Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1915 Nr. 9

Spalte:

200-201

Autor/Hrsg.:

Schultze, Alfred

Titel/Untertitel:

Stadtgemeinde und Kirche im Mittelalter 1915

Rezensent:

Lerche, Otto

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

199 Theologifche Literaturzeitung 1915 Nr. 9. 200

ift doch ein längft beftehendes Ideal, das nur kein Einzelner,
ob Philologe oder Theologe, wegen der Befchränktheit
der Zeit und der Kraft auf weiterem Raum abfolut ver-
wrklichen wird.

Bei H. Koch kommt mir das Urteil im 2. Teil ein
wenig von, bei ihm fehr begreiflicher, Bitterkeit beeinflußt
vor. Oder fage man: die Rückflchtnahme auf die gegenwärtigen
Zuftände" in der Kirche, die bei Schw. tehlt,
ift hier lebendig. Der Byzantinismus und Cäfaropapismus
im vollften Sinne das Werk Konftantins? (S. 36) Wird
da einem Einzelnen nicht zu viel zugemeffen?

Ich mag an diefen beiden Schriften, die nicht bloß
zu belehren, fondern zu erziehen, Geift zu entwickeln und
Gedanken zu erzeugen geeignet find, keine Kleinigkeiten
ausfließen. Nur als Beleg für die Schwierigkeit, bei an-
fcheinend gleichen Forfchungsergebniffen den weltge-
fchichtlichen Ertrag einer Periode in unmißverftändlichen
Formeln zu bewerten, führe ich an, daß Koch S. 30 das
Ergebnis der konftantinifchen Religionspolitik darin fleht,
daß die Maffe in der Kirche immer mehr tonangebend
wird, deren Pfyche von Haus aus heidnifch ift und mei-
ftens auch heidnifch bleibt, und die das Erbe der ab-
fterbenden Antike, Aberglaube und Kritiklofigkeit, in die
fiegreiche Kirche überführt. Schwartz zürnt S. 171, in die
leer gewordene Stelle des altchriftlichen Volkes Gottes,
das fleh heroifch in die Welt flehte, um der Welt Salz
zu fein, fei durch Konftantin das Klofter der Asketen gerückt
, deren blödes Auge in Gottes Erde nichts Bef-
feres zu fehen vermochte als des Teufels Herberge. —
Beide erkennen alfo auf fchwere Korruption, aber fie fliehen
den Schaden doch an fehr verfchiedenen Stellen.
M. E. beide einfeitig: oder follte das altchriftliche Volk
Gottes wirklich, im entgegengefetzten Sinn wie die,blöden'
Asketen, der Welt Salz haben fein wollen? Wie Viele
haben zu diefem ,Volk' gehört?

Marburg. Ad. Jülicher.

Meyer, Prof. Wilh.: Die Preces der mozarabifchen Liturgie.

(Abhandlungen der Kgl. Gefellfchaft der Wiff. zu Göttingen
. Phil.-hift. Kl. N. F. XV. Bd., Nr. 3.) (119 S.)
Lex. 8°. Berlin, Weidmann 1914. M. 8 —

M. gibt in der vorliegenden Arbeit eine genaue text-
kritifche Ausgabe der Preces (Bußlieder), die im Brevi-
arium Gothicum (die Ausgabe von Ortiz gedruckt bei
Peter Hagenbach, Toledo 1502), im Missale Mixtum (Ausgabe
von Ortiz, gedruckt Hagenbach 1500), im Liber
Ordinum (ed. Marius Ferotin 1904), im Ordo post Com-
pleta (befchrieben von Ferotin 1912; die Abfchrift der
Lieder durch Ferotin ftand M. zur Verfügung), in den
Litaniae Canonicae (Handfchriften des Brit. Mus.), im Ordo
ad Nocturnos (verfchiedene Handfchriften) enthalten find.
Als felbftändige Auszüge aus einer urfprünglichen Preces-
fammlung erfcheinen nur die Preces des eigentlichen
Breviers (Nr. I—126 der M.fchen Ausgabe), des Miffale
(Nr. 144—151) und der Londoner Litaniae (170—174).
Den Grund, weshalb er die Herausgabe der in dichterifcher
Beziehung inhaltlich wie formal fehr wenig hochftehenden
Preces — der Ordner des Breviers entnimmt noch dazu
den in der ihm vorliegenden urfprünglichen Sammlung
enthaltenen Preces immer nur 4 Strophen, wodurch der
Zufammenhang des Ganzen übel zerriffen wird — für angezeigt
hält, rindet M. darin, daß in ihnen das für die
dichterifche Entwicklung des frühen Mittelalters wichtige
Element der Strophenfindung zur Geltung kommt. Im
Verhältnis zu der Strophik der Sequenzen charakterifiert
fleh die der Bußlieder dahin, daß bei den Sequenzen immer
neu gefügte Strophenpaare zufammengeftellt werden,
während die Bußlieder, fbweit fie nicht bloß aus einzelnen
kurzen Sätzen beftehen, lediglich gleichftrophifch find,
alfo fehr viel weniger Kunft des Strophenbaus aufweifen.
Eine Parallelentwicklung auf fpanifchem und fränkifchem

