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Ausgabe:

1915 Nr. 2

Spalte:

545-547

Autor/Hrsg.:

Jannasch, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Erdmuthe Dorothea Gräfin von Zinzendorf, geborene Gräfin Reuß zu Plauen. Ihr Leben als Beitrag zur Geschichte des Pietismus und der Brüdergemeine dargestellt 1915

Rezensent:

Uttendörfer, Otto

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Theologifche Literaturzeitung 1915 Nr. 25/26.

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1874 hatte Vogt die Reformation in Weißenburg im
Nordgau 1524-30 behandelt und wertvolle Beilagen, be-
fonders die Kirchenordnung von 1528, beigegeben. Eine
Ergänzung auf Grund weiterer Quellen und eine Weiterführung
bis zum dreißigjährigen Krieg will Karl Ried
geben. Sein Standpunkt ift der katholifche, für die allgemeine
Reformationsgefchichte orientiert er fich bei Janffen,
aber fein Urteil ift maßvoll. Er hat auch fleißig Weißenburger
und Nürnberger, fowie Eichftätter Quellen durch-
forfcht und gibt in den Beilagen willkommene Aktenftücke,
unter anderem Vifitationsakten von 1480 und ein Send-
fchreiben des Bifchofs Gabriel (an den Dekan des Kapitels
Weißenburg, welche die fittlich religiöfenZuftände beleuchten
. Manches wäre noch weiter aufzuhellen, aber die Quellen
find fehr lückenhaft und verfagen an wichtigen Punkten.

Doch hätte Ried tiefer graben dürfen, z. B. wegen der Prediger,
die fich auf ihren Wittenberger Aufenthalt und Luther berufen, die Matrikel
von Wittenberg, für den noch ganz unbekannten Arpontius, der wohl ein la-
tinifierter Arbenz ift, die Matrikeln von Ingolftadt, Leipzig, Wittenberg
und Erfurt befragen follen. Er hätte beachten follen, daß dem Schmal-
kaldifchen Bund ein Bündnis der katholifchen Fürthen Norddeutfchlands
voranging, und daß der Grundfatz: Cuius regio eius religio, ehe er
von Capito in diefe Formel geprägt wurde, lange fchon und zuerft von
den katholifchen Herrfchern in Bayern, Öfterreich, Sachfen (Dresden)
geübt wurde. CR. 1,842 fagt Melanchthon nicht, die Meffe fei dem Volk
wert, fondern die Auffaffung der Meffe als Opfer ftatt als Euchariftie fei
allgemein verbreitet und laffe fich kaum ausrotten, natürlich bei den katholifchen
Theologen und ihreu Anhängern. Wie wenig Widerftandskraft
die Meffe im Volk befaß, ift allgemein bekannt. Ganz mißverftanden ift
S. 61 Janffeus Urteil über die Haltung Johann Friedrichs und Philipps
von Helfen im Krieg. Gerade das Gegenteil ift richtig. S. 89 ift Credentz
nicht ein Büffet, fondern ein großer Becher. S. 101 follte Claufenbinders-
tag erklärt fein. Daß Andreä die Annahme der F. C. für eine leere
Form fache erklärt habe (S. 108), ift ganz unglaublich und erft zu be-
weifen.

Stuttgart. G. Boffert.

Jannalch, Paft.Lic. Wilhelm: Erdmuthe Dorothea Gräfin von
Zinzendorf, geborene Gräfin Reuß zu Plauen. Ihr Leben
als Beitrag zur Gefchichte des Pietismus u. der Brüdergemeine
dargeftellt. (Zeitfchrift f. Brüdergefchichte.
VIII. Jahrg. 1914.) (VI, V, 507 S.) 8°. Herrnhut. Gna-
dau, Unitätsbuchhandlung. M. 6 —

Die Arbeit des Verfaflers beruht auf umfangreichen
Quellenftudien und erfchließt befonders aus dem Schleizer
Archiv neues Material, das geeignet ift, ein bedeutfames
Licht auf das Verhältnis Zinzendorfs zu feinen Verwandten
zu werfen, und das ift um fo wichtiger, als Zinzendorfs
Beurteilung durch die fächfifche Regierung von feinen
Verwandten ungürftig beeinflußt wurde. Auch fonft ift
der Ertrag der Arbeit für die Brüdergefchichte nicht
gering. Der Einfluß des Ebersdorfer Pietiftenkreifes auf
Zinzendorfs Frömmigkeit, die Entftehung der Finanzverwaltung
der Brüderkirche, die Beziehungen der Brüder
zu Dänemark, zu den Oftfeeprovinzen u. a. m. werden,
foweit fie Zufammenhang mit dem Lebenswerk Erdmuths
haben, eingehend dargeftellt. Vor allem aber hat es der
Verfaffer verftanden, die Entwicklung der Heldin mit
feinem Verftändnis zu zeichnen, was umfo wertvoller ift,
als fie auch neben Zinzendorf ihre charaktervolle Eigenart
behauptet und ihn in wefentlichen Stücken ergänzt,
zum Teil auch beeinflußt bat. Nicht feiten wäre allerdings
zu wünfchen, daß der Verfaffer, wo die Quellen
nicht viel bieten, etwas weniger weit mit feinen Vermutungen
ginge, z. B. betreffs der Urfache für den frühen
Tod der meiften Kinder Zinzendorfs S. 133fr.

