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Ausgabe:

1915 Nr. 3

Spalte:

65-68

Autor/Hrsg.:

Dillmann, C.

Titel/Untertitel:

Das Chistentum das Ziel der Weltentwicklung 1915

Rezensent:

Kleinert, Hugo Wilhelm Paul

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Theologifche Literaturzeitung 1915 Nr. 3.

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Dillmann. C: Das Chriftentum das Ziel der Weltentwicklung.

Briefe e. theolog. Naturforfchers. (VII, 255 S.) gr. 8°.
Tübingen, Laupp 1913. M. 5—; geb. M. 6 —

,Noch ift der Kampf (zvvifchen Natur- und Geiftes-
wiffenfchaft) nicht zu Ende. Zwar die Heftigkeit der
Leidenfchaft hat etwas nachgelaffen. Man duldet fich
gegenfeitig. Denn jede der beiden Seiten hat gefunden,
daß in beiden Lagern uneinnehmbare Wahrheitsfätze zu
finden feien, gegen die jeder Sturm vergeblich wäre. Aber
eine Verformung zwifchen beiden Lagern ift nicht vorhanden
. Verföhnen können fich die Gegner erft, wenn
jeder den Wahrheitsvorrat des andern für feine Zwecke
zu verwenden vermag. Nur auf diefem Wege kann eine
höhere Stufe der Erkenntnis erftiegen werden. Denn die
Wahrheit ift nur Eine, und ihr müffen beiderlei Forfchungen
in gleicher Weife dienen.' Mit diefen Worten hat der
Verf. des vorliegenden Buches, der im J. 1899 verftorbene
Oberfchulrat C. Dillmann1 in Stuttgart deffen Abficht
deutlich ausgefprochen. Wir haben das Bekenntnis eines
kenntnisreichen, zugleich philofophifch und theologifch
orientierten Naturforfchers vor uns, der mit hoher Be-
geilterung für die Naturforfchung des 19. Jahrhunderts,
durch die er eine neue Ära menfchlicher Geifteskultur
eröffnet fieht, tiefe Achtung vor den Bedürfniffen des
religiöfen Gemütes verbindet. Ein Vermächtnis, nicht für
das Senfationsbedürfen des Augenblicks zugeftutzt, fondern
Refultat eines arbeitfamen Lebens; geiftvoll, oft
gedankenkühn, lehrhaft; vornehm in Gedanken und Dar-
ftellung und ohne jede Verletzung des Gegners in fich
felber ruhend; deffen Veröffentlichung auch noch anderthalb
Jahrzehnte nach dem Tode des Verfaffers nicht als
Anachronismus bezeichnet werden kann. — Die für die
Darfteilung gewählte Briefform dient lediglich der über-
fichtlichen Verteilung des überquellenden Materials: das
Antlitz des Verfaffers fchaut überall, das eines bettimmten
Empfängers der Briefe nirgends heraus. Aber die Form
hat die Lichtfeite, nicht bloß den Verzicht auf Maffen-
häufung von Zitaten zu bedingen, fondern auch mit pä-
dagogifcher Eindringlichkeit gewiffe Grundpofitionen, auf
die der Verfaffer fein Verföhnungswerk ftellt, von den ver-
fchiedenften Seiten her zu verdeutlichen und fo ins Gedächtnis
zu hämmern. In der Hauptfache find das drei
Sätze: 1. Gott ift; die Welt wird; 2. es gibt nicht zwei
Welten, eine überfinnliche und eine finnliche; die ,meta-
phyfifche' Welt fleckt in der phyfifchen; 3. das gefamte
Weltwerden ift als Menfchwerdung Gottes zu begreifen.
Den Schlüffel aber zur Begründung und Verftändnis diefer
Axiome reicht dem Verf. die naturwiffenfchaftliche Entdeckung
der Entwickelung, deren fieghaften Zug durch
alle Gebiete körperlichen und geiftigen Werdens das Buch
mit einem nicht feiten hymnifchen Schwung feiernder
Andacht begleitet. Die naive wie die fpekulative Me-
taphyfik, mit der die Antike auf die Kinderfrage des
.Warum?', mit der alle wiffenfchaftliche Forfchung beginnt,
eine obere oder jenfeitige Welt zur Erklärung alles Rätfel-
haften erdacht und geftaltet hat, hat in langfamem Zu-
fammenfinken einem Neuen Platz gemacht; auch die
religiöfen Vorftellungen find allgemein vergeiftigt, gefichtet,
d.em Diesfeits angepaßt worden. Verfperrt fchien die Aufrichtung
diefes Neuen durch die Kantifche Unterfcheidung
einen gedachten Welt der Erfcheinungen, für die unfer
Erfahren und Erkennen ausreicht, von der wefenhaften,
d'e diefem verfchloffen bleibt. Da hat die Naturwiffen-
ichaft uns auf den Boden der wirklichen Welt geftellt:
wie das alleinige Objekt der Wahrnehmung, kann diefe
allein auch das Objekt der Forfchung fein; das Metaphy-
lilche ift in feinem ganzen Umfang in Phyfifches verwandelt,
das gewogen, gemeffen, berechnet werden kann (S. 29),
und die daraus gezogenen Produkte des Denkens, gehören

1) Hruder das in Berlin 1891 verdorbenen Theologen und Orien-
taliUen A. Dillmann.

