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Ausgabe:

1915 Nr. 4

Spalte:

87-89

Autor/Hrsg.:

Drews, Arthur

Titel/Untertitel:

Geschichte der Philosophie. Bd. VII 1915

Rezensent:

Dorner, August

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Theologifche Literaturzeitung 1915 Nr. 4.

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Ref. völlig undurchdringliche Verworrenheit ausgezeichnete
Schrift. In dem Prozeß, den der Vf. zu befchreiben unternimmt
, find der terminus a quo und der terminus ad
quem in tiefes Dunkel gehüllt. Von welcher Art und
Form des Chriftentums die Rede fein foll, bleibt ganz unklar;
nicht beffer fteht es mit dem Deutfchtum (fo ift wohl
.Germanisme' zu überfetzen), zu welchem unfer Volk auf
dem Wege einer Abirrung (deviation) vom modernen Ideal
fich hinbewegt hat: ,illusion mystique de la connaissance'
(7), .dangereux exces de la volonte' (8), ,nationalisme
intellectuel' (344), ,produit artificiel d'une philosophique
theologie d'etat' (353), fo heißt diefe rätfelhafte Größe, die
immer wieder in neuer Proteusgeftalt auftaucht und ver-
fchwindet. Im erften Teil des Buchs (9—91) ,Die Ur-
fachen der intellektuellen Entwicklung, die Gefchichte
der Religionen im XVIII. Jahrhundert' fpielen die .Myflte-
rien' des Freimaurertums eine Hauptrolle. ,Die deutfche
Krifis', die im 2. Teil (93—227) behandelt wird, fcheint
in einer Hinwendung von dem Rationalismus und Myfti-
zismus zum Etatisme zu beftehn. Der dritte Teil ,Zum
Deutfchtum hin' (229—359) wird durch das fchließliche
Auftreten Bismarcks und Treitfchkes nicht weiter aufgehellt
. Durch das in unheimlichem Orakelftil gefchriebene
Buch geht häufig ein fpukhaftes Wetterleuchten von
Illuminismus, Geheimreligion und Naturmyftik auf, das
nicht geeignet ift, ein erklärendes Licht über das Problem
zu verbreiten. Und dabei verfügt der Vf. über eine
erftaunliche Fülle von direkt aus den Quellen gefchöpften
Ausfagen zahllofer deutfcher Schriftfteller aus der Aufklärungszeit
und der Glanzperiode unferer klaffifchen Nationalliteratur
; nur gärt alles chaotifch durcheinander,
und die Sterne erfter Größe geraten mit ganz verfchol-
lenen, aus der Nacht der Vergangenheit heraufbefchwo-
renen Namen in wunderliche Kollifionen. — Da man an-
gefichts eines fo geheimnisvollen Gebildes auf Konjekturen
angewiefen ift, möchte ich die Hypothefe wagen, daß
diefes mit fieben Siegeln verfehene Buch mit zwei andern
Schriften des Vfs in Zufammenhang fteht: im Jahre 1913
find, auch bei Felix Alcan, dem bekannten Verleger vieler
philofophifcher Werke, erfchienen: ,Les origines mysti-
ques de la science allemande', und ,La France et l'esprit
francais juges par le Mercure de Wieland' (1773—1797),
die mir leider nicht zu Geficht gekommen find. Aus
erfterem Buch würde der efoterifch-hermetifche Charakter
der gegenwärtigen Schrift, aus dem zweiten die ftaunens-
werte Summe von Einzelnotizen zu erklären fein. Freilich
, ob durch diefe Vermutung nicht zu den Rätfein,
von denen diefes dem Deutfchtum gewidmete Buch wimmelt
, noch eine weitere Schwierigkeit hinzukommt, vermag
ich nicht zu entfcheiden.

Straßburg i. E. P. Lobftein.

Drews, Prof. Arthur: Gefchichte der Philofophie. Band VII:
Die Philofophie im zweiten Drittel des neunzehnten Jahrhunderts
. (Sammlung Göfchen 709). (163 S.) kl. 8°.
Berlin, G. J. Göfchen 1913. Geb. M. —90