Boden erfcheint M. höchft unwahrfcheinlich. Er vermutet
vielmehr, daß die Strophen der Bußlieder von einem
Spanier des 10. Jahrh. unter dem Einfluß der feit Ende
des 9. Jahrh. (Notker) jenfeits der Pyrenäen aufblühenden
Strophendichtung, aber mit der erwähnten Minderung
ftrophifcher Kunft, gefchaffen worden find. Die Zahl
fcheint befchränkt gewefen zu fein; auch fcheint das Verfahren
in Spanien keine weitere Verbreitung gefunden zu
haben. (Vgl. auch die Mitteilungen M.s in Nachrichten
der Göttinger Gefellfchaft der Wiffenfchaften 1913, S. 1776".:
Über die rhythmifchen Preces der mozarabifchen Liturgie.)

Halle a. S. K. Eger.

Schultze, Alfred: Stadtgemeinde und Kirche im Mittelalter.

Ein Beitrag. Sonderabdruck aus der Feftfchrift f. Dr.
Rudolph Sohm. (S. 103—142.) gr. 8°. München,
Duncker & Humblot 1914. M. 1 —

Diefe lehrreiche Studie zerfällt in vier Abfchnitte,
deren erfter den Stand der Forfchung darlegt und darauf
hinweift, daß hier nicht behandelt werden follen die Fragen,
die in letzter Zeit in befonders ftarkem Maße Gegenftand
der Erörterung gewefen find wie die ftädtifche Amorti-
fationsgefetzgebung, die Maßregeln zur Einfchränkung der
kirchlichen Steuerfreiheit, zum Schutze von Handel und
Handwerk gegen die geiftliche Konkurrenz und vor allem
die Zurückdrängung der kirchlichen zu gunften der weltlichen
Gerichtsbarkeit. S. wendet fich zu ganz eigentlich
dem Gemeindeproblem im mittelalterlichen Kirchenrecht
und befchäftigt fich im erften Abfchnitt eingehend mit
der Rechtsform der verfchiedenen geiftlichen Stiftungen,
die dem weltlichen Faktor in der Verwaltung der Kirche
fchließlich einen fo entfcheidungsvollen Platz eingeräumt,
haben. S. verfolgt da vielfach die von Heepe in feiner
auch hier gebührend gewürdigten Arbeit über die Orga-
nifation der Altarpfründen in der Stadt Braunfchweig
gangbar gemachten Pfade, fleht aber den letzten Grund
der fchließlichen Kirchenregierung durch den Rat nicht
in einer kanonifchen Patronatsherrlichkeit noch in einer
deutfehrechtlichen Eigenkirchengerechtfame. Das Verhältnis
der Seelgerätftifter zum Rat dem Kirchherrn
gegenüber will S. als ein privatrechtliches aufgefaßt wiffen:
Der Rat ift Treuhänder, vielfach Obertreuhänder. ,Diefe
Ratstreuhänderfchaften bei den Meß- und Pfründftiftungen
begegnen ja oftmals auch da, wo von einem Eigentum
oder Patronat der Stadt an der Kirche, zu welcher der
Altar gehört, keine Rede ift. Nachwirkende eigenkirchliche
Gedanken — fo viel ließe fich höchftens behaupten
— mögen dabei Pate geftanden haben'. Die ,Seelgerät-
treuhänderfchaft' des Rates gab ihm eine dem Kirchherrn
und dem Bifchof wie auch den Pfründenftiftern gegenüber
gleicherweife fehr wefentliche kirchenregimentliche
Stellung, die in der Zeit der Reformation von weittragend-
fter Bedeutung wurde. Als ein zweites wefentliches
Moment des Gemeindeproblems ftellt S. im dritten Abfchnitt
die Kirchenproviforen dar. Gelegentlich der Be-
fprechung von Heepes Arbeit (f. ThZg. 1914, Sp. 540)
habe ich auf die Wichtigkeit und verfaffungstreibende
Kraft diefes Inftituts hingewiefen. Schultze gibt meiner
Meinung über die Bedeutung der Proviforen Recht; aber
auch darnach bedürfen wir hier weiterer Aufklärung und
der Publikation weiterer Quellen. Mit feinem letzten Abfchnitt
berührt S. die Auffichtsbefugnis des Rates über
die Geiftlichkeit in Einzelheiten: er kontrolliert die Erfüllung
ihrer Pflichten, ihren Lebenswandel, ihre Refidenz,
forgt dafür, daß die Pfründenträger fich zu Prieftern weihen
laffen und daß den vom Stifter geftellten Bedingungen
Genüge gefchieht. Auch darin fand der Rat nur zu leicht
einen Grund zum Eingreifen und eine Handhabe, die neue
Lehre einzuführen. Mir will fcheinen, als ob der von
Heepe auf die große Schicht von 1374 in Braunfchweig