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Ausgabe:

1915

Spalte:

32-33

Autor/Hrsg.:

Völter, Daniel

Titel/Untertitel:

Jesus der Menschensohn oder das Berufsbewußtsein Jesu 1915

Rezensent:

Bauer, Walter

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Theologifche Literaturzeitu'ng 1915 Nr. 2.

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phus gegeben haben. Diejenigen jüdifchen Kreife nun,

— und das waren eben die Pharifäer —• die in dem Übergang
ihrer Machthaber zu dem griechifch-römifchen Zeit-
geift eine Gefahr für das Judentum erkannten, fähen in
einer Mobilmachung der nationalen Kräfte Ifraels die
alleinige Rettung. Da das Gefetz Mofis nicht ohne
weiteres als Sammelprogramm der Nationalgefinnten genügte
, — war es doch nicht im Gegenfatz zum Hellenismus
zuftande gekommen — fo entfchloß man fich zu
einer zeitgemäßen Umdeutung des väterlichen Gefetzes,
zuerft in mündlicher Auslegung und praktifcher Anwendung
auf das Leben, die fchriftliche Fixierung der Zukunft über-
laffend; fie ift erft in der Kodifikation der Mifchna erfolgt.
In diefer Weiterbildung des Gefetzes erblickten aber gerade
die Sadduzäer mit Recht ein Haupthindernis für
die Affimilation an den Hellenismus. Das fchriftliche
Gefetz Mofis preiszugeben, kam den Sadduzäern noch nicht in
den Sinn: die Konfequenz ihres Standpunktes hätte es
allerdings verlangt! Damit wäre ihnen aber aller Zufammen-
hang mit dem Volk und die Quelle ihrer Einnahme und
Exiftenz entzogen gewefen.

Der Gegenfatz zwifchen Sadduzäern und Pharifäern
bemißt fich alfo an der Stellung beider zum Hellenismus

— und erft dadurch wird ihre Stellung gegenüber der
Tora beltimmt. Als Helleniften ftimmen die Sadduzäer,
gedankenlos genug, nur für die fchriftliche Tora; alsNatio-
naliften treten die Pharifäer für die fchriftliche und für
die mündliche Tora ein. Die verfchiedene Stellung zur
Tora war nicht der Ausgangspunkt der Streitereien zwifchen
Sadduzäern und Pharifäern, wohl aber lag fie in der Folge
derfelben. In diefer Umformung kann ich mir die Thefe
Leszynsky's aneignen, der ich auch noch auf anderem
Wege einigen Gefchmack abzugewinnen vermag.

In der Verteidigung ihres Standpunktes gegenüber
der Tora waren die Sadduzäer felbft genötigt zu einer
genauen Durchforfchung des Gefetzes. Dabei find fie gelegentlich
, trotz der Abficht, nur die Lehren der fchrift-
lichen Tora zu vertreten, zu Anflehten gelangt, die von
der Meinung der Originalquelle abwichen. So wird der
Gegenfatz zwifchen Sadduzäern und Pharifäern zu einem
unerquicklichen Schulgezänk, ähnlich dem zwifchen Hilleliten
und Schammaiiten innerhalb des Pharifäismus. Ein
Nachhall diefer Differenzen tönt noch durch Mifchna und
Talmud und wird von Schürer, Gefchichte des jüdifchen
Volkes II4, 481 und danach von Bertholet, Bibl. Theologie
des AT. II 1911, 311 unterfchätzt. Auf diefe Lehr-
unterfchiede legt Lesz. mit Recht den Finger S. 36—141.
Wie es fcheint, hat Lesz. auch weiter recht, wenn er
S. 142—167 die im J. 1910 vonSchechter veröffentlichten
,Fragments of a Zadokite Work', die viel Auffehen erregten
und von Bertholet in feiner Bibl. Theol. 1911,
S. 29S—311 nicht berückfichtigt find, als Beweismaterial
für die gelehrte Diskuffion zwifchen Pharifäern und Sadduzäern
verwertet. Jedoch (lammt diefe Schrift nicht aus
rein fadduzäifchen Kreifen, fondern eher aus fadduzäifchen
Reformkreifen.

Auffallenderweife fehlt unter den hiftorifchen Quellen für das
Sadduzäertum bei Lesz. eine befondere Rückfichtnahme auf das erfte
Makkabäerbuch, deffen Verfaffer vielen, übrigens auch Lesz. S. 176
felbft, wegen feiner Bewunderung der Makkabäerfürften als Anhänger der
Sadduzäer gilt. Für einen Mißgriff halte ich es, die Verfaffer der Jubiläen
, der Teftamente der XII Patriarchen und der Affumptio Mofis zu
Sadduzäern zu ftempeln. Denn Jubil. 23, 31 vertritt zwar keine maffive
Auferftehungslehre, wie Lesz. S. 219 mit Recht betont, wohl aber den
Glauben an eine (Jnfterblichkeit der Seele, und das ift kein Sadduzä-
ifches Schuldogma. Hingegen kennt Teftam. Benjamin 10 die allgemeine
Totenauferftehung, und der Verfaffer der Affumptio Mofis glaubt 10, 10 f.
an eine zukünftige Seligkeit der Gerechten — was lauter Ketzereien für
einen Sadduzäer fein würden!

