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Ausgabe:

1915 Nr. 1

Spalte:

14-15

Autor/Hrsg.:

Weinel, Heinrich

Titel/Untertitel:

Johann Gottlieb Fichte 1915

Rezensent:

Hirsch, Emanuel

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Theologifche Literaturzeitung 1915 Nr. 1.

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mehren, erklärt er feinen Lefern nicht, fei es in der Erwartung
, daß die Schrift ihr Erfcheinen felber rechtfertigen
würde, fei es, daß der Reiz der Aufgabe ihn vor
dem Vorwurf, ein opus supererogationis vollbracht zu
haben, nicht zurückfchrecken ließ. Den Anfpruch, wefentlich
Neues an den Tag gefördert zu haben, macht er
mit Recht nirgends geltend; dagegen darf er die Genugtuung
hegen, ein Buch gefchrieben zu haben, das fich
durch gewiffenhafte Verwertung der Quellen, in erfter
Linie der Briefe des Reformators, durch befonnenes Urteil
und lichtvolle Darftellung auszeichnet. Eine kritifche
Rechenfchaft über die herangezogenen Hilfsmittel, wie
fie etwa Willifton Walker feiner Monographie (1906) vor-
ausgefchickt hat (XI—XVIII) gibt R. nicht, was man
vielleicht bedauern wird, wenn man fich das bibliogra-
phifche Verzeichnis pag. VII—VIII anfleht. Während R.
fich auf veraltete Werke, wie Merle dAubignes und De
Felice's (R. fchreibt Feiice), bezieht, erwähnt er weder
Staehelins noch Kampfchultes wichtige Calvinbiographien;
auch die fcharffinnigen Unterfuchungen Karl Müllers und
die großzügigen Ausführungen Troeltfchs fcheinen ihm
entgangen zu fein. Die häufige Bezugnahme auf Dou-
mergues umfaffendes Werk wird man um fo bereitwilliger
billigen, als R. den panegyrifchen Ton des modernen
Calvinapologeten nicht feiten und immer mit
gutem Grunde herabzuftimmen weiß.

Der Gang der Darftellung ift durch die Chronologie
des Lebens Calvins bedingt. Der Rahmen der entworfenen
Bilder, der bei Doumergue einen außerordentlich
großen Raum in Anfpruch nimmt, ift bei R. oft zu ftark
reduziert. Befonders mager ift das erfte, den politifchen,
kirchlichen und religiöfen Verhältniffen Frankreichs gewidmete
Kapitel ausgefallen. Viel reicher und eingehender
nimmt fich die Schilderung der Zuftände in Genf vor
der Ankunft Calvins aus. Über Calvins Werden namentlich
über feine Bekehrung, verbreitet R. kein neues Licht.
Zu den von Lang, K. Müller und andern angeftellten
Unterfuchungen nimmt er keine beftimmte Stellung ein; die I
bekannten Stellen aus der Vorrede zum Pfalmenkom-
mentar und aus dem Schreiben an Sadolet unterwirft er
keiner kritifchen Erörterung. Auch andere Probleme erfahren
keine wefentliche Förderung, werden aber auf
Grund der vorhandenen Quellen gewiffenhaft erörtert
Die zwölf Kapitel, die Calvins Wirkfamkeit in Genf nach
ihren verfchiedenen Seiten beleuchten, führen den Lefer
in die kirchlichen, fozialen und politifchen Arbeiten und
Kämpfe ein, machen ihn mit den Gegnern, den Mitarbeitern
und den Freunden Calvins bekannt, und lenken
auch den Blick auf die weit über Genf hinausgehenden
Beziehungen des gewaltigen Mannes hin. Befonders eingehend
und gelungen ift die immer fchwierige Darfteilung
des Servetprozeffes. Mit Recht erblickt R. bereits
in dem charakteriftifchen Brief Calvins an Farel vom
13. Februar 1546 (C. R. 12, 283) den Schlüffel zum Ver-
ftändnis des Verhaltens Calvins zu feinem unglücklichen
Gegner. Wenn R. auch in dem richtig interpretierten Briefe
von Guillaume de Trie an Antoine Arneys (C. R. 8, 842)
eine wefentliche Entlaftung des Reformators erblickt,
kann er demfelben den Vorwurf graufamer Kälte und
Härte nicht erfparen, und in dem Gefamturteil, das der
Hiftoriker über die traurige Epifode ausfpricht, muß er
bekennen, daß die Verantwortung in erfter Linie Calvin
trifft. — Bei der Befprechung und Analyfe der gegen
die Römifchen (212—220) und gegen die Lutheraner
(220—231) gerichteten polemifchen Schriften, wäre eine
genaue Angabe der einzelnen Traktate in der kritifchen
Ausgabe des Corpus Reformatorum erwünfcht gewefen
(vgl. indeffen S. 225, 226, 228). Den Kreis der Länder
und Kirchen, um welche Calvins reformatorifche Tätigkeit
bemüht war (232—266), hätte R. noch wefentlich erweitern
dürfen. Der Hinweis auf die regions beyond
veranlaßt den Verf., auf Erasmus, als den erften hinzu- !
weifen,der beftimmt dielIeidenmiffion in feinenGefichtskreis 1

