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Ausgabe:

1914 Nr. 3

Spalte:

79-80

Autor/Hrsg.:

Schneider, Hermann

Titel/Untertitel:

„Das Märchen“, eine neu aufgeschlossene Urkunde zu Goethes Weltanschauung. 1. u. 2. Aufl 1914

Rezensent:

Sell, Karl

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Theologifche Literaturzeitung 1914 Nr. 3.

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lichkeit ausgezeichnete Darfteilung des Verhaltens der
Geiftlichen, Adligen und Bürger und Bauern beim Eindringen
der Reformation: /Eine rechte ftarke Flamme
der Begeifterung für Gottes Wort und Luthers Lehre ift
durch die hiefige Gegend damals nicht gegangen, das ift
der Eindruck, den man aus faft allen Schriften der damaligen
Zeit gewinnt' (S. 40).

Eine der Hauptquellen T.s, das Kaffabucli der Barbara von der
Sahla geb. von Metzfeh auf Schönfeld, nach dem Tode ihres Gatten
Hofmeifterin der verwitweten Herzogin Zedena, Großmutter der .linken
Landgräfin' Margareta v. d. S., verdiente meiner Meinung nach voll-
ftändig veröffentlicht zu werden. Es enthält u. a. alle Ausgaben und
Stiftungen, die Barbara v. d. S. beim Tode ihres Gatten Georg 1494
machte. Sie verfchlaugen mehr alseinejahreseinnahmedesftattlichen Ritterguts
Schönfeