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Ausgabe:

1915

Spalte:

207-209

Autor/Hrsg.:

Schumann, Friedrich Karl

Titel/Untertitel:

Religion und Wirklichkeit 1915

Rezensent:

Scholz, Heinrich

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20/

Theologifche Literaturzeitung 1915 Nr. 9.

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richten, daß er fich das Verdammungsurteil der luthe-
rifchen Zionswächter zugezogen hat (505. 524). Nichtsdestoweniger
ift die Auseinandersetzung des katholifchen
Dogmatikers mit der proteStantiSchen VerSöhnungslehre
höchSt inftruktiv. Sehr gefchickt weiß der Anwalt der
römiSchen Tradition Sowohl die Härten der proteStantiSchen
Orthodoxie als auch die Mängel einer einSeitigen
Kritik aufzudecken. Im Gegenfatz zu beiden wird die
nach allen Seiten hin maßvoll und befonnen Sich äußernde
katholifche Theologie in das günStigSte Licht gerückt. Die
in ihrer kirchlich Sanktionierten Geftalt gefaßte katholifche
Verföhnungslehre weiß nichts von einer UmStimmung
des durch die Leistung ChriSti beschwichtigten Gottes, nichts
von einem Konflikt zwifchen Gottes Gerechtigkeit und
Liebe, nichts von einer durch Chriftus erduldeten Höllen-
Strafe; andererseits ift auch die rein Subjektive Faffung
der Erlöfungslehre abzuweifen, So daß die in der Tradition
gegebenen Begriffe der Loskaufung, des Opfers und der
Genugtuung überall zu ihrem Rechte kommen (193 — 225,

303 fq-)-

Riviere's Buch Stellt auf dem Boden des katholifchen
Dogmas und innerhalb der demfelben zugewiefenen Grenzen
eine ausgezeichnete Leistung dar. Er verzichtet auf den
Ruhm einer creation doctrinale (XIV); es genügt ihm, die
Grundgedanken feiner Kirche herauszuarbeiten und zur
Geltung zu bringen. Daß er mit dem evolutioniftifch gefaßten
Traditionsprinzip (54. 57. 61. 62) operiert, auf die
doctrine dispersee hinweist, die Sich zu einem bestimmten
Syftem verdichtet (97—98), in dem Schriftgebrauch dog-
matifch gebunden ift (39. 55 u. oft), kann nicht befremden.
Dagegen darf aber rühmend hervorgehoben werden: die
reiche Belefenheit, die nur an einem fchon berührten und
von ihm felbSt bekannten Punkte verfagt; der Scharflinn, den
er in der dogmatifchen Bearbeitung der Grundbegriffe
an den Tag legt; das religiöfe Verständnis, das Sich in
der reichlich herangezogenen und feinfinnig beurteilten as-
ketifchen und homiletifchen Literatur bekundet; die freimütige
Kritik, die er auch an Größen wie Anfelm und
Thomas zu üben Sich nicht Scheut (100. 129. 135 —145.
197 u. öfters). Der Vf. bemüht fich, auch den Gegnern
gerecht zu werden und in feiner Polemik einen höflichen
und vornehmen Ton zu bewahren. Die Scharfe Verurteilung
der religionsgefchichtlichen Richtung (486) über-
fchreitet nicht die von unfern modernen Pofitiven gezeichnete
Linie. Am Schluß feines Kapitels über die
Evolution du liberalisme wagt R. die Äußerung: ,Sieht
man ab von dogmatifchen Lücken, die leicht auszufüllen
find, fo ift öfters mehr religiöfes Leben und echtes Christentum
in diefer oder jener angeblich liberalen Darstellung
als in dem künstlichen Dogmatismus, der Sich lange als
orthodox ausgegeben hat' (496—497).

Das dem Erzbifchof von Albi, Mgr. Mignot, gewidmete
Buch Riviere's ift eine glückliche Durchführung des
auf das Verföhnungswerk ChriSti angewandten, im katholifchen
Geift verstandenen Grundsatzes: Fides quaerens
intellectum (X.).

Straßburg i. E. P. Lobftein.

Schumann, Dr. Frdr. Karl: Religion u. Wirklichkeit. Kri-
tifche Prolegomena zu e. Religionsphilofophie. (VII,
152 S.) gr. 8°. Leipzig, Quelle & Meyer 1913. M. 4.80

Man wird diefes Buch, um ihm gerecht zu werden,
nach feinem Untertitel beurteilen muffen; denn der
Haupttitel verfpricht viel mehr, als die Ausführung hält.
Man erwartet eine Erörterung des religiöfen Wirklich-
keitsanfpruches. Statt deffen wird lediglich gezeigt, daß
die philofophifche Erörterung des religiöfen Problems
fchon bei Erhebung des Tatbestandes den eigentümlichen
Wirklichkeitsanfpruch des religiöfen Erlebniffes
nicht umgehen darf.

Der Verfaffer unterwirft zu diefem Zweck die Positionen
Natorps und Simmeis einer eingehenden und
fcharffinnigen Kritik, und das ganze Buch ift eigentlich
nichts anderes als eine Kritik diefer beiden Standpunkte.
Der Verfaffer hat gerade diefe gewählt, weil fie ihm in
der fubjektiviftifchen Anfaffung und Löfung des religiöfen
Problems für den Kritizismus von heute befonders
charakteriftiich erfcheinen. Darin hat er unzweifelhaft
recht. Auch trifft feine Kritik in den Kern des Problems.
Natorp fucht die Religion bekanntlich dadurch zu .retten',
daß er ihr den Wirklichkeitsanfpruch nimmt. Religion
ift ihm das Gefühl des Unendlichen, das Unendliche
aber das Ungestaltete, das erft in den .Setzungen' des
wiffenfchaftlichen, Sittlichen und künftleriSchen Bewußtseins
Geftalt, das heißt Objektivität gewinnt, und folglich
eine über diefe Setzungen hinausliegende Objektivität
nicht für Sich beanfpruchen kann. Das Eigentümliche
des religiöfen Gefühls ift nun dies, daß es gleichwohl
für fein Unendliches Objektivität beanfprucht. Dies
widerfpricht aber dem Begriff der Objektivität; denn
Objektivität ift Begrenzung des Unbegrenzten oder Gestaltung
des Ungestalteten. Das Ungestaltete als folches
kann nie Objekt, alSo auch nicht objektiv fein. Das
religiöfe Gefühl muß demnach feinen Objektivitätsanfpruch
aufgeben, um wahr zu fein. Denn zum Schein Soll es
nicht herabsinken. Es Soll die wichtige Wahrheit ausdrücken
, daß allen endlichen Gestalten des Bewußtfeins
eine und dieSelbe Unendlichkeit zugrunde liegt; nur daß
diefe Unendlichkeit nie für Sich exiftiert, fondern immer
nur in den Verendlichungen, durch die Sie logifch, ethifch,
äfthetifch, nur nicht fpeziefifch religiös Objekt wird.

Simmel hat das religiöfe Problem in ähnlichem Sinne,
nur ungleich lebendiger behandelt. Er Sieht das Problem
der religiöfen Lage darin, daß durch die Kritik der
neuen Zeit nicht nur die Transfcendenzvorftellung, fondern
der Transfcendenzanfpruch als folcher hinfällig
oder mindestens höchtt problematisch geworden fei. Ift
die Religion damit erledigt? Nein. Man darf Sie nur
nicht mehr als Objektsausfage, fondern muß Sie als eine
eigentümliche Lebensverfaffung interpretieren, als eine
Art des Sehens und Seins, wie die künftlerifche oder
die Sittliche, die ebenfalls nicht als Objektausfagen auftreten
. Dann ift die Religion .gerettet'; denn als eine
bestimmte Art, die Welt und das Leben zu apperzipieren,
ift Sie, wie jede Lebensverfaffung, jenfeit der Grenzen
von wahr und falfch.

Dem hält der Verfaffer mit Nachdruck entgegen,
daß jede Philofophie das religiöfe Phänomen zerftört,
wenn Sie es um den Preis Seines Wirklichkeitsanfpruches
zu .retten' unternimmt. Ich muß ihm darin unbedingt
zuftimmen und finde, daß er Sehr Scharf gefehen hat,
wenn er die Religion diefen Umdeutungen gegenüber
als ein Handeln oder Wirken des Göttlichen auf den
Menfchen beftimmt. Man kann diefen Gottesfaktor
nicht ausfeheiden, ohne das religiöfe Erlebnis um feine
eigentümlichste Bestimmtheit zu bringen; und Rettungen,
die diefe Bestimmtheit opfern, find letztlich Preisgebungen
der Religion. Dem religiöfen Menfchen liegt alles an
jenem andern Element feines Lebens, das nicht er felbft
ift, und das auf rätfelhafte Weife gleichzeitig in ihm,
außer und über ihm ift. Simmeis Deutung ift tief und
Schön, und ich würde Sie Sehr viel höher einfehätzen,
als es durch den Verfaffer gefchieht; denn darin kommt
ihm das Leben zu Hilfe, daß es unzweifelhaft religiöfe
Verfassungen gibt, in denen der Transfcendenzanfpruch
nicht deutlich hervortritt, und in denen er fo Stark verblaffen
kann, daß das erlebende Subjekt ihn nicht mehr
bemerkt. Aber das Steht doch wohl fett, daß diefes
Subjekt, fobald es Sich ernftlich auf feine Religion besinnt
, die Eigenart Seines Zuftandes nur dadurch charakterisieren
kann, daß es von einem Innewerden des Unendlichen
in der Endlichkeit Spricht. Alfo von etwas
Transfcendentem, das irgendwie und auf nicht zu erfet-