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Ausgabe:

1915 Nr. 2

Spalte:

448-449

Autor/Hrsg.:

Rademacher, Arnold

Titel/Untertitel:

Gnade und Natur. Ihre innere Harmonie im Weltlauf und Menschheitsleben. Eine apologetische Studie. 2., verm Aufl 1915

Rezensent:

Thimme, Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung 1915 Nr. 20/21.

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zum ,Volke', fpeziell zum ruffifchen. Rußland d. h. das
Volk, der Mufchik, habe keine ,beengenden Traditionen',
lebe noch gewiffermaßen im ,Naturzuftande' (Rouffeaul).
Es werde den ,Kapitalismus' überfpringen und die rechte
Republik bringen. Der ,Mir' wird die Grundlage fein. Bis
dahin foll auch der Zar toleriert werden.

Der zweite Band bringt die Entwicklung von Ba-
kunin bis in die Gegenwart. Michail Bakunin (1814—
1876) ift der eigentlich praktifche Nihilift, der Revolutionär
sans phrase, der ,alles', was die Gefchichte aufgebaut,
zerftören möchte, eine völlig neue Gefellfchaft auf der
Bafis des Atheismus und der /wahren Demokratie' d. h.
auf dem Grund der unbedingten Verwerfung jeder Autorität
, alfo der abfoluten .Anarchie' und vollen Gleichheit
aller errichten will, nicht nur in Rußland, fondern in
der Welt überhaupt. Er ift mit den Revolutionären in
ganz Europa in Verbindung, unter dem jungen Deutfch-
land' der vierziger Jahre fo gut heimifch, wie in der
Schweiz, in Frankreich und Italien, bei allen, die den Um-
fturz betreiben. Seine ,Ideenwelt' ift durch und durch
maßlos, der Mittelpunkt ein wirrer Hegelianismus; die
Kirche ift ihm eine ,himmlifche Schnapsbude', er empfiehlt
den Terrorismus, den Einzelmord und die Einzel expro-
priation, um eine ,allgemeine Panik' zu erzeugen. Das
ruffifche Volk ift ihm dazu geboren, die rechte Revolution
herbeizuführen. Er ift aber dabei .international' intereffiert
und fieht weniger im Kommunismus als im Kollektivismus
die Grundlage der neuen Gefellfchaft (mit Marx ift
er zum Teil in Gegenfatz gewefen). Bemerkenswert ift,
daß er, wie M. (S. 32) mitteilt, den Ausdruck .Sozialdemokratie
' geprägt hat. In Rußland felbft wirkte für
den marxiltifchen Sozialismus befonders Tf ehern yfchevs-
kij (1828—1889), der Hauptführer dort in den fechziger
Jahren; er ift überwiegend bloß ,Philofoph', unbedingter
Materialift, dadurch eigenartig charakterifiert, daß er fich
befonders durch englifche Nationalökonomen wie Bentham
(alfo durch den fog. ,Utilitarismus') beeinfluffen ließ. Für
ihn und feinen Anhang hat Turgenjev fpeziell den
Namen ,Nihiliften' aufgebracht (S. 41; wie M. fpäter,
S. 93 hervorhebt, war der Ausdruck ,Nihililten' fchon
erheblich älter, fchon in den dreißiger Jahren, von Na-
defchdin gebildet, nämlich für diejenigen, die in,Literatur
und Kunft' nichts von ,leitenden Ideen' wiffen wollten.
Turgjenev hat ihn definitiv als politifchen Namen für
die atheiftifchen, anarchiftifchen Nichts- als- Pofitiviften
in Gang gebracht). Tfch.'s Werk ,Was tun?' war das
Evangelium der radikalen Jugend der Zeit. Auch die
Frauenfrage ift von ihm in's Auge gefaßt. Es wäre, wie
M. es darfteilt, falfch, wenn man ihn und die Nihiliften,
bzw. Nihiliftinnen feiner Zeit als Anhänger der ,freien
Liebe' hinftellte: fie find nur Gegner eines ,unwahren'
fittlichen ,Konventionalismus'. Seine nächften Haupt-
fchüler waren Dobroljubov (1836—1861) und Pifarev
(1840—1868), beide nicht zu voller Entfaltung gelangt.
(Der letztere galt als enfant terrible des Nihilismus: eine
Art ,Nietzfche' vor Nietzfchel). Theoretiker der Richtung,
die den Sozialismus weiter entwickelt, alle immer im Zu-
fammenhang mit den mancherlei Genoffenfchaften (Geheimbünden
), die fich bilden und mit der europäifchen pofi-
tiviftifchen Philofophie, find noch manche zu verzeichnen.
M. charakterifiert die verfchiedenen Gruppen, länger verweilend
bei Lavrov (1823— 1900, einer der Emigranten)
und befonders bei NikolaiK. Michailovskij (1842—1904),
der fich in Rußland zu behaupten vermochte.