wie die ganze Denkarbeit felbft, auch der wirklichen Welt
an. Ein Urfein liegt diefer wirklichen Welt zu Grunde,
.unabhängig von Zeit und Raum, unterfchiedslos und un-
unterfcheidbar, allumfaflend, gleichartig und unveränderlich
, das Eine und das All' (S. 246). Die Naturwiffen-
fchaft hat in fich keinen Einwand dagegen, daß dies Sein
Gott genannt werde: Gott ift. Aber zur wirklichen Welt
wird es erft durch das Werden: es ift Energiequelle, Gott
ift das Sein im Werden, gelangt durch das Werden zur
Wirklichkeit. Dies Werden aber vollzieht fich in Stufen,
deren jede auf die nächftfolgende angelegt ift und für
diefe die Organe bereitet. Wie das Denken aus der regelmäßigen
Aufeinanderfolge von Erfcheinungen, indem es
von fich aus das Moment der Notwendigkeit in die Beobachtung
einträgt, das Gefetz der Kaufalität formiert, fo
ergibt fich aus der Beobachtung jener Stufenfolge das
Gefetz der Entwickelung. Die Stufen hängen nun zwar
eng zufammen, zeigen aber doch tiefe Trennfchnitte, in
dem das Sein in wiederholtem Hervorbrechen nach immer
neuer und vollkommenerer Geftaltung ringt. Den be-
deutendften Einfchnitt bezeichnet der mit der Bildung der
Zelle verbundene Eintritt des Lebens in die Wirklichkeit:
Manifeftation des Seins als lebendigen Gottes, zugleich
Anfang einer neuen Stufenreihe. Die Tierftufe erhebt fich
aus den mit dem Pflanzenleben noch eng zufammen-
hängenden Anfängen, die jedoch bereits die Kraft der
Zelle zur Artenbildung aufweifen, dazu, für die nächft-
höhere die Organe für die Sprachbildung herzuftellen, und
ihr in der Tierfeele einen Einigungspunkt der Funktionen
darzubieten. Die höhere Stufe, die des Menfchen, fetzt
die Sprachorgane in bewußte Tätigkeit; fie erhebt den
Begriff der Gattung in die höhere Sphäre, durch gemein-
famen Ausdruck fich als zufammengefchloffene Einheit
darzuftellen. Aus der Tierftufe hervorgegangen zeigt fie,
obwohl durch die Sprache vom Tier nachdrücklich abgehoben
, doch zunächft ein Uberwiegen des animalifchen:
der Wildheit, dann der Selbftfucht, deren ausgeprägte
Kulmination im Staats- und Rechtsleben der Römer erreicht
ift. Und wie mit der Sprache das Denken und mit
ihm der Zweckbegriff im Handeln in Wirklichkeit trat
und die Tierfeele zu der neuen Seinsform des Geiftes erhebt
, fo findet diefer den Weg, die Äußerungen des Animalifchen
zu überwinden durch den vollbewußten Ausdruck
der Gattungseinheit: durch die Liebe, wie fie Chriftus
der Welt gezeigt und gelehrt hat. Damit ift für die
Gegenwart das Ziel der Entwickelung erreicht; fie hat
fich als Menfchwerdung Gottes erwiefen. Nicht bloß des
Gottes Ifraels und der Chriftenheit, fondern des Weltgottes
. Denn die Allheit des Seins umfaßt alle Welten,
und vermöge feiner Selbigkeit und der daraus folgenden
Identität feiner Werdensgefetze wird man in allen Welten
die gleichartige, wenn auch nicht gleichzeitige Entwickelung
anzunehmen haben. Für uns befteht das Ziel der
Entwickelung darin, daß die Menfchwerdung Gottes in
jedem einzelnen wirklich werde: und eben darin befteht
auch der Kern des Chriftentums; alles übrige ift Schale
(S. 232). Vor allen andern aber hat, (wie der Verf. ein kurz
gefaßtes gefchichtliches Corollarium zur Spitze führt) das
Germanentum die Aufgabe, das Ziel der Entwickelung
durchzuführen: nicht von ungefähr oder durch Zufall find
die deutfchen Stämme die Träger der Weltgefchichte geworden
(S. 189 fr.).

Ein Bekritteln der einzelnen naturwiffenfchaftlichen Angaben und
Aufflellungen des Verfaffers wäre hier nicht am Orte. Um fo weniger,
als er für Berichtigungen, Einfchränkungen und Ergänzungen nicht Rede
ftehen kann, die fich aus der refllofen Weiterarbeit der Naturforscher feit
feinem Todesjahr für fein Buch ergeben; und als der große Zug feiner
Ausführungen durch Einzelheiten wenig berührt wird. Für die theologifche
Befprechung handelt es fich wefentlich nur um die Frage, ob der Ent-
wickelungsgedanke der immenfen, Natur- und Geiftcswiffenfchaften um-
fpannendeu Aufgabe, die D. auf feine Schultern legt, wirklich genügt.
Denn feine Bedeutung als Wegzeichen und Deutung für weite Gebiete
nicht bloß der Vaturwiffenfctiaften, fondern auch des Geifleslebens der
Menfchheit Uberhaupt leugnen zu wollen, wäre töricht. Weder die Phi-
lofophie noch die Dogmengefchichte haben auf feine naturwiffenfchaft-