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Ausgabe:

1915 Nr. 15

Spalte:

340

Kategorie:

Religiöse Kriegsliteratur, Kriegspredigten, Kriegspädagogik

Autor/Hrsg.:

Pfeilschifter, Georg

Titel/Untertitel:

Religion und Religionen im Weltkrieg 1915

Rezensent:

Schuster, Hermann

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Seite 1

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339

Theologifche Literaturzeitung 1915 Nr. 15.

340

Verletzung der belgifchen Neutralität!) Der Kaifer hat j um die Panik der Jünger bei Jefu Verhaftung und die
fein Volk zum Krieg verführt, felber durch Nietzfche ! Überwindung im Oftererlebnis ein wenig zu verftehen.
verdorben. Von der .Raubluft' der Hohenzollern hören ! Die religiös-fittliche Wirkung des Krieges fchätzt W. hoch
wir, von .Antichrift' und von .Tigerphilofophie'. Selten ein. — Eine nützliche, wenn auch bei der augenblicklich
werden uns mildernde Umftände zugebilligt. Mit Recht noch vorhandenen Dürftigkeit des Materials aus dem Aus-
fagt W., man dürfe diefe Haltung nicht als .Heuchelei' lande großenteils nur fkizzenhafteZufammenftellungüberdie
beurteilen, aber als fittliche Schwäche, als felbftverfchul- j Bedeutung der Religion und der Konfeffionen im Welt-
dete Unkenntnis, verfchuldet durch nationale Über- | krieg hat der Katholik Pfeilfchifter10 unternommen. Er
hebung und infulare Borniertheit. — Als Beftätigung und
Ergänzung zu Wurfters Schrift ift mir das Büchlein von
Schröer, Zur Charakteriüerung der Engländer7, lehrreich
gewefen, zumal der Verf. aus Literatur und jahrzehntelang
fortgefetzten Befuchen England genauftens kennt und der
erfte feiner hier gefammelten acht Auffätze fchon zwei Jahre
vor dem Krieg gefchrieben ift. Auch S. verfteht England
von feinem durch die Gefchichte erklärten und zum Teil
auch gerechtfertigten nationalen Selbftgefühl aus, das durch
religiöfe Begründung und durch die Nachbarlofigkeit der
infularen Lage (Vergleich mit dem verzogenen, fittlich
gefährdeten .einzigen Kinde') zu dem Wahn des zur Welt-

befchreibt im erften Teil ,die Religion in ihrer Betätigung
als religiöfes Leben im Felde und zu Haufe'. Er behandelt
hier der Reihe nach Deutfchland, Öfterreich-Ungarn,
Frankreich, Belgien, England, Rußland, die Türkei, Neutrale
Länder. Der zweite Teil ,die Wechfelwirkung der
verfchiedenen Religionen bzw. Kirchen und Konfeffionen
während des Krieges' feiert ,das übernationale Papfttum',
behandelt das Verhältnis der chriftlichen Konfeffionen in
Deutfchland, die orthodoxe Kirche in Öfterreich-Ungarn
(ihre Unzuverläffigkeit im Gegenfatz zur öfterreichifchen
Treue der römifchen Katholiken), den Islam im heiligen
Krieg und die chriftlichen Mißtönen. Wenn Pf. fich
beherrfchung berufenen ,auserwählten Volkes' gefteigert j beiBefprechungderkonfeffionellen Verhältniffe inDeutfch

ift. Daher der naive Egoismus und die Verachtung der
.foreigners', die nicht als Vollmenfchen gelten, denen gegenüber
deshalb die politifche Perfidie und jede Lüge, fo
verächtlich gerade fie fonft dem Engländer ift, als felbft-
verftändlich gilt. Auch Schröer beftreitet deshalb die
Heuchelei (abgefehen von den Leitern der Politik) als
Charakterzug des Engländers und feiner (im ganzen hoch-
eingefchätzten) Frömmigkeit und läßt nur eigenfinnige,
nicht unverfchuldete Verblendung gelten, von der harte
Schläge fie heilen müffen. Den Niedergang Englands
leitet er von Eduard VII. ab, der es als Prinz durch fein böfes
Beifpiel dem ,Evangelium der Arbeit' entfremdete und zu
dem falfchen,Rentner'-Ideal der Indolenz und des bequemen
Genuffes verführte. Vor unbilliger Verunglimpfung der
Engländer warnt ein befonderer Auffatz. — Klar flicht vom
heutigen England Carlyle's Urteil ab in feinem berühmten
Brief an die Times vom Ii. Nov. 1870. Der Infel-Verlag
druckt ihn zufammen mit dem Briefwechfel von Strauß und
Renan8 in feiner Nummer 164 wieder ab. Diefer Briefwechfel
ift im 5. Heft des laufenden Jahrgangs der Teub-
ner'fchen Internationalen Monatsfchrift ganz richtig bezeichnet
als Beleg dafür, wie viel maßvoller und befonnener
die Beurteilung des Gegners damals war als heute. Denn
wenn auch Renan und Strauß Ausnahmen find, fo hätte
doch R. für feinen damals in der Revue des deux Mondes
veröffentlichten Auffatz — Renan und Strauß beziehen
fich in ihrem Briefwechfel darauf — heute in keiner fran-
zöfifchen Zeitfchrift Raum gefunden, übrigens ift ihr
Briefwechfel auch fonft überaus lefenswert. —

