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Ausgabe:

1915 Nr. 8

Spalte:

184-185

Autor/Hrsg.:

Kerler, Dietrich Heinrich

Titel/Untertitel:

Jenseits von Optimismus und Pessimismus 1915

Rezensent:

Thimme, Wilhelm

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183

Theologifche Literaturzeitung 1915 Nr. 8.

184

demnächft noch einen Auffatz von Graß mit einer
weiteren Unterfuchung über die Perfon des Seiiwanow,
feinen wirklichen Namen und feine Anfänge bringen.

Halle. F. Kattenbufch.

Beck, weil. Prof. D. J. T.: Treu und frei. Zwifchenreden aus
den Vorlefgn. über Glaubenslehre. Redigiert v. Paft.
Robert Pries. (298 S.) 8°. Gütersloh, C. Bertelsmann
1915. M. 4 — ; geb. M. 4.50

,Aus der Jugendzeit klingt ein Lied' wohl manchem
durch die Seele, der zu diefem Buche greift. Man ift
wieder in Becks großem Hörfaal, im Kreis der Kommilitonen
aller deutfchen Zungen, ,dictante spiritu', bis das
Diktat unterbrochen wird eben durch diefe ,Expauken'.
Und gerade durch fie war es nicht nur ein Diktat, auch
in jener Zeit, die das Wort Schleiermachers von der Erfindung
der Buchdruckerkunft auf hohen Schulen weithin
vergeffen hatte. Zwar auch das Diktat felbft hatte
bei Beck etwas Perfönlicheres; in dem verhaltenen, faft
trockenen Ton lag die Seele, die der Vortragende in langer
Morgenarbeit neu in die alten Hefte, fie treulich durcharbeitend
, gelegt hatte. Aber ohne die Zwifchenreden
wären Becks Vorlefungen doch nicht gewefen, was fie
vielen wurden, Stunden perfönlicher Erhebung und namentlich
, worüber immer gehandelt wurde, ethifcher Anfaffung.
Freilich, für manchen felbftändigen Hörer auch eine harte
Probe, z. B. wenn in der erften Stunde der Paftoralbriefe
bei einer Viertelftunde zu dem Wort .apostolos' Beck über
die Sünden der heutigen Miffion fprach. Doch war das
Ausnahme. Gerade die kurzen, aus langer Meditation
über den Text in feinem Verhältnis zu den Problemen
der Gegenwart hervorgegangenen, aber im Moment formulierten
und von der Berührung mit den jugendlichen
Herzen erwärmten Worte zogen auch folche in den per-
fönlichen Einfluß Becks, die rein theologifch ihm ihrer
ganzen Art nach ferner bleiben mußten.

Der Herr Herausgeber hat vor vierzig Jahren an jener
für viele erinnerungsreichen Stätte des botanifchen Gartens,
an der die Zuhörer ihren Lehrer zu gemeinfamem Spaziergang
zu treffen pflegten, die Erlaubnis zur Herausgabe
der vorliegenden Blätter erhalten. Er befchränkt fleh auf
die ,Zwifchenreden' der dogmatifchen Vorlefung, während
die aus der Ethik fchon früher veröffentlicht find und ,die
Gedanken aus und nach der Schrift' gleichfalls manches
der Art enthalten. Zum Teil wohl noch bedeutfamere
Stücke; aber zum ,ganzen Beck' gehören die jetzt herausgekommenen
zweifellos. Die gewiffenhafte Erfaffung feiner
Aufgabe, von welcher das Vorwort zeugt, hat der Herr
Herausgeber fichtlich überall bewährt; vielleicht mag da
oder dort ein fcharfes Wort Becks eher zu viel als zu
wenig gemildert fein, und einzelnes hätte auch wegbleiben
können. Man mag fleh wundern, daß auf eine Sachordnung
ganz verzichtet ift. Andrerfeits wird dadurch
der Lefer weniger voreingenommen, und wahrfcheinlich
wollte der Herr Herausgeber zu einer ftillen Betrachtung
gerade der einzelnen Worte, fozufagen nach Art eines
täglichen Kalenders oder Lofungsbuchs, anleiten.

Eine allgemeinere Betrachtung legt fleh wohl unwillkürlich
nicht nur dem rückwärtsfehauenden einfügen Hörer
folcher ,Zwifchenreden' nahe, fondern auch dem unbefangenen
Lefer, mag er für fleh felbft in Bezug auf ihren
Inhalt wie ihre Form mehr den Abftand oder die Verwandt-
fchaft empfinden. J. T. Beck lehrte neben F. Chr. Baur,
fpäter Weizfäcker, und neben Männern wie Landerer, Ohler,
Palmer. Zwifchen ihnen allen beftand mehr als eine nur
achtungsvolle Kollegialität, nämlich weithin ein Gefühl der
Zufammengehörigkeit bei voller Erkenntnis der fehr großen
Verfchiedenheit. Ja noch mehr. In C. Weizfäckers ,Lehrer
und Unterricht an der ev. theol. Fakultät' (1877) lefen wir
S. 164: ,So kam es denn doch, wefentlich durch Baurs
Bemühungen, zu der Berufung Becks'; das Gutachten hob

