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Ausgabe:

1915 Nr. 8

Spalte:

180-183

Autor/Hrsg.:

Graß, Karl Konrad

Titel/Untertitel:

Die russischen Sekten. 2. Bd., 2. Hälfte 1915

Rezensent:

Kattenbusch, Ferdinand

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179

Theologifche Literaturzeitung 1915 Nr. 8.

180

Matthis Pfarrer, hierauf die drei hervorragendften Straßburger
Theologen Wolfgang Capito, Bucer, Hedio (2 Bilder)
und Frau Wibrandis, die Gattin Okolampads, Capitos und
Bucers, Otto Brunfels, der Humanift und Lehrer, Joh.
Sturm, der Schulrektor, und endlich Joh. Marbach, Prediger
und Profeffor, der letzte Schüler der Wittenberger Reformatoren
in Straßburg. Im Text findet fich ein Bild von
Matthäus Zell auf dem Totenbett und fein darnach ins
Leben überfetztes Bild. Die Abbildungen find vortrefflich
gefertigt und machen auch dem Verleger Ehre. In
dem vorausgefchickten Text gibt Ficker einen Überblick
über den Stand der reformatorifchen Ikonographie einft
und jetzt, unterfucht dann die Entftehung der auf den
Tafeln wiedergegebenen Bilder und weift ihre Urheber
nach.

Sind fie lange nicht alle bei Lebenszeit entbanden und ift das von
Wolfgang Capito gar erft im 17. Jahrhundert von Peter Aubry geftochen,
fo kann doch gerade von ihm der Pfarrer an Jung St. Peter Elias Kolb
bezeugen, es fei ad vivum Capitonis imago. Der Künfller muß alfo eine
gute alte Vorlage gehabt haben. Ift es F. gelungen, felbft für diefes
P.ild die Lebenswahrheit nachzuweifen, fo noch vielmehr für die andern
Bilder. Namentlich der Vergleich der Medaillonbilder Bucers, Hedios
und Joh. Sturms von Fr. Hagenauer Tafel I und der auf den folgenden
Tafeln gegebenen größeren Bilder überzeugt davon. Mag man es bedauern
, daß ein Baidung, Wechtlin und Weiditz nicht mehr Bilder ihrer
großen ZeitgenofTen gefchaffen haben, und fich bis jetzt nur die von
Kniebis und Hedio als Werk llaldungs, das von Otto Brunfels als Werk
von Weiditz nachweifen läßt, wir freuen uns, daß wir nun durch Ficker
die Gewißheit haben, daß wir hier die großen Männer der Straßburger
Reformation vor uns haben, und daß er ein Werk mit fämtlichen Porträts
des Keformationsjahrhunderts in Ausficht ftellt. Schmerzlich ift, daß fich
neben Wibrandis nicht auch ein Bild der bedeutendften Frau des Straßburger
Reformalorenkreifes. der Katharina Zell, bis jetzt naehweifen ließ,
aber es ift doch zu hoffen, daß die Liebe und Achtung ihrer Freunde
für eine Erhaltung ihres Gedächtniffes im Bild geforgt hat und fich ein
folches noch finden läßt.

Zum Wertvollften der ganzen Abhandlung für den
Reformationshiftoriker und Biographen gehört die Schilderung
des Eindrucks, welchen die Bilder vom Äußern
und Innern der dargeftellten Geftalten auf den Befchauer
machen. Man vergleiche z. B., was S. 9 ff. über Jakob
Sturm gefagt ift. Ganz hervorragend ift die Charakte-
riftik Bucers S. I4ff., an der niemand, der fich mit dem
Mann befchäftigt, vorbeigehen kann. Wohltuend ift auch
die Schilderung Joh. Marbachs S. 16, die in ihrer Kürze
hier als eine Probe von Fickers Charakterzeichnung eine
Stelle finden mag. ,Ein Kopf von eindringlicher Sprache:
die überaus großen Augen, die ftark gebogene Nafe, der
übervolle Mund, breite Züge, fo wie die feiner Hand-
fchrift, ftarke Affekte fprechen hier, aber nicht von grobem
Eifer, fondern von Überlegenheit, von praktifcher Sicherheit
, von unbeugfamem Zielverfolgen, das auch warten
kann. Von Herrfchaft redet dies Bild des Leiters der
Straßburger Kirche.'

Das befte Kennzeichen der Gediegenheit einer wiffen-
fchaftlichen Arbeit ift die Anregung weiterer Forfchung.
Das tut Ficker mit den Straßburger Bildern. Sein Wort
S. 7: ,Das Bildnis der reformatorifchen Zeit hat bei weitem
noch nicht wieder die aufmerkfame und geordnete Pflege
gefunden, die es einft gehabt hat', kann nicht ungehört
verhallen. Ref. weiß, was für große Opfer an Zeit, Mühe
und Geld die vergebliche Nachforfchung nach Bildern der
beiden fchwäbifchen Reformatoren Joh. Lachmanns in
Heilbronn und Jak. Otters in Eßlingen gekoftet hat.
Andere mögen ähnliche Erfahrungen gemacht haben.
Für das kommende Reformationsjubiläum wäre eine kurze
Zufammenftellung fämtlicher Reformatorenbilder mit den
Fundorten und wohl auch mit den Urbebern eine ebenfo
erwünfchte Gabe, wie die durch das Jubiläum von 1817
ins Leben gerufenen im Reformationsalmanach.