Wunderle9 zieht in feiner forgfamen, mit vielen Anführungen
und Literaturangaben verfehenen Studie über
die feelifchen Wirkungen des Krieges auch das Feldheer
mit in den Kreis feiner Betrachtung (geht damit alfo über
den Bereich von Binswanger und Traub hinaus). Er
unterfcheidet hier nicht nur Leitende und Kämpfende,
Offenfive und Defenfive, fondern auch die verfchiedenen
Waffengattungen. Sehr richtig und bedeutfam fcheint
mir die Beobachtung, daß die fittlich erhebende Wirkung
des Krieges fich in der erftaunlichen ftiliftifchen Höhe
der meiften Feldpoftbriefe bezeugt. Er redet von der
Panik im Felde, aber nicht von den Erfcheinungen der
Panik (Lädenfturm) daheim, und doch ift ihr Ausbruch
und ihre Überwindung vielleicht nicht ganz ungeeignet,

7) Schröer, Prof. Arnold: Zur Charakterifierung der Engländer.
(96 S.) 8». Bonn, A. Marcus & E. Webers Verl. (1915). M. 1.40

8) Krieg und Friede 1870. Zwei Briefe v. David Friedrich Strauß
an Erneft Renan u. deffen Antwort. Mit e. Anh.: Carlyle an die Times.
(Infel-Bücherei Nr. 164.) (72 S.) kl. 8°. Leipzig, Infel-Verlag (1915).
Geb. M. — 50

9) Wunderle, Georg: Das Seelenleben unter dem Einfluß des
Krieges. Eine pfycholog. Skizze. (28 S.) gr. 8°. Eichftätt, Ph. Brönner
1914. M. — 60

land über einen Auffatz von Graue im Proteftantenblatt
(Nr. 38; 16. Sept.) beklagt, fo hat er (auch wenn diefer
Artikel vielleicht zu beanftanden fein follte, ich habe ihn
nicht gelefen), ihn mißverftanden: Proteftantismus ift für
Graue eine beftimmte Gefinnung, der Kantifche Pflichtmoralismus
, aber nichts Kirchlich-Konfeffionelles. Das
geht fchon aus Pf.s Anführungen deutlich hervor. Aber
auf folche Unterfcheidung ift der Katholik nicht eingeftellt.
Wir haben aber allen Anlaß, uns zu freuen über den
ftarken vaterländifchen Sinn, den Pf. bekundet fowohl in
der Beurteilung des Katholizismus in den uns feindlichen
Ländern (z. B. bei dem Fall des vielberufenen Weihnachtshirtenbriefes
des Kardinalerzbifchofs Mercier von Me-
cheln), als auch befonders in der Beurteilung der kon-
feffionellen Verhältniffe in Deutfchland: den brüderlichen
Verkehr der beiden Konfeffionen im Felde fchildert er
mit warmer Zuftimmung, und für die Zukunft wünfcht er
,Möchten wir aus diefer einträchtigen konfeffionellen Stimmung
in die Friedenszeiten wenigftens fo viel mit hinübernehmen
, daß wir die nun einmal beftehenden reli-
giöfen Verfchiedenheiten im nationalen Leben fich auswirken
laffen im Geifte einer wahrhaftigen chriftlichen
Duldung, einer wirklichen ftaatsbürgerlichen Parität und
einer gegenfeitigen echten Hochachtung'. — Der katholifche
Kirchenrechtslehrer Triebs-Breslau 11 fchildert in feinem
Vortrag vom II. März als religiöfe Werte des Krieges:
Die Ablenkung der Gemüter vom Irdifchen zum Himm-
lifchen, Bußgeimnung, Gottvertrauen, Gebetseifer. Vom
Gebet prägt er den fchönen Satz: ,Klar und richtig fehen,
nicht allein gehen durch das Leben, fondern geführt,
geftützt von jener gebenedeiten Hand, die uns hoch
hinaushebt über alles Elend diefes irdifchen Lebens: das
ift das Gebet'. Die fittlichen Werte erblickt T. in der
Wertung werktätiger Nächftenliebe (deren asketifcher
Wert auch gerühmt wird), im Gehorfam, (Rechtfertigung
des , Militarismus'), im Bewußtfein einheitlicher Solidarität
(Anerkennung der vaterländifchen Haltung der Sozialdemokratie
), Treue, Starkmut, Heimatsliebe (auch für
Landfchaft und Sitte) Wahrheitsliebe (,Wir Deutfche wollen
lieber mit der Wahrheit untergehen, als mit der Lüge
fiegen') und endlich Verbefferung des Verhältniffes von
Kirche und Staat. Hier erhofft T. feitens der deutfchen
Univerfitäten eine höhere Wertung des Heimatsrechts der
theologifchen Fakultäten als der im Kriege bewährten
Pfleger unentbehrlicher moralifcher Imponderabilien. —

10) Pfeilfchifter, Prof. Dr. Georg: Religion und Religionen im
Weltkrieg. Auf Grund des erreichbaren Tatfachenmaterials dargeftellt.
(VIII, IIS s-) 8°- Freiburg i- B., Herder 1915. M. 1.40; geb. M. 1.80

11) Triebs, fürflbifchöfl. Konflft.-R. Prof. D. Dr. Frz.: Die reli-
giöfen, insbefondere die fittlichen Werte des jetzigen Weitkrieges f. unfer
deutfches Volk. Vortrag, geh. am 11. März 1915. (24 S.) gr. 8°. Breslau
, F. Goerlich 1915. M. —50