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Ausgabe:

1915 Nr. 3

Spalte:

63-64

Autor/Hrsg.:

Heimsoeth, Heinz

Titel/Untertitel:

Die Methode der Erkenntnis bei Descartes und Leibniz 1915

Rezensent:

Kohlmeyer, Ernst

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63

Theologifche Literaturzeitung 1915 Nr. 3.

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Im einzelnen fetzen nun aber gerade hier die Schwierigkeiten ein,
wo es gilt, für die eigne Lebensführung der Täufer pofitive Normen
aufzuhellen, d. h. aus dem Bewußtfein der Gemeinfchaft mit Gott objektive
Grundfätze für die fittliche Haltung des Individuums in der Welt
abzuleiten. Man fleht vor der Frage: welche Gefühle, Triebe, Motivationen
in der menfchlichen Seele, die doch fchließlich immer das Medium
für die Verwirklichung des göttlichen Willens in der Welt bilden
muß, find denn eigentlich göttlich und welche ungöttlich? Jedenfalls
ließ fich aus der gefühlsmäßigen Gewißheit der unmittelbaren Gottes-
gemeinfchaft nicht ohne weiteres eine klare Scheidelinie gewinnen! Wenn
die Nächftenliebe ein Ausfluß des göttlichen Liebeswillens ift, gilt das
gleiche nicht auch für erotifche Triebe? Die weit überwiegende Mehrzahl
der thüringifchen Täufer hat es abgelehnt, eine fo gefährliche Konfe-
quenz zu ziehen, und gerade durch die Strenge ihrer fittlichen Lebensführung
unterfcheiden fie fleh von der Laxheit weiter Kreife, die fich
zur Kirche halten. Aber, wie wir fahen, fehlt es auch im Thüringifchen
nicht an folchen, die die ,Konkupiscenz' unbedenklich bejahen uud den
erotifchen Kommunismus als gottgewollt proklamieren.

Differenzen und Gegenfätze auch fonfl! Der Wiedertäufer Hans Hut verurteilt
den Bauernaufßand: die Bauern hätten dabei daß Ihre gefucht und
nicht Gottes Ehre (S. 31); der Wiedertäufer Hans Römer erklärt: man müffe
alle Obrigkeit mit dem Schwert vertilgen und ihr Blut vergießen (S. 38).
Die innere Gelaffenheit, die Melchior Rink predigte, fchlägt bei feinen
Anhängern — allerdings unter dem Eindruck des ihnen verkündeten
Todesurteils — in wdde Erregtheit um: ,einer heult wie ein Hund, der
andere brüllt wie ein Ochs, einer wie eine Kuh, auch wie ein Pferd
fchreit' (S. 340). Georg Möller zerfchneidet feinen Rock von lündifchem
Tuche, weil vor Gott kein befonderes Kleid gelte (S. 121), während
Auguftin Bader fich vornehme Kleider anfertigen läßt und fie im Beifein
feiner Mitgefellen anzieht, von denen er fich Herr und König nennen
läßt (S. 3151. Die Überzeugung, daß an irdifchem Gute Unrecht hafte,
veranlaßt die einen zu größter Anfpruchslofigkeit; andere ziehen daraus
die Folgerung, es fei ,der Gütergemeinfchaft von nöten, wie es auch
die Apoftel getan hätten' (S. 141).

So hängt der Religiofität der thüringifchen Täufer
manches Trübe und Widerfpruchsvolle als Beifatz an.
Auch den Sektierern ift die reine göttliche Wahrheit
nicht ohne weiteres vom Himmel herab in den Schoß
gefallen. Und daß fich die Mehrzahl derer, die fich in
Thüringen zum Täufertum bekannten, gerade aus den
Armften am Geift zufammenfetzten, ift einer rafchen
Klärung ihres religiöfen Trieblebens nicht günftig ge-
wefen. Es hat noch eines lange währenden Läuterungs-
prozeffes bedurft, ehe das Täufertum fein eigenftes Wefen
rein zur Entfaltung bringen konnte! Gleichwohl überwiegt
fchon bei der Betrachtung der primitiven Gedankenwelt
der thüringifchen Täufer der Eindruck, daß in dem
Bekennermute und Gefinnungsernfte, der den weitaus
größten Teil von ihnen befeelte, Triebkräfte umfchloffen
lagen, die — auf einen günftigeren Nährboden, als ihn
Deutfchland darfteilte, verpflanzt — neue und eigenartige
religiöfe Werte hervorbringen und geftalten mußten.

Leipzig. Hermann Barge.

Heimloeth, Dr. Heinz: Die Methode der Erkenntnis bei Des-
cartes und Leibniz. (Philofophifche Arbeiten. VI. Bd.)
gr. 8°. Gießen, A. Töpelmann. M. 10 —

I. Hälfte. Hiflorifche Einleitg. Descartes'Methode der klaren u.
deutl. Erkenntnis. (III, 192 S.) 1912. M. 5.50. — 2. Hälfte. Leibniz
' Methode der formalen Begründung. Erkenntnislehre u. Monadologie
. (III u. S. 193—334.) 1914. M. 4.50.

