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Ausgabe:

1915 Nr. 13

Spalte:

306

Autor/Hrsg.:

Winckler, Fr.

Titel/Untertitel:

Robert Pearsall Smith und der Perfektionismus 1915

Rezensent:

Fleisch, Paul

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Seite 1

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305

Theologifche Literaturzeitung 1915 Nr. 13.

306

Variation über das Thema, daß Schleiermacher keine iderjtifche Größe
ift. Es muß pünktlich gezeigt werden, wo es ihm fehlt. Ferner mußte
hier gefragt werden, welchem Idealbild die Schleiermacherfche Pfycho

In feinem Rückblick weift der Verfaffer mit Recht auf den doppelten
Zufammenhang hin, der Schleiermachers Didaktik vor anderen auszeichnet
.

Es ift auf wiffenfchaftlicher Seite der genaue Zufammenhang feiner
logie ihrer Gefamttendenz nach zuftrebt, und zwar unter Berückfichtigung didaktifchen Prinzipien mit den Prinzipien feines Syftems. Und es ift auf
alles verfügbaren Materials. Wer Schleiermacher in diefem teleologifchen | der andern Seite die enge Fühlung mit dem Leben, die Schleiermacher
Sinne nicht zu ergänzen vermag, erfüllt den Beruf des Interpreten nur ; aus reichfter perfönlicher Anfchauung gewonnen hat und die, wie allen

halb. Ich glaube, das Schleiermacherfche Idealbild in folgendem Schema
veranfchaulichen zu können.

Die Einheit des Lebens = Ich

Spontaneität das Selbftbewußtfein des Lebens Rezeptivität

Denken, Wollen, a) unmittelbar: als Sinnliche Empfin-

Handeln Gefühl düng; fymbolifch-

religiöfe Anfchau-
'■ ung der ,Reden'

b) mittelbar:

als Selbftbetrachtung
Freiheitsgefühl Abhängigkeitsgefühl

bedingt unbedingt bedingt unbedingt

feinen Arbeiten, fo befonders feiner Didaktik zu Gute gekommen ift.

Berlin. Heinrich Scholz.

Winckler, Sem.-Lehr. Fr.: Robert Pearfall Smith und der
Perfektionismus. (Biblifche Zeit- u. Streitfragen. IX, 12.)
(24 S.) 8°. Berlin-Lichterfelde, E. Runge 1915. M. —50

Das Heftchen ftellt neben eine knappe Darftellung
der evangelifchen .Vollkommenheit' den .ungebunden* Perfektionismus
, feine Wurzeln und Folgen (I) und fchildert
dann kurz und kritifch Smith's Leben (II), fowie die ihm
daraus erwachfene Lehre (III). Damit will es über den
Perfektionismus in befonderer Abzielung auf Smith und
die Heiligungsbewegung Klarheit geben und fo zugleich

Konkretes G o tt es bewußtfein

(= Welt) (— Null) _(-= Welt) (= Gott) der Verftändigung zwifchen Kirche und GemeinfchaftS'

-—~--~~T . „ I bewegung dienen. Das ift für 24 S. reichlich. Die ge-

. ^"i'wn Abftraktes Gottes- j ü kaum zu j wirklich klaren Darfteilung der in

bewußtiein bewußlfem I - P . , 0 ... r , „ , . .. "» Trv-1 111

fich unklaren Smithlchen Gedankengange. Die Bezugnahme
auf die (auch gerade qua Heiligungsbew.) äußerft
komplizierte Gem.-Bew., fpeziell die Kämpfe um die
Zungenbewegung, verwirrt nur, zumal letztere einem anderen
Zweige der Heiligungsbewegung angehört. Wie
foll z. B. ein klares Bild entliehen, wenn die .Geiftes-
taufe* als etwas Einheitliches behandelt wird, während

Ich kann zu diefem Schema hier keinen Text fchreiben. Aber fo
oder ähnlich muß m. E. eine Unterfuchung über die pfychologifchen
Grundlagen der Glaubenslehre fchließen, wenn fie uns wirklich fördern
foll. Daß ein folcher und überhaupt jeder Abfchluß fehlt, ift in meinen
Augen der entfeheidendfte Mangel diefer im einzelnen nicht untüchtigen
Arbeit.

In das Gebiet der Pädagogik führt Rolles Arbeit j fie doch bei Smith das zweite Werk, der Beginn des
über Schleiermachers Didaktik der gelehrten Schule. Ich ' higher life, bei der Zungenbewegung dagegen das dritte,
freue mich, mein Referat mit der Anzeige diefes in der ; dem bereits völlig Geheiligten zu teil werdende Werk
Sammlung der großen Erzieher erfchienenen Buches be- i ift. Ähnlich irreführend ift das über die .consecration'

fchließen zu können; denn es ift ein durch und durch
tüchtiges Buch, dem man nur freudig zuftimmen kann.
Der Verfaffer beherrfcht feinen Stoff vollkommen und
verfügt nicht nur über eine gründliche Schleiermacherkenntnis
, fondern kennt auch die pädagogifche Gefamt-
arbeit des Zeitalters gut und weiß fein Schleiermacherbild
durch lehrreiche Vergleichungen, namentlich mit
Humboldt, ausgezeichnet zu beleben. Die Darftellung
ift fließend und überfichtlich, die Gruppierung des Stoffes
gefchickt.

