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Ausgabe:

1915 Nr. 14

Spalte:

317-318

Kategorie:

Religiöse Kriegsliteratur, Kriegspredigten, Kriegspädagogik

Autor/Hrsg.:

Kronfeld, E. M.

Titel/Untertitel:

Der Krieg im Aberglauben und Volksglauben 1915

Rezensent:

Titius, Arthur

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Theologifche Literaturzeitung 1915 Nr. 14.

318

macht doch Cairns20 geltend, daß mau die Ideen des Letzteren nicht
den leitenden K/reifen imputieren dürfe, Orchard21 erkennt an, daß
Nietzfche als Reaktion zum pictiftifcheu Chriftentum verftanden werden
muffe und in paradoxer Form auch manchen echt chriftlichen Gedanken
zum Ausdruck bringe; ja er meint, daß man in England keinen Treitfchke
brauche, weil dort ohnehin jedermann von ,unfrer eignen wunderbaren
Überlegenheit' (p. 7) Uberzeugt fei. Der Vernich zur Selbftkritik ift auch

Für und Wider jedes Krieges notwendig bleibt, ohne
Schwanken mit in den Kauf nehmen läßt.

Ohne ftrenge pfychologifche oder ethnologifche Methode
, hier und da allzu empfänglich für philologifche
oder mythologifche Einfälle andrer bietet doch E. M.
Kronfeld14, der fich auf folkloriftifchem Gebiete bereits

bekannt gemacht hat, eine Fülle von kultur- und reli- ,onft zu ^merken, am kräftigflen bei Frank Lenwood« der geeen
gionsgefchichtlich lehrreichem Material ganz überwiegend I d,e.9eiahr deS< l hanfa.smus, die d« Krieg überall mit fich 'bringt fehr
deutfeher Herkunft: Aftrologie im Anfchluß an Schillers
Wallenftein (wohl das fchwächfte Stück), Amulette und
Talismane, Feftmachen und Freikugeln (,Freifchützl),
Orakel, Prophezeiungen, Glück- und Unglückstage (auch
hier macht fich das Fehlen religionshiftorifcher Orientierung
ftörend bemerkbar), die Zauberkraft von Metallen
und Edelfteinen, von Tieren und Kräutern, Wund- und
Blutftillungszauber und Wundapotheke werden behandelt.
Auch über den heute im Schwange fliehenden Kriegsaberglauben
finden fich intereffante Mitteilungen. Wer
möchte z.B. glauben, daß man bei Wertheim inBerlinGlücks-
alraune für 1,75 M. kaufen kann oder daß in Wien
,Glücksringe' fozufagen offiziell ausgegeben wurden? Zur
Kenntnis der Volksfeele kann das Buch gute Dienfte tun.

Eine vortreffliche Orientierung über die breit an-
fchwellende deutfehe Kriegsliteratur ermöglicht die J. C.
Hinrichsfche Buchhandlung durch ihren entfprechenden
Teildruck aus dem Regifter zum Halbjahrskatalog15. Das
mir vorliegende 2. Heft ftellt, höchft überfichtlich geordnet
(Verbindung von fachlicher Anordnung mit alpha-
betifcher) und für beliebige Zwecke bequem benutzbar
etwa 1400 Titel aus Dezember 1914 bis Februar 1915
zufammen. Neben den militärifch-politifchen und den
technifchen Fragen fpielen die ethifch-religiöfen und äfthe-
tifchen Publikationen auch zahlenmäßig eine fehr erhebliche
Rolle, ein nicht zu überfehendes Zeugnis für die
Art deutfehen Geifteslebens.

Aus den neutralen, insbefondere auch aus den feindlichen
Ländern find begreiflicher Weife nicht viele Kriegs-
fchriften erreichbar. Doch liegen mir von den Papers
For War Time1« ca. 20 Hefte vor. Die Sammlung
geht von der Vorausfetzung aus, daß Großbritannien mo-
ralifch verpflichtet war, in den Krieg einzutreten und
diefen zum entfeheidenden Ende führen müffe, daß aber
nichtsdeftoweniger der Krieg die Enthüllung der Herrfchaft
unchriftlicher Prinzipien im Leben der Chriftenheit
fei, und daß nur die Befinnung auf die Macht vergebender
Liebe und übernationaler religiöfer Gemeinfchaft einen
dauernden Frieden herbeiführen könne.

Erftaunlich ift freilich die Unficherheit in der Aufweifung des Ver-
hältniffes von Liebe und Recht, die in den prinzipiellen Auseinander-
fetzungen hervortritt. Der unbedingte Pazifismus wird erfichtlich in England
von Marken Gruppen vertreten, die die Konfequenz des Prinzips für
fich haben. ,Logifch', fagt z. B. B. H. Streeter" ift Tolftoi mit feinem
Grundfatz, dem übel nicht zu widerftehn, im Recht, aber ,die Aufgabe
eines Chriften ift nicht die Logik eines Ausfpruchs, fondern die Er-
löfung der Welt durchzuführen'. Ein .abfolut chriftliches' Land hätte,
meint A. G. Hogg18, das europäifche Übel ohne Krieg nach Chrifti
Weife überwunden. Nicht minder unklar find die Gedanken über eine
.allgemeine Kirche', die nach dem Frieden verwirklicht werden müffe,
,an international society actually and perceptibly one, bound together by
devotion by Christ'. So namentlich der Herausgeber der Sammlung,
William Temple19. Englands Verhalten erfcheint meift im Lichte
des Ideals, während Deutfchland ob feines Zynismus im Vertragsbruch,
feiner Kriegsgreuel und Unterjochungsgelüfte ufw. harte Anklagen über
fich ergehen laßen muß. Doch fehlt es, wie ausdrücklich hervorgehoben
fei, auch nicht an Anfätzen zu befferem Verftänduis. Gegenüber der allgemein
üblichen Berufung auf die Trias Treitfchke, Nietzfche, Bernhardi

14) Kronfeld, Dr. E. M.: Der Krieg im Aberglauben und Volksglauben
. Kulturhiftorifche Beiträge. (270 S.) 8«. München, H. Schmidt
(1915). M. 2.50; geb. M. 3.50

15) Die deutfehe Kriegslitcratur. 2. Heft. Neuerfcheinungen Dezbr.
'914—Febr. 1915. (24 S.) Lex.-S». Leipzig, J. C. Hinrichs 1915. M. — 70

16) Heft 1—24. Oxford, Univerfity Preß; je 16 S. für 2 Pence.

17) Nr. 18, War, Tbis War and The Sermon on the Mount. p. 8.
iS) Nr. 15, Christianity and Force p. 12.

19) Nr. 1, Christianity and War p. 14; ausführlicher in Nr. 19, Our
Need of a Catholic Church; auch Nr. 9 (anonym), The Witness of the
L'hurch in the Present Crisis. —

ernfthaft zu Felde zieht und auch feinen Landsleuten bittre Wahrheiten
fagt.

Alles in Allem freue ich mich, konftatieren zu können,
daß im englifchen Proteftantismus noch immer Schichten
vorhanden find, mit denen für uns eine ernfthafte und
erfolgreiche Auseinanderfetzung nach dem Kriege möglich
fein muß. — Schon jetzt wird eine folche in verfrühter
Friedenshoffnung von W. Sanday23, dem verdienten
Exegeten, begonnen; die zum Kriege führenden
Ereigniffe werden zuerft in englifcher, dann in deutfeher
Beleuchtung vorgeführt und fchließlich wird das Fazit
gezogen in dem Sinne, daß von Deutfchland eine Anerkennung
feiner fchweren Schuld am Kriege und eine Re-
vifion feiner auf Terrorismus und Welteroberung gerichteten
Ideale (Bismarck, Treitfchke, Nietzfche, Bernhardi
als Vertreter einer bloßen Machttheorie typifch für das
heutige Deutfchland) erhofft wird, worauf ihm dann mildernde
Umftände zugebilligt werden follen.