Der Verfaffer hat aber felbft erkannt, daß die eigentliche
Schwierigkeit für Erdmuths Biographen darin liegt,
daß er auf Zinzendorf eingehen muß. In der Tat wäre
es feine Aufgabe gewefen, wenn er fo weitgehende Hypo-
thefen über die Wirkung von Zinzendorfs Anfchauungen
von der Ehe auf das Verhältnis zu feiner Frau aufftellt,
diefe Anfchauungen in ihrem ganzen Umfang und in
ihrer gefchichtlichen Entwicklung zu Unteraichen. Er

j würde dann erkannt haben, daß bei der Entfchiedenheit
| des Eintretens Zinzendorfs für chriftlicb.es Familienleben
feine Entfremdung von Erdmuth kaum aus feinen Ehetheorien
herzuleiten ift.

Eine noch wirkfamere Urfache für die Entfremdung
der Gatten fleht der Verfaffer wohl mit Recht in Zinzen-
| dorfs Verhältnis zu Anna Nitfchmann. Um zu entfcheiden,
i in welchem Sinn und Umfang dies aber in Frage kommt,
I hätte es erftlich des genauen Studiums des Entwicklungs-
j gangs und der beruflichen Laufbahn derfelben und im
Zufammenhang damit der Bedeutung des Älteftenamts
und der Seelforge Zinzendorfs unter den Schwertern bedurft
. Die Benützung von einigen poetifchen Rückblicken
und Gelegenheitsgedichten Zinzendorfs, die teils weit
zurückliegende Ereigniffe fchildern, genügt auch nach den
j eigenen kritifchen Grundfätzen des Verfaflers nicht. Daß
fich der Verfaffer bei der Erklärung der Entfremdung der
Gatten auf die Hypothefe von Zinzendorfs Beziehung zu
Anna Nitfchmann befchränkt fleht, hat in der Tat feine
wefentliche Urfache in nicht genügender Heranziehung
der Quellen. Die Korrefpondenz hat er fehr genau verwendet
, das fogenannte Jüngerhausdiarium zu wenig, vor
allem aber find die Synodalprotokolle in viel zu geringem
Umfang herangezogen worden. Sie hätten noch manche
wichtige Bemerkung Zinzendorfs über feine Frau und über
Anna Nitfchmann geboten, vor allem aber zahllofe Selbft-
ausfagen Zinzendorfs, die zur richtigen Beurteilung feiner
Perfönlichkeit unbedingt geprüft werden müffen. Daher
beurteilt der Verfaffer manches auffällige Verhalten Zinzendorfs
z. B. feine geringe Korrefpondenz mit Erdmuth in
feinen letzten Jahren als einen Speziallfall, während hier
ein allgemeines pfychologifches Problem bei Zinzendorf
vorliegt.

So haben wir auch das Recht, die äußere Trennung
Zinzendorfs von Erdmuth von allgemeineren Gefichts-
punkten aufzufaffen, als es der Verfaffer getan hat. Mit
vollem Recht hat er hervorgehoben, daß die mehr oder
minder voUftändige Trennung Zinzendorfs von allen
feinen älteren Mitarbeitern mit dem Zeitpunkt feiner Rückkehr
aus Amerika zufammenfällt. Für ihn bedeutete diefe
Rückkehr den fchwerften Schlag feines Lebens, denn er
hatte in Amerika für die Gemeine Gottes im Geift ge-

I arbeitet, und während deffen hatten in Europa feine Mitarbeiter
die Gemeine in eine Sonderkirche verwandelt.

j Diefes Vorgehen hat er ftets als eine größere Verfün-
digung gegen den Heiland beurteilt als die Verirrungen
der Sichtungszeit, und wenn er auch diefer Kirche in der
P"olgezeit mannigfach diente, fein ganzes Streben ging
von nun an dahin, fich von ihr als Kirche, von ihrem
Finanzwefen, von ihrer Verfaffung zurückzuziehen, noch
viel mehr natürlich von der Welt, hatte er doch in Amerika
feinem Grafentitel entfagt und nur in Rückficht auf Erdmuth
diefen Schritt geheimgehalten. Er wollte nur noch
dem Umgang mit dem Heiland und der Pflege der
frommen Seelen in der Gemeine leben, und zur Pflege
des weiblichen Teils der Gemeine brauchte er Anna Nifch-
mann als Gehilfin, ebenfo wie für die Männer Johannes

■ von Wattewille. Ein Zufammenarbeiten mit Erdmuth
verfuchte er bis in die fünfziger Jahre herzuftellen auf

! dem Gebiet des Finanzwefens, wo er im Augenblick der
größten Gefahr felbft Hand anlegen mußte; in richtiger
Erkenntnis ihrer fchwindenden Kraft hat ihm aber Erdmuth
diefe Mitarbeit verweigert, und fo blieb für Erdmuth
nur die äußere Repräfentation der Brüderkirche den Regierungen
und der Ariftokratie gegenüber, während fich
Zinzendorf aus diefen Kreifen völlig zurückzog, um in
rein geiftlicher Atmofphäre zu leben. Er felbft fchreibt
darüber an Spangenberg am 25. VI. 1750: ,Ich habe
mich mit meiner lieben Frau geteilt; die hat den Hof
und ich habe die Schafhürden; das wird auch nicht wieder
geändert werden'. Daß Zinzendorf in feinem Verhältnis
zu Erdmuth und Anna Nitfchmann es an Takt hat mangeln
laffen, ift klar. Aber in der Hauptfache war diefe Ent-