, daß auch das volle Verftändnis
für die Gemeinfchaftlichkeit und die Abzweckung
der Offenbarung auf eine Gemeinfchaft den Vertretern
der Orthodoxie fehlt. Intellektualismus und Individualismus
find die Gefchwifter der ungefchichtlichen Auffaffung,
und fie liegen im Streit mit allem Pofitiven. Dann vermag
nur Gefetzlichkeit den pofitiven Schatz zu hüten. . . .
Den Gott, den man nur noch in der Vergangenheit redend
findet, den wird man bald in feiner Redefähigkeit bezweifeln
, und die Schrift, welche als Gefetz gelten foll,
wird bald in diefer Autorität Schiffbruch leiden' (84).

Das zweite Kapitel gilt dem englifchen Deismus (85
— 109), der großen Gegenbewegung gegen den univerfalen
Anfpruch der chriftlichen Offenbarung, wie ihn Kirche
und Theologie bis dahin geltend gemacht hatten. W. läßt
eine ftattliche Schar von Repräfentanten diefer Richtung
zu Worte kommen: Herbert von Cherbury, Hobbes, Locke,
Shaftesbury, Toland, Tindal, Fofter, Conybeare, Collins,
Morgan, Chubb, Dodwell, Hume. Bei wefentlicher Gleichheit
der Grundanfchauung, treten eine nicht unbeträchtliche
Zahl charakteriftifcher Erfcheinungen und interef-
fanter Nüancen hervor, die der Verf., für einzelne Denker
in ftarker, offen zugeftandene Abhängigkeit von Lech-
ler's Gefchichte des englifchen Deismus zeichnet. Es ift
fchade, daß W. auf die fruchtbaren Frageftellungen
Troeltfch's nicht eingegangen ift; weder die Erftlingsfchrift
diefes Forfchers ,über Vernunft und Offenbarung bei
Melanchthon und Johann Gerhard', noch feine bahnbrechenden
Unterfuchungen über Deismus, Aufklärung,
proteftantifches Chriftentum und Kirchein der Neuzeit haben
die ihnen gebührende Beachtung und Verwertung erfahren.

In den folgenden Kapiteln handelt W. von Semler
(190—292), Leffing (293—385) und Bengel (386—489).
Über Semler urteilt W., daß fein Augenmerk fich nicht
auf das hiftorifch-kritifche Handwerk befchränkte, wie fehr
dasfelbe feine eigentliche Begabung ausmachte. Allein
das religiöfe Element feiner Gedankenwelt war nicht gewichtig
genug, und auch das fittliche war nicht feft genug
verankert. Die Unterfchätzung des hiftorifchen und des
gemeinfchaftlichen Faktors in der Religion ift durch feinen
Rationalismus bedingt. Dagegen hat fich das Semler'fche
Motiv durchgefetzt, kraft deffen die hiftorifche Überlieferung
einer methodifchen Kritik unterliegt. ,Es läßt
fich keine Grenze ziehen in Bezug auf das, was folcher
methodifchen Arbeit unterworfen werden darf und muß
oder nicht. Ob es Tatfachen, Taten und Erfahrniffe, Lehren
und Worte, ausgesprochene Abfichten, unabfichtliche
Urteile find, — was Überlieferung ift, unterliegt ihr (265).
Auch auf die Anfätze zu einer religionsgefchichtlichen
Beurteilung des Chriftentums in feinem Verhältnis zu den
außerbiblifchen Religionen, hat W. mit Recht hingewiefen.
— Um die genauere Fixierung und Abgrenzung der
proteusartigen Gedanken Leffings hat fich der Verf. redlich
bemüht. Leider bringt die Analyfe der meift in
chronologifcher Ordnung behandelten Schriften Leffings
manche Wiederholungen. Treffend aber charakterifiert W.
die Eigenart des großen Kritikers, feine Freude an allerlei
geiftiger Gymnaftik, vielmehr als daran, fich feftzu-
legen mit einer fertigen Überzeugung. — Auf den orga-
nifierenden Begriff Bengels, des großen Schrift-Theologen,
auf die Oeconomia Dei verbreitet W. ein willkommenes
Licht und weift die Fruchtbarkeit diefes Gedankens nach.
Von hier aus geftaltet fich auch Bengel's Stellung zur
Bibel. ,Gottes Vorfehung und Weltlenkung hat ihre Hand
auch zwifchen den Fehlern, Irrtümern, Sünden der Men-
fchen; — fie regiert auch bei den Mißgriffen und Acht-
lofigkeiten, die mit der Bibel gefchehen find' (479). — Trotz
des reichen Ertrags, den die Schrifttheologie Bengel's uns
auch heute noch bieten kann, will W. doch nicht, daß
diefe Schätzung der Bibel die falfche Meinung erzeuge,
daß wir die wiffenfchaftlich-fyftematifche Arbeit entbehren
können. Vielmehr gilt es, ,den geiftigen Befitz, den wir
der Offenbarung verdanken, auseinander zu fetzen mit den
Elementen der uns umgebenden Denkweifen und darzutun
, daß wir ein Recht haben zu unferm Denken und
Glauben' (485). — Die dem Buche W.s angehängten Bemerkungen
geben die genaue Auskunft über die im Laufe
der Darfteilung mitgeteilten Belegftellen, — eine Einrichtung
, die nicht ohne Bedenken ift, da fie das Nachfchlagen
und Nachprüfen nicht erleichtert. Vor allem aber ift zu
bedauern, daß die fehr breit angelegten Unterfuchungen
in einer Weife geführt find, die jede Überfichtlichkeit ver-
miffen läßt: nirgends einVerfuch, den Stoff zu gliedern, die
,Darftellung' und ,Gefamtbefprechung' durch beftimmte
Richtpunkte abzuftecken, und dadurch das Verftändnis des
Ganzen und des Einzelnen zu fördern. Eine ftraffere Zu-
fammenfaffung des reichen Materials und eine lichtvollere
Orientierung würden diefen ,dogmatifchen Studien', die
,dem Andenken Martin Kählers gewidmet' find, eine um-
faffendere und tiefere Wirkung gefiebert haben.

Straßburg i. E. p. Lobftein.