In dem Kampf zwifchen Sadduzäern und Pharifäern
handelt es fich um die Stellungnahme zu dem Hellenismus
, durch den die Frage des Univerfalismus in den
Orient gedrungen war. Die Löfung brachte erft das
Chriftentum durch die Preisgabe der jüdifchen Nationalreligion
zugunften der Humanität. Die Entfcheidung

erfolgte durch die Anknüpfung an die durch die ifraeli-
tifchen Profeten entbundenen und in das nachexilifche
Judentum hinübergeretteten religiöfen und ethifchen Uni-
verfalkräfte. Für die Erreichung diefes Zieles hat auch
der Sadduzäismus eine Rolle gefpielt. Das ift das Berechtigte
des Verfuches Lesz.'s, gewiffe verwandte Züge
zwifchen Chriftentum und Sadduzäismus aufzuweifen (S.
280—303).

Kann ich auch dem Werk von Lesz. nur eine
fehr bedingte Förderung der obfehwebenden Fragen
zuerkennen, fo möchte ich doch gern noch hervorheben,
daß einzelne Partien des Buches, z. B. gleich die Einleitung
S. 7 ff. ein Genuß zu lefen find. In der Ableitung des
auf einen hasmonäifchen Priefterfürften gedichteten Pf.
110 von einem Sadduzäer S. 93 ff. hat Lesz. in einem fo
fcharffinnigen und geiftreichen Pfalmexegeten wie Duhm
Pfalmkom. S. 11 einen Vorgänger.

Heidelberg. Beer.

Völter, Prof. Daniel: Jefus der Menlchenlohn oder das Berufsbewußtlein
Jefu. (V, 113 S.) gr. 8°. Straßburg,
J. H. Ed. Heitz 1914. M. 4 —

Völters Buch beginnt mit einer Einleitung, die einen
Überblick über die bisherigen Löfungsverfuche des Men-
fchenfohn - Problems enthält. Dann geht der Verf. zu
kritifchen Erörterungen über und betrachtet die einzelnen
Stellen der Synoptiker, in denen der Ausdruck Menfchen-
fohn vorkommt. Bei Annahme zahlreicher Interpolationen
ergibt fich ihm das Refultat, daß die Menfchenfohnaus-
fagen überall da, wo fie apokalyptifch-eschatalogifchen
Charakter tragen, unhiftorifch find. Selbft die Erklärung
Jefu vor dem Hohenpriefter vermag vor feiner Kritik nicht
zu beftehen.

Damit ift nun aber keineswegs die gefamte Überlieferung
, derzufolge Jefus fich den Menfchenfohn genannt
hat, preisgegeben. Es bleiben Stellen genug übrig, an
denen die Selbftbezeichnung Jefu gefchichtlich zutreffend
ift. Verf. tritt der fo vielfach geäußerten Skepfis bezüglich
Mt. 11, i9 = Luk. 7,34 entgegen und plädiert auch
zu Gunften zahlreicher anderer Verfe. Nach feiner Meinung
erklärt fich die eigentümliche Selbftbenennung aus Jelu
Berufsbewußtfein, in denen er fich als der Sucher des Ver-
! lorenen fühlte. Der Ausdruck war ihm durch das Buch
I Ezechiel nahegelegt, das erzählt, wie der Prophet, wiederholt
als Menfchenfohn apoftrophiert, zu den Verirrten
gefandt wird (Ez. 2,3—7, 3. '7ff- 34)-

Im Verlauf feines öffentlichen Lebens fah Jefus ein,
daß er feinen Beruf nur mit Aufopferung feines Lebens
durchführen könne. So empfängt fein Bewußtfein, der
Menfchenfohn zu fein, den neuen Zug, als folcher leiden
und fterben zu müffen. Die Schrift bekräftigt ihm das
eigene Empfinden. Redet fie doch Jef. 53 vom leidenden
Gottesknecht, der Jef. 52,14 auch als Menfchenfohn vor-
geftellt wird. .Indem fich fo für Jefus mit der Weisfagung
vom Menfchenfohn bei Ez. die Weisfagung vom leidenden
Gottesknecht bei Jef. verband und Jefus fich als der
Träger oder Erfüller von beiden erkannte, kann es nicht
verwundern, daß fein Selbftbewußtfein oder fein amtliches
Bewußtfein eine außerordentliche Spannung bekam
und fich bis zur meffianifchen Höhe erhob' (S. 77). Als
apokalyptifchen Menfchenfohn hat erft die chriftliche Gemeinde
Jefus betrachtet.

Ich glaube nicht, daß diefe Löfung des Problems
dazu berufen ift, die theologifche Forfchung zu veran-
laffen, von ihrem .gründlichen Irrweg' abzubiegen. Sie
ift durch allzugroße Willkür der evangelifchen Überlieferung
gegenüber gewonnen. Weder überzeugt die
Kritik an den apokalyptifchen Auslagen mit ihren gehäuften
Interpolationshypothefen, noch kann fich die Anknüpfung
der Selbftbezeichnung an das Bewußtfein Jefu,
der Sucher des Verlorenen zu fein, auf ein klares Votum