aufgenommen habe: die Anfätze, die bei Bucer zu finden
find, hat er leider verfchwiegen. Die drei letzten Kapitel
gelten dem Charakterbild (320—332), dem Lebenswerk
(333—349) un<^ fier Theologie Calvins (350—371). Die
Charakteriftik Calvins liefert weniger ein Totalbild als
eine Mofaik von Einzelzügen: die ftarke Betonung der
Kränklichkeit und der hieraus zu erklärenden Reizbarkeit
Calvins war durchaus am Platze; wenn aber daneben
R. Calvins Sinn für die Naturfchönheit rühmt, und auf
Grund einer kurzen Briefnotiz von der Fröhlichkeit und
dem Humor, der in Calvins Haus zuweilen geherrfcht
habe, zu reden weiß, fo gibt fich hier der Doumergue'-
fche Einfluß in einer Weife zu erkennen, die mit den
unbefangen verwerteten Quellen nicht leicht in Einklang
zu bringen ift. Das Lebenswerk Calvins bringt er auf
eine dreifache Formel, ftraffe Organifation des Kampfes
gegen Rom, Herftellung eines Mufterftaates, Grundlegung
zur modernen Demokratie. Daß letzteres doch nur in
fehr bedingtem Sinne und mit mancherlei Limitationen behauptet
werden darf, muß R. felber zugeben. Wenn er
aber aus diefem Lebenswerk Calvins die Organifation
der theologifchen Grunddisziplinen, die exegetifche Vir-
tuofität und die fyftematifche Begabung ausfchaltet, fo
mag dies daran liegen, daß er im Schlußkapitel von
Calvins Theologie handelt. Diefes Kapitel bietet aber
für jene Lücke keinen hinreichenden Erfatz, denn einmal
kommen Calvins Kommentare und biblifche Vor-
lefungen und Homilien nicht zur Sprache, und anderer-
feits treten die charakteriftifchen Eigentümlichkeiten und
die treibenden Grundgedanken der Glaubenswelt des
großen Syftematikers nicht klar und fcharf genug hervor
. Es fehlt zwar nicht an treffenden Bemerkungen, fo
kann z. B. der perfönliche Beitrag, den Calvin zu den
aus den bahnbrechenden Reformatoren entlehnten Elementen
hinzugebracht hat, in the doctrine of divine
Sovereignty gefunden werden; auch zur Kritik der
Gotteslehre und des Prädeftinationsgedankens gibt der
Verf. brauchbare Winke; als Ganzes läßt aber gerade
diefe Darfteilung viel zu wünfchen übrig, und auch im
einzelnen wird fie mancherlei Widerfpruch hervorrufen
(S. z. B. pag. 359: The roots of Calvin's theology lie in
his conception of human nature as corrupt and impotent
towards good). Den Schluß der Darfteilung
bildet der merkwürdige Verfuch einer Synthefe zwifchen
dem Calvinfchen Determinismus und dem Darwinfchen
Evolutionismus (369—371). — Daß in einem fo umfaf-
fenden, einen gewaltigen Stoff verarbeitenden Buche Un-
genauigkeiten und Verfehen mit unterlaufen, ift nicht verwunderlich
(als Straßburger darf ich bemerken, daß
Jacob Sturm und Johann Sturm nicht Brüder waren, 81).
Indeffen, wenn einmal noch eine Calvinbiographie erfcheinen
mußte, die neue Kenntniffe nicht wefentlich erweitern
und vertiefen follte, fo darf gefagt werden, daß
der Verfaffer fich mit diefem Schickfal glücklich abgefunden
hat und der ihm geftellten Aufgabe durchaus ge-
wachfen war.

Straßburg i. E. P. Lobftein.

Weinel, Prof. D. Dr. Heinr.: Johann Gottlieb Fichte. (Die
Religion der Klaffiker. 6. Bd.) (XXIV, 111 S.) 8°. Berlin
-Schöneberg, Proteftantifcher Schriftenvertrieb 1914.

M. 1.50; geb. M. 2 —

W. gibt in feinem Buche eine vorzüglich getroffene
und gefchickt gruppierte Auswahl aus den 1806—1808
erfchienenen populären Schriften Fichtes. Leichter und
bequemer, als es hier gefchieht, können die praktifchen
Grundgedanken des reifen Fichte gar nicht zugänglich
gemacht werden. Das Buch fei allen denen empfohlen,
denen die Anweifung zum feiigen Leben zu fchwere Kofi: ift.

In der Darbietung des Textes ift W. nur einmal
(S. 42—45) ein Verlehen unterlaufen: die Stelle 5, 535fr. geht