Die Unterfuchung beginnt mit der Darftellung der Vorausfetzuugen,
auf denen die Schleiermacherfche Didaktik ruht; denn der Verfaffer fieht
mit Recht in der Ableitung der Didaktik aus Schleiermachers Gefamt-
l'yftem eine Hauptaufgabe feiner Arbeit. Die Hauptvorausfetzung ift
Schleiermacher Bildungsideal. Schleiermacher denkt fich die Bildung als
Formung des ganzen vollen Menfchen unter dem doppelten Gefichts-
punkte der Individualität und Sozialität. In der Betonung diefes letzten
Gefichtspunktes unterfcheidet er fich nachdrücklich von Wilhelm von
Humboldt, deffen ariftokratifches Bildungsideal in den Schranken des
Individualismus verbleibt. Nach Schleiermacher hat die Bildungsarbeit
auf alle Fälle nützliche Glieder der menfehlichen Gefellfchaft heranzuziehen
. In der Konfequenz diefes Standpunktes liegt die ebenfalls von
Humboldt verworfene Rückficht auf das künftige Leben des Zöglings und
die hieraus entfpringende Dreiteilung der Schule in Volksfchule, Bürger-
fchule und gelehrte Schule. Humboldt und Süvern haben dagegen an
eine humaniftifche Eiuheitsfchule gedacht. Schleiermacher hat lieh diefem
Ideal fpäter infofern angenähert, als er ftatt der drei felbftandigen Schulen
eine gemeinfame Volks- oder Elementarfchule als Unterbau und dann
einen doppelten Oberbau in Geftalt der Bürger- und gelehrten Schule ins
AUffQ faßte.

Aus dem Schleiermacherfchen Unterrichtsideal der gelehrten Schule
können hier nur einige Hauptpunkte hervorgehoben werden. Bemerkenswert
ift die Abweichung von Humboldt, die in der nachdrücklichen
Schätzung der realen vor den bloß formalen Bildungsfaktoren hervortritt.
Die Humboldtfche Bewertung des altfprachlichen Unterrichts, die auf
der Schätzung der Sprache als Selbftzweck beruht, erfährt damit eine
ftarke Einfchränkung zugunften des modernen Prinzips, wonach die Erlernung
der alten Sprachen lediglich das Mittel ift, um in den Geift des
Altertums einzudringen. Auch die Zentralftellung des Deutfchen ift eine
wichtige Folge aus diefem Prinzip. Dem Religionsunterricht in der Schule
fleht Schleiermacher ziemlich fkeptifch gegenüber; er möchte ihn am
üebften ganz dem Haus und der Kirche vorbehalten. Die tiefere Begründung
diefes auffallenden Standpunktes liegt in der vorhin betonten
Abzweckung des Unterrichts auf Bildung der Fertigkeiten. Religion aber
ift nicht Fertigkeit, fondern fteht auf der Seite der Gefinnung, alfo deffen,
was fich nicht lehren läßt.

(im Heft irrig consekration) bei Smith Gefagte. So fehr
er fie betont, würde er doch nie geleugnet haben, daß
diefelbe wachfen, fich vertiefen und ftändig wiederholen
müffe. In dem Literaturverzeichnis wird von Smith nur
die .Heiligung durch den Glauben' angeführt, fehr vermißt
man auch die Selbftbiographie feiner Frau und ihr
.Glauben und Leben*. Sie wird auch im Text nur erwähnt
, obwohl fie unbeftreitbar die bedeutendere war,
auch in der Lehre. Über die mehrfach erwähnte Zungenbewegung
wird überhaupt keine Literatur angegeben.

Loccum. p. Fleifch.

Wiesbadener kirchenpolitifche Vorträge. Heft III. (76 S.)
gr. 8°. Wiesbaden, H. Staadt 1914. M. 1 —

Inhalt: i. Der freie Protellautismus und die Kultur. Pfr. Lieber
. — 2. Der freie Proteftantismus und das Wirtfchaftsleben. Pfr.
Philippi. — 3. Der freie Proteftantismus und die Gemeinde. Pfr.
Beckmann. — q. Der freie Proteftantismus und die Million. Pfr.
Lueken.

Die Freie Evangelifche Vereinigung bietet hier die
Vorträge des Winters 1913/14 Lieber begründet ohne
befondere neue Gefichtspunkte oder Wendungen die Thefe:
die Religion braucht die Kultur und die Kultur braucht
die Religion, wenn beide lebendig bleiben und leiden
wollen, was fie follen. — Beckmann bekennt fich bei
aller Dankbarkeit für Sülze als .freigefinnten Neulutheraner
', der gegenüber dem Drängen auf kirchliche Orga-
nifation — m. a. W. Gemeindepflege — hofft, daß durch
hinreichend reine und ftarke Wortverkündigung in den
.heiligen natürlichen Lebensordnungen' der rechte Geift
und das rechte Leben fchon erwachen werden; nur fei
,diefe große kirchliche Aufgabe der Evangeliumsverkündigung
' noch nicht ernft genug in Angriff genommen. Wer
die Gefchichte des kirchlichen Lebens in der reformierten
Kirche und feiner Einwirkung auf die Schweftergebiete
kennt, kann zu folchen Seltfamkeiten, felbft bei Anerkennung
des granum salis, nur den Kopf fchütteln; zu-