Es folgen nun bei M. Kapitel über die »Theoretiker
der offiziellen Theokratie' (Katkov, 1818—1887, Pobje-
donoszev, 1827—1907, Leontjev, 1831 —1891) und über
den.Myftiker' Vladimir Solovjev (1853—1900). Die Ana-
lyfe der ,Theokraten' ift höchft lehrreich, gerade tür den,
der das ruffifche Chriftentum der Gegenwart würdigen
will. Aber ich laffe das hier auf fich beruhen. Über
Solovjev habeich vor kurzem (in diefem Jahrgang Nr. 16/17)
fchon berichtet. Was M. über ihn bringt, ftellt ihn, wie

mir fcheint, fehr gut in's Licht und wird man nur mit
Nutzen lefen, wenn man fich felbft nach der deutfehen
Ausgabe feiner Hauptwerke mit dem feinen, finnigen
Manne befchäftigen will.

Es folgt bei M. noch ein großer ,Abfchnitt' (S. 278
—423) über die ,fozialpolitifchen Richtungen und Maffen-
bewegungen' etwa der letzten drei Dezennien, wobei befonders
der »neuere Anarchismus' des Fürfiten Peter Kra-
potkin (der noch lebt, geb. 1842, feit 1886 Emigrant, meift
in London) berückfichtigt wird, und dann noch ein
kleinerer Abfchnitt, der in zufammenfaffender Weife nochmal
all die Ideen und Männer würdigen will, die in den
beiden Bänden vorgeführt find: es ift im Grunde das
,Problem der Revolution', fpeziell das des werdenden
Rußlands, das behandelt wird. Ich kann und will
darauf nicht mehr eingehen. Die Revolution von 1905—07
bedeutet offenbar einen Wendepunkt des Empfindens und
Denkens in Rußland. Sie ift nicht fiegreich gewefen,
ganz im Gegenteil. Gewiffe magere Reformen hat fie
gezeitigt. Aber vor allem (nachdem eine Menge von
Todes- und Verbannungsurteilen vorgearbeitet haben) ift
ein Umfchwung der Stimmung eingetreten. Im Jahre 1909
erfchien eine .Sammlung von Auffätzen der ruffifchen
Intelligenz', die den Titel führte .Abfteckpfähle' und aus
dem eigenen Lager der Revolutionäre eine Abrechnung
prinzipieller Art mit den bisherigen Prinzipien brachte,
eine Art von Buße für die praktifchen Fehler nicht nur,
die gemacht worden, fondern für die Ideen, die bisher
leitend gewefen. Man will auf neuer Bafis, einer folchen,
die die Religion nicht mehr bekämpft und verachtet, fondern
wertet, verfuchen, eine beffere Zukunft vorzubereiten.
Man will für Rußland und feine Miffion nicht mehr bloß
,fterben', fondern .arbeiten', d. h. im kleinen anfangen
und auch mit geringen Erfolgen zufrieden fein. Ich bin
nicht felbft kundig genug, um irgend eine Profetie zu
wagen. Auch M. wagt keine folche, außer daß er der
Überzeugung Ausdruck gibt, daß ohne Religion nichts
Großes in der Gefchichte entftehe und fich behaupte.
Auch die neuefte Richtung ift durchaus nationaliftifch.
Ich habe den Eindruck, daß von der Uvarov'fche .Dreieinigkeit
' (f. oben Sp. 444 u.) die .Nationalität' jetzt erft
ihre Zeit finden werde, und daß fie vielleicht ebenfo zu-
nächft Hekatomben von Opfern fordern werde, wie .Orthodoxie
' und .Autokratie', ehe fie vielleicht auch durch
.Abfteckpfähle' den Charakter einer brauchbaren .Arbeits-
hypothefe' erhalten könne.

Halle a. S. F. Kattenbufch.

Rademacher, Prof. D. A.: Gnade und Natur. Ihre innere
Harmonie im Weltlauf u. Menfchheitsleben. Eine apo-
loget. Studie. 2. verm. Aufl. (Apologetifche Tagesfragen
VII. Heft.) (151 S.) 8°. M. Gladbach, Volksvereins
-Verlag 1914 M. 1.50

Wer dem Katholizismus Feindfchaft gegen die Natur
zum Vorwurf macht oder behauptet, daß der Katholizismus
die Sphären des Natürlichen und Übernatürlichen nur
äußerlich verbunden gleichfam wie zwei Stockwerke über
einander aufbaue, der wird nach Lektüre vorliegenden
Büchleins zugeben müffen, daß er ungerecht gewefen ift.
R. facht mit bemerkenswertem Gefchick zu zeigen, daß
der Katholizismus auf allen Gebieten, in Wiffenfchaft,
Ethik, Kunft und Kultur, im Einzelleben und im Gemein-
fchaftsleben eine harmonifche Verbindung und Durchdringung
von Natur und Gnade fordere, indem erftere
von letzterer niemals mißachtet und unterdrückt, fondern
ftets nur geleitet, gereinigt, ergänzt und zur Vollendung
geführt werde. Der freigläubige Proteftant wird fich trotz
mancher Zuftimmung im Einzelnen, z. B. bezüglich des
ethifchen Wertes von Autorität, Askefe und dergleichen,
nicht von der vorgetragenen Harmonielehre befriedigt
erklären können. Denn nicht nur weift die behauptete