Diefe Schrift ift die Fortfetzung von Drews Philofophie
im erften Drittel des neunzehnten Jahrhunderts,
die ich im 38. Jahrgang Nr. 9 diefer Zeitfchrift angezeigt
habe. Während er dort nur die Philofophie in Deutfch-
land behandelte, hat er in der neuen Schrift zu der Philofophie
in Deutfchland die Philofophie in Frankreich und
England hinzugefügt. Er geht hier aus von der Hegel-
fchen Schule, die fich der weiteften Anerkennung erfreute,
befonders auch, weil die ftaatlichen Behörden im Reftau-
rationszeitalter der Hegelfchen Philofophie ihre Unter -
ftützung liehen. Allein der Gegenfatz innerhalb der Hegelfchen
Schule führte nach deffen Tode zu ihrer Auflöfung.
Zuerft wurde durch David Strauß die Einheit zwifchen
dem chriftlichen Glauben und der Hegelfchen Philofophie
aufgelöft, was fich in dem Antropologismus von Feuerbach
fortfetzte, der in Senfualismus und Naturalismus
endete, während Max Stirner zum Solipfismus, und die
beiden Bauer bis zur Leugnung der hiftorifchen Exiftenz
Chrifti und der Echtheit der Paulinifchen Briefe fort-
fchritten, während Karl Marx die Anwendung der
Dialektik auf die Gefchichte der menfcblichen Gefellfchaft
in feiner materialiftifchen Gefchichtsauffaffung verfuchte,
und den fogenannten wiffenfchaftlichen Sozialismus begründete
. Diefer Hegelfchen Linken gegenüber verfuchte
die Hegelfche Rechte und das Hegelfche Zentrum die
Einheit mit dem Chriftentum aufrecht zu halten, fo Rofen-
kranz und Vatke, der die Grundprobleme des chriftlichen
Glaubens im Sinne des logifchen Pantheismus zu löfen
fuchte, während J. E. Erdmann fowie Kuno Fifcher und
Eduard Zeller fich der Gefchichte der Philofophie zuwandten
, ferner Zeifing, Schafler und Theodor Vifcher
die Afthetik im Hegelfchen Sinne behandelten. Der Hegelfchen
Rechten fteht dann die Schule der fpekulativen
Theiften nahe, die den panlogiftifchen Pantheismus und
fpäter den atheiftifchen Materialismus bekämpften. Unter
den Theiften unterfcheidet Drews die trinitarifchen und
die unitarifchen, über die er fich fchon früher fehr eingehend
ausgefprochen hatte. Hier behandelt er befonders
unter den trinitarifchen Theiften Hermann Fichte, der, mit
feinen tiefen Einblicken in die Natur der Seele, einer der
wichtigften Vorläufer der Philofophie des Unbewußten
und der bedeutendfte Anthropologe und Pfychologe des
fpekulativen Theismus gewefen fei. Unter den unitarifchen
Theiften behandelt er Trendlenburg, Ulrici und
befonders Lotze und Fechner, deffen philofophifche Bedeutung
in der Pfychophyfik liege, die dann von Wundt
weiter ausgebildet wurde, während er Lotze im Hart-
mannfchen Sinne kritifiert. Endlich befpricht er noch den
Naturalismus von Molefchott, Karl Vogt, Büchner und
Czolbe. Diefen Naturalismus fucht er zu erklären aus
den Fortfehritten der einzelnen Naturwiffenfchaften durch
Lavoifier, Prieftley, Schwann, Schleiden, Liebig und ins-
befondere aus dem Gefetz der Erhaltung der Kraft,
das dem von Lavoisier begründeten Gefetz der Erhaltung
des Stoffes, von Robert Mayer zur Seite geftellt
wurde, womit der ,mechaniftifche Gefichtspunkt auch für
die Erforfchung des Lebens ficher geftellt' und damit
der Anftoß zur Erneuerung des Materialismus von Holbach
gegeben fei. Am eingehendften befchäftigt er fich mit
Czolbe, der das Verdienft haben foll, durch feine Bemühungen
um eine erkenntnistheoretifche Grundlage des
Materialismus gezeigt zu haben, daß .diefer nur als naiver
Realismus und durch Verfelbftändigung und Verräum-
lichung der Sinnesqualitäten durchführbar fei', was im
Grunde bedeute, daß er .philofophifch nicht zu begründen
ift'.

Die Philofophie in Frankreich ift zunächft vertreten
durch die .Philofophen der Autorität' deBonald, deMaistre
und de Lamennais, die den Rationalismus der Aufklärung
und den Senfualismus bekämpften. Ihnen gegenüber flehen
pfychologifch intereffierte Denker wie der Ideologe Destutt
de Tracy, der auf die Kantifche Philofophie hinwies,
ferner Maine de Biran, der befonders den Willen für die
franzöfifche Pfychologie entdeckt habe, ferner der Phy-
fiker Ampere, der in erkenntnistheoretifcher Beziehung
die Welt der Noumena als den wahren Gegenftand unteres
Erkennens anfleht. An fie fchloß fich Victor Coufin an,
der befonders auch mit Schelling in Verbindung trat, als
Philofoph aber idealiftifcher Eklektiker geblieben fei. Der
Senfualismus habe fich in Frankreich hauptfächlich in
der antimetaphyfifchen Soziologie des Saint-Simon und
Augufte Comte behauptet. Die Religion der Humanität
von Comte fei im Grunde nur ,der Katholizismus ohne
das Chriftentum, wobei Comte felbft die Rolle des Papftes
einnehme'. In der fozialen Statik unterfucht er die allgemeinen
Exiftenzbedingungen der Gefellfchaft, die er
auf die Familie zurückführt, in der fozialen Dynamik behandelt
er die fortfehreitende Entwicklung der Gefell-