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Ausgabe:

1915

Spalte:

363-365

Autor/Hrsg.:

Canaan, Taufik

Titel/Untertitel:

Aberglaube und Volksmedizin im Lande der Bibel 1915

Rezensent:

Goldziher, Ignác

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Glaubenskrieg (der durchaus nicht gegen das Chriftentum
als folches gerichtet war noch ift und befonders in der
jetzigen Zeit fich nur gegen die rechtswidrigen Eingriffe
nichtislamifcher Mächte wendet, alfo einen Freiheitskampf
und eine ethifch hochftehende Kulturtat bedeutet), Ehe
und Sklaverei befeitigt werden.

In der Frage nach der Herkunft der Araber hätte
die Theorie der Prähiftoriker erwähnt werden können,
die wohl das Übergewicht über die anderen erringen wird.
Sie faßt die femitifchen Völker als einen vorgeftreckten
Arm der Nomadenkultur Aliens auf, der bis nach Zentralafrika
reicht.—In der Entwicklung des religiöfen Be-
wußtfeins in Muhammed hätte das nahe bevorftehende
Weltende unter Vergleichung mit dem Chriftentume einen
kräftigen Zug im Gefamtbilde liefern können. Sehr zu
bedauern ift es, das ein Buch wie das vorliegende, das
in vielen Punkten Vorurteile über den Islam befeitigt,
deffen eigentliche Kultur (Kunft und Wiffenfchaft) allzuwenig
berührt. Wie kraß hier noch die Unwiffenheit ift,
geht fchon aus folgender Behauptung hervor (89,35):, In
Syrien fand arabifches Wiffen eine letzte (!) Stätte unter
den Hamdaniden in Aleppo'. M. denkt an Farabi, deffen
Wiffen kein arabifches, fondern ein helleniftifch.es war.
Wenn Aleppo die letzte Zufluchtftätte der Geifteskultur
gewefen ift, dann haben alfo Avicenna, Averroes und die
Hunderte der fpäteren islamifchen Philofophen nicht exi-
ftiert. Da hatte man doch fchon im XIII. Jahrhunderte
im Abendlande eine beffere Kenntnis diefer Seite der
orientalifchen Kultur. Die Spekulation' und mit ihr der
eigentliche Kern der Geifteskultur des Orientes, die dem
Griechentume nicht nachftand, wird feltfamerweife äußerft
abfällig beurteilt. Auch die äfthetifche Kultur des Islam
hätte eine Darftellung verdient. Es gibt alfo noch viele
Seiten des orientalifchen Lebens, in die wir einen tieferen
Einblick tun könnten. Pur das hier in anfprechender
Form dargebotene können wir dem Verfaffer jedoch dankbar
fein.

Bonn. Horten.

Canaan, Dr. T.: Aberglaube u. Volksmedizin im Lande der
Bibel. (Abhandlungen des hamb. Kolonialinftituts Bd.
XX. Reihe B, Bd. 12.) (XII, 153 S. m. 50 Abbildgn.
u. 6 Tafeln.) Lex. 8°. Hamburg, L. Friederichfen & Co.
1914. M. 6—; geb. M. 8 —

In der islamifchen Literatur ift von zweierlei Heilmethoden
die Rede: außer der auf die medizinifche Wiffenfchaft
gegründeten fomatifchen (al-tibb al-dschutmäni)
noch von einer geiftigen Heilkunde (al-t. al-rühänl).
Letztere erftrebt die Heilwirkungen durch ma gif che Mittel,
Befprechung mit Gottes- und Engelnamen, Amulette und
Talismane u. a. m. (vgl. Nöldeke-Feftfchrift 316). Diele
geheimniskrämerifche Quackfalberei facht in neuerer Zeit
ihre pekuniäre Ertragsfähigkeit fogar durch die Mittel
moderner Reklame zu fteigern. Ich folgere dies aus einer
vor mir liegenden Annonce aus der Kairoer arabifchen
Zeitung al-Ahräm (die Pyramiden) vom 5. Februar I909,
in welcher Muhammed al-Lejti, naklb der Rifä'l-Derwifche
in einer ruhmredigen Reklame, mit Angabe der Sprech-
ftunden, die durch phyfifche und pfychifche Leiden Heim-
gefuchten auffordert, die Hilfe des geiftigen Arztes (al-tablb
al-rühänl), des vorzüglichen Meifters und vollkommenen
Führers al-Sejjid Muhammed As'ad al-Husejni in An-
fpruch zu nehmen, der göttlicher Eingebung teilhaftig,
alle jene Krankheiten, durch die Erlaubnis Gottes, ohne
Heilmittel und Kräuter, durch bloße Zuflucht zum Worte
Gottes zu heilen im Stande ift. Das Buch des Dr. C. hat
zum Zweck, diefe Praktiken, wie er fie in Paläftina in
chriftlichen und muslimifchen Kreifen beobachten konnte,
zu befchreiben. Wie auch der Titel zeigt, hat er das
gefamte Gebiet des Aberglaubens in feine Darftellung
einbezogen: die Vorftellung von guten und fchädlichen