,neben feinem wiffenfehaftlichen Sinn die Originalität und
Selbftändigkeit' hervor. Weder die theologifche Jugend
noch die Landeskirche ift dabei fchlecht gefahren, letztere
auch nicht durch die rückhaltlofe Offenheit, die Becks
Kritik gerade nach ,rechts' übte. Neben der völligen Einheit
von Theologie und Charakter hatte das feinen Grund
wefentlich darin, daß Beck jeder Gedanke an Kirchenpolitik
fern lag. Davon legt in ihrer Art wieder die neue
Veröffentlichung Zeugnis ab.

Tübingen. Th. Haering.

Kerl er, Dietrich Heinrich: Jenfeits von Optimismus und
Pedimismus. Verfuch einer Deutg. des Lebens aus
den Tatfachen e. imperfonaliftifchen Ethik. (VI, 213 S.)
gr. 8°. Ulm, H. Kerler 1914. M. 5 —; geb. M. 6.50

Sicherlich ein intereffantes Buch, feffelnd durch Klarheit
und Kraft des Ausdrucks und durch konfequente,
ja trotzige, rückfichtslos einfeitige Gedankenführung, dabei
Anregungen mancherlei Art ausftreuend und von
achtungswerter Belefenheit und Vertiefung in die philo-
fophifch-ethifche Literatur der Gegenwart zeugend. Freilich
, viel Zuftimmung wird es fchwerlich finden, und, wie
mir fcheint, werden auch manche von denen, die vielleicht
die Kraft befäßen, ihm in die Eisregion des radikalen
ethifchen Idealismus nachzuklimmen, die Gefolgfchaft
verweigern, und das aus guten Gründen.

K. ift ein Todfeind alles Eudämonismus oder ,Per-
fonalismus', der, wenn wir ihm glauben dürfen, alle bisherige
Lebensanfchauung, wenn nicht geradezu verdorben,
fo doch mehr oder weniger ftark infiziert hat. Fenelon,
allenfalls auch Kant und Fichte, unter den Neueren vor
allem Cohen, nähern fleh wenigftens feinem Standpunkt.
Nach einer kurzen und fcharfen Kritik des Individual-
und Sozial-Eudämonismus ftellt K. den Grundfatz feiner
imperfonaliftifchen Ethik auf. Es ift der Grundfatz der
abfoluten Selbftlofigkeit, die fich weder um eigenes, noch
um fremdes Glück im minderten kümmert, die nicht etwa
Liebe zum Nächften, fondern zum Ideal ift. Das Ideal,
das, formal betrachtet, fich in der Forderung völliger Hingabe
und Selbftlofigkeit ausfpricht, wird inhaltlich als
geiftiges Kulturideal befchrieben und zerfällt in eine Drei-
heit edler Ziele: Kunft, Wiffenfchaft, Perfönlichkeit. Diefe
Idealfetzung mutet uns etwas willkürlich an. Manche
Einfeitigkeiten hätten m. E. vermieden werden können,
wenn K. beispielsweife auch das Ideal eines Staates, in
dem Ordnung, Freiheit, Gerechtigkeit herrfchen, oder das
Ideal der Unterwerfung der Natur unter den Menfchen-
geift anerkannt hätte, wobei dem Eudämonismus keine
Zugeftändniffe hätten gemacht werden müffen. Allerdings
kann man zweifelhaft fein, ob, wenn man überhaupt außer
dem ethifchen Subjektwert auch einen Objektwert zugibt,
der auf dem elementaren Idealwertgefühl beruht, man
dann dem verhaßten Eudämonismus nicht doch ein weites
Tor öffnet. Jedenfalls aber ift der Verfuch mißglückt,
die wichtigften Inhalte der Ethik aus der bloßen Form
des Sittlichen abzuleiten (fo S. 121); denn weder ift das
Gebot der Selbftlofigkeit, wie behauptet wird, rein formal,
noch ift es möglich, aus ihm das geiftige Kulturideal
analytifch zu entwickeln.

Kann man dem Verf. bis dahin noch in vielen Punkten
zuftimmen, fo muß doch an dem Punkte der fchärffte
Proteft einfetzen, wo feine .imperfonaliftifche' Ethik in
eine imperfonaliftifche Lebensanfchauung übergeht. K.
macht fich hier, wie mir fcheint, des naivften Dogmatismus
fchuldig. Er dekretiert einfach, daß die in feinem
Sinne verftandene Sittlichkeit einziger Sinn und Wert
des Lebens fei. Aber warum? Weil, fagt er, jeder Moment
des Lebens unter der fittlichen Norm fleht (S. 34ff).
Das ift wohl richtig, aber kann nicht derfelbe Augenblick
unter verfchiedenen Normen flehen, von mehr als
einem Gefichtspunkt aus betrachtet werden ? Wenn in der