Auf die politifchen Fragen, die S. aufwirft, kann in diefer Zeit-
fchrift nicht eingegangen werden, — ich hoffe, in einem politifchen Blatte
darauf zurückzukommen — aber deutlich ift von vornherein, daß eine
Verftändigung auf diefer Grundlage für uns ausgefchloffen ift. Rein
menfehlich angefehn können wir uns darüber freuen, wenn S. mit gutem
Gewiffen fich zur Notwendigkeit der Teilnahme Englands an diefem
Kriege bekennt (36. 38) — Der Bruch der belgifcheu Neutralität, die
drohende ,Zerfchmetterung'(Crushing) Frankreichs und die dahinter lauernde
Gefährdung Großbritanniens beftimmen ihn dazu —; fchwer glaublich ift
es uns, wenn er jede Eiferfucht und gemeine Gewinnfucht als Motive
des englifchen Volkes ablehnt (70 f. 95. 100) oder wenn er Grey's ab-
folute Integrität und Friedensliebe als zweifellos hinftellt (94); fein Entzücken
über den Idealismus der jungen Studierenden, die freiwillig zu den
Fahnen eilen, fowie über den fittlichen Heroismus, den in England der
Krieg entfeffelt, (85, vgl. die Einleitung) verliehen wir völlig aus analoger
eigner Erfahrung heraus, aber ebenfo muffen wir in Anfpruch nehmen,
daß für uns der Krieg ein heiliger d. h. mit gutem Gewiffen im Angefichte
Gottes für unfre höchften Güter geführter ift, und fo können wir
eine Buße und eine Revifiou unferer wahren Ideale nicht in Ausficht
ftelleD. In der Tat fehlt es auch innerhalb unferer wiffenfehaftlichen
Kreife völlig an der ,Objektivität' (69), die offenbar notwendig ift, um
zu erkennen, daß in England die Preffe ihr Beftes getan hat, um die
Wahrheit zu fagen (51) oder daß die Zerftöiung der deutfehen Handelsbeziehungen
für England kein Ziel war, alles vielmehr in völliger nob-
lesse zuging (50), oder daß die englifch-belgifchen Transaktionen vor dem
Kriege völlig harmlos und perfectly legitimale (39) verliefen ufw.l Merkwürdig
übrigens, daß S. auf die Miffion und ihre Gefährdung durch Englands
Handeln nicht mit einem Worte eingeht, wie denn überhaupt die
theologifch-kirchlichen Probleme in feiner Betrachtung völlig zurücktreten.

Es ift zweifellos für einen Engländer fehr fchwer,
fich in die Lage der Deutfehen zu verfetzen. Dazu kann
Wernles24 freundfehaftliche und auch gefchichtlich lehrreiche
Auseinanderfetzung gute Dienfte tun. Ich zitiere
nur zwei Sätze über das belgifche Problem:

Wir glauben, daß wir bis dahin in der Schweiz untre Neutralität
mit ihren Pflichten wefentlich anders aufgefaßt haben als die Belgier
die ihre und daß Abmachungen zwifchen fchweizerifchen Beamten und
einer Nachbarregierung bei uns ein Ding der Unmöglichkeit wären' (23),
,Es wird im gefchichtlichen Leben immer Fälle geben, wo mit der Vertragsmoral
nicht auszukommen ift, weil zu viel für ein Volk auf dem
Spiele fleht' (23). Das ift ehrlich geredet. —

Erwähnt fei fchließlich, daß fich in der Schweiz eine
Zeitfchrift aufgetan hat, die als Sprechfaal der führenden
Geifter der verfchiedenen Nationen dienen foll, um eine

20) An Answer to Bernhardi p. 3-

21) Nr. 10, The Real War p. 12.

22) Nr. 17, Pharisaism and War.

23) The Meaning of the War For Germany and Great Britain. An
Attempt at Synthesis. (124 S.) Oxford, Clarendon Press 1915. [Vorwort
datiert vom März.] s. 1.6

24) Wer nie, Prof. D. Paul: Gedanken eines Deutfch-Schweizers.
(27 S.) 8«. Zürich, Rafcher & Co. 1915. M. —60

25) Internationale Ruudfchau, hrsg. v. R. W. Huber. 1. Jahrg.,
1. Heft, Juni 1915. (64 S.) gr. 8». Zürich, Orell Füßli. M. — 50