Dämonen, vom böfen Blick und der böfen Seele, von den
Tugenden gewiffer tierifcher Subftanzen, Pflanzen und
Mineralien, von den Wirkungen der Zahlen- und Buch-
ftabenkombination, vom Einfluß der Geftirne, ufw. um im
befonderen den Zufammenhang des abergläubifchen Heilverfahrens
mit jenen Vorftellungen aufzuweifen. Schon
Profeffor C. H. Becker hat in feinem dem Werke vorgefetzten
Geleitwort auf die vom Verf. nicht beachtete
Literatur, befonders das bahnbrechende Werk Doutte's
(1909) hingewiefen, in denen in Bezug auf andere Gebiete
des Islams diefelben Beobachtungen dargeftellt find. Ich
möchte, ohne auf beftimmte Einzelobjekte des islamifchen
Aberglaubens bezügliche Unterfachungen zu erwähnen,
| noch auf ein reichhaltiges, mit Unrecht kaum beachtetes
| Kapitel in Eusebe Vaffel's La litterature populaire des
Israelites Tunisiens avecunessai ethnographique et archeo-
logique sur leurs superstitions (Paris, E. Leroux 1904—1907)
S. 120 — 199 hinweifen, in welchem fehr wichtige Beiträge
zu den auch von C. behandelten Stoffen zu rinden find.
Während diefe vom Verf. nicht berückfichtigten Arbeiten
I ihre Materialien zumeift aus der Literatur fchöpfen, hat der
j größere Teil des Buches von C. einen vorwiegend empiri-
fchen Charakter, indem feine Mitteilungen auf perfönlich
| beobachtetes und erkundetes (wobei er in gewiffenhafter
I Weife ftets feine Gewährsleute, Männer und Frauen, Chriften
und Muslime angibt) gegründet find. Freilich hat er fich
nicht darauf befchränkt. Denn außer den okzidentalifchen
1 Schriften, denen er für die Volksvorftellungen im heutigen
I Paläftina Analogien aus der babylonifchen und jüdifchen
Magie entnimmt, hat er für die muslimifche Magie (und
dabei bewegt er fich nicht mehr ausfchließlich auf palä-
ftinifchem Boden) die darauf bezügliche arabifche Literatur
benutzt; die Werke, auf die er fich häufig beruft,
find S. 33 aufgezählt, darunter das fehr ergiebige Buch des
fchäfi ltifchen Gefetzesgelehrten Abu-I- Abbäs ' Ahmed
al-Dijarbl (fo und nicht DerabI ift die richtige Ausfprache
des Namens; vgl. 'all Mubarak, Chitat dschadida XI 71),
deffen Titel: Fath al-malik (nicht mulk, wie hier und
S. 112 Anm. 1) ai-madschid (nicht 'adschib, wieS. 33,9).
Die von der Vorlage des Verf.s erfichtlich verfchiedene
Ausgabe, die ich benütze (lith. Kairo 1313, 100 S. 8°),
enthält überdies nach Art orientalifcher Bücher auf ihren
Margines noch zwei in denfelben Kreis gehörige kleinere
Schriften: al-Dschawähir al-masüna wal-la'älT al-maknüna
von Abu-l-Hasan al-Schädali und die Mudscharrabät
(Probata) von Muhammed b. Jüsuf al-Senüsi.

Trotz des foeben betonten empirifchen Charakters
feiner Arbeit ftellt der Verf. feine Beobachtungen in ihrer
Motivierung ftets unter die durch die moderne Ethnologie
und Religionsgefchichte gebotenen Gefichtspunkte: fym-
pathetifche, Ähnlichkeits-.Berührungsmagie, Aftralmytho-
logie ufw. Inbezug auf letztere fcheint er mancher Übertreibung
Raum zu geben. Es ift z. B. mindeftens un-
wahrfcheinlich, die der Hand zugeeignete Zauberbedeutung
aus dem Kultus der Venus zu motivieren (S. 64
unten), deren Symbol die Hand fei. Auch in feiner
Zurückführung des heutigen orientalifchen Zauberglaubens
auf babylonifche Tradition hat er fich — wie dies bereits
Prof. Becker in feinem Geleitwort mit Recht bemängelt
— zu fehr den Verlockungen des Panbabylonismus anheimgegeben
. .Meines Erachtens — fagt Becker S. VI —
ift der Zauberglaube des heutigen Orients nicht aus
Babylon, fondern aus dem Hellenismus zu erklären.
Gerade die von Canaan fo ftark herangezogene arabifche
Aftrologie hat mit der babylonifchen Aftrologie nur noch
einige Rudimente gemein, während fie fich mit der
j helleniftifchen völlig deckt'. Auch mit den altteftament-
lichen Parallelen, die der Verf. häufig mit Gefchick verwertet
, hat er zuweilen die Grenzen der Wahrfcheinlichkeit
überfchritten. Man kann doch nicht überall, wo von
Schmuckfachen die Rede ift, diefen den Charakter von
Amuletten geben; ficher nicht Exod. 32,2 (S. 77) und
(S. 78) an den Hofeaftellen 2,4 (fo lies ft. 2 wo C. die