Descartes' bleibende Bedeutung beruht auf feiner
neuen Problemftellung. Die Arbeit von Heimfoeth führt
daher in die treibenden Kräfte der Descartesfchen Gedankenwelt
hinein, indem fie das Methodenproblem in
feine feinften Verfchlingungen verfolgt. Dabei werden
die unvollendeten .Regeln zur Leitung des Geiftes' und
die ,Metaphyfik' zu Grunde gelegt, zwifchen deren metho-
difchen Grundgedanken H. im wefentlichen Überein-
ftimmung findet. H. beftätigt aufs neue den ftarken
Intellektualismus, der unter Verkennung der anfehaulichen
Erkenntnis überall durchfehlägt. So wird die Empirie,
die Erkenntnis der äußeren Dinge das Problem. Descartes
ringt förmlich damit, dem Experiment, deffen letzte
Beweiskraft er nicht anerkennen darf, einen Sinn abzugewinnen
. Immerhin möchte man zur Frage ftellen, ob

H. in dem Aufweis diefes Intellektualismus nicht etwas
weit geht. Die letzte Inftanz der Gewißheit ift für Descartes
jenes cogito. Aber es fcheint nicht ficher, ob
Descartes, wie H. will, in diefem cogito nun auch fchon
die ,intellektuale Natur' des Ich mitgemeint hat und alfo
zugleich ,die Auszeichnung des wahren Erkenntnisvermögens
' (S. 100) hat vornehmen wollen. Er hätte dann
eher ftatt des einfachen Exiftenzurteils: cogito ergo sum,
den Schluß ziehen müffen: cogito, ergo est intellectus.
Ebenfo könnte man fragen, ob die Gottesidee wirklich fo
fehr als Intellekt, als fundamentales Erkenntnisprinzip
(S. 146) dienen muß neben der Verwertung als elfter
Seinsurfache. Die erbrachten Beweisftellen (S. 143 f.)
fcheinen den Schluß nicht zu geftatten. Auch will H.
felbft zugeftehen, daß ,die Deduktion (der Gottesidee)
durch den Kaufalbegriff durchaus als das beherrfchende
Moment erfcheint'.

In der Philofophie Leibniz' weift H. fodann zwei fich
feltfam von einanderabhebendemethodologifche Gedanken-
fchichten nach. Zuerft wird behandelt die .Methode der
formalen Begründung', die von der scientia generalis ge-
leiftet werden follte. Hier tritt in der Darfteilung mit
überzeugender Deutlichkeit hervor, daß Leibniz in dem
Beftreben des Beweifens erheblich über Descartes hinausgeht
. Auch die prineipia contradictionis und rationis
sufficientis follen noch auf das logifche Prinzip der Wahrheit
identifcher Sätze zurückgebracht werden. Das Kriterium
der Evidenz wird grundfätzlich dem des Beweifes
geopfert, erft bei den letzten Elementen der Begriffe tritt,
gleichfam notgedrungen, das Erkenntnismittel derlntuition
auf, ohne Auflöfung der Widerfprüche. Wir fehen hier
die Methode der Wortdefinitionen und Begriffsfubftitutionen
entliehen, die fpäter, befonders bei Chr. Wolff, zum Extrem
gefteigert find. Auch das fchlechthin Unableitbare, die
Exiftenz wie die anfehauliche Erkenntnis, werden .bewiefen'
durch andere gewiffere Inftanzen.

Eine ganz andere Gedankenwelt baut fich auf den
metaphyfifchen Grundlagen der Monadenlehre auf, von
wo aus denn auch eine andere Erkenntnislehre entlieht.
Diefe fchildert H. zu zweit. Nachdem er die Monaden-

i lehre vom Standpunkt eines neuen Subftanzbegriffes aus-

I gehend dargeftellt hat, wendet er fie an auf die beiden
Erkenntnisgebiete der Seelen- und Körperlehre. In der
Seelenlehre ergibt fich fofort ein fundamental anderer
Ausgangspunkt der Gewißheit als früher: das Selbft-
bewußtfein, das cogito ergo sum, mit feinen Konfequenzen.
Hier fpielt die Intuition eine Rolle. Hier treten die .ewigen
Wahrheiten' mit unmittelbarer Gewißheit auf, durch die
präftabilierte Harmonie als Abfpiegelung der Gefetze des
Univerfums felbfttätig hervorgebracht. Vollends auf das
Gebiet derlntuition, des unbeweisbaren Erkennens werden
wir geführt, wenn der Welt im Geift eine äußere Welt
entfpricht. Dem gilt der letzte Teil der Unterfuchung,
welcher die Realität der Außenwelt nachweifen will; nicht
die Sinnesqualitäten, wohl aber Bewegung und Ausdehnung,
Raum und Zeit find real; nur will Leibniz das Für-fich-
exiftieren diefer Beftimmungen, fo z. B. den abfoluten
Raum leugnen.

Man vermißt am Schluß diefes gründlichen und felb-
ftändigen Werkes einen Abfchnitt, der die großen Linien
zieht, weil diefe in der Einzelunterfuchung oft fehr zurücktreten
. Daß der Verfuch einer Harmonifierung diefer
Leibniz'fchen Gedankengruppen fehlt, ift ein Vorzug.
Selten finden fich die beiden Gedankenftröme, die von

Leibniz aus einerfeits zu der formalen, leeren Beweismethode
der Aufklärung, andererfeits zu dem Kantifchen

Apriorismus führen, fo fcharf gefondert wie in diefen rein

methodologifchen Spezialunterfuchungen.

Göttingen. E. Kohlmeyer.