Stuttgart. G. Bo ffert.

raß, Prof. Karl Konrad: Die rullilchen Sekten. 2. Bd.

Die Weißen Tauben oder Skopzen, nebft Geiftlichen
Skopzen, Neufkopzen u. a. Mit dem Bilde des Stifters.
(2. Hälfte.) (XI u. S. 449—1016.) gr. 8°. Leipzig,
J. C. Hinrichs 1914. M. 14.50;

2. Bd. vollftändig M. 23—; geb. M. 24.50;
1. u. 2. Bd. M. 36—; geb. M. 41—

Die erfte Hälfte diefes Bandes erfchien 1909 und
wurde von mir in der Th. Litz. 1910, Nr. 4 angezeigt.
Erft nach vier Jahren konnte die zweite Hälfte geliefert
werden, da der Stoff gar zu groß war. Nach ihrem Er-
| fcheinen hat die Hallefche theologifche Fakultät den Ver-
faffer zum Ehrendoktor ernannt. Graß hat es fachlich
auf Vollftändigkeit in dem Berichte abgefehen, natürlich
foweit er zuverläffige Quellen erreichen konnte. Für die
Gefchichte, fpeziell die Ausbreitung der Sekte, blieben
auch ihm manche, vielleicht viele Quellen unzugänglich.
Denn die Prozeßakten, um die es fich dabei handelt,
fämtlich zu erlangen, war einfach unmöglich. Die Sekte
ift fo weit verbreitet, daß es endlos geworden wäre, alle
Gerichtsverhandlungen bezüglich ihrer aufzufpüren. G.
'1 hat fich mit Recht an die fchon gedruckten gehalten und
diefe nur fachlich vollftändig ausgebeutet. In der vorliegenden
,2. Hälfte' handelt es fich in § 3, dem Schluß
des ,1. Teils', wo der Druck einfetzt (S. 449—576), um
Akten von mehr als einem Dutzend großer Prozeffe,
die in den verfchiedenften Teilen des Reiches geführt
worden find. Am intereffanteften ift mir der Plotizünfche
in Morfchansk und eine zufammenhängende Reihe von
Prozeffen in Moskau gewefen. G. beleuchtet Akten aus
der Zeit von 1833 bis 1909. Das Skopzentum hat auch
einen Abfenker nach Rumänien getrieben (bleibt freilich
dort auf Ruffen befchränkt). In Rußland hat es auch
die lutherifchen Finnen ergriffen. Die Akten des auf
fie bezüglichen Prozeffes, 1898—1900, geben vieles zu
denken. Als Lutheraner find die finnifchen Skopzen vor
Gericht ehrlicher, man mag geradezu fagen: überzeugungstreuer
, leidenswilliger, als die Glieder der Sekte,
die aus den Ruffen, der orthodoxen Kirche und anderen
Sekten, gewonnen werden. Wenn die Prozeffe mit einer
Verurteilung endeten, fo war die Strafe faft immer Deportation
, anfänglich in den Kaukafus, fpäter und jetzt
ausfchließlich nach Sibirien, und zwar feit 1835 fo, daß
fie dort nur noch in beftimmten öden, menfchenarmen
Diftrikten als Kolonien angefiedelt worden find. Nach
einiger Unficherheit ift das Gebiet bei Jakutsk in Oft-
fibirien dafür gewählt worden. Eine Statiftik von 1905
gibt ihre Zahl dort auf 2600 Köpfe an. G. hält diefe
Berechnung für zu niedrig. Da die Skopzen fich durch
Nüchternheit, Arbeitfamkeit und Unternehmungsgeift auszeichnen
, auch aufs engfte zufammenhalten (Geld aus
ihrem Kreife möglichft nicht mehr herauslaffen), fo ift
ihre ökonomifche Lage eine gute. Sie find die bellen
Ackerbauer, Gemüfegärtner, Handwerker. Die am 17. April
1905 proklamierte Glaubensfreiheit (von der fie freilich
als ,verbrecherifche' Sekte nach dem zarifchen Ukas aus-
gefchloffen fein feilten) machten fie fich zu möglichfter
Propaganda zu Nutze, und die Regierung war jahrelang
durch die Revolution viel zu fehr in Anfpruch genommen,
um fich um fie viel zu kümmern. In Sibirien exiftierten
fie gewiffermaßen felbftverftändlich mit Duldung. Im
europäifchen Rußland waren und blieben fie trotz der
Prozeffe und Verfchickungen allenthalben verbreitet und
gewannen im geheimen ftets neue Opfer. Die Akten
darüber find grauenhaft. Wie es fcheint, find die Weiber
die wichtigften Träger der Propaganda. Der Asketismus
, gepaart mit Graufamkeit, liegt dem Ruffen im Blute
Nicht minder die Neigung zur Geheimbündelei. Die Ar-
kandisziplin mit der die Skopzen ihr Treiben umhegen
macht fie vielen vollends anziehend. In Europa fcheinen
fie große Reichtümer gefammelt zu haben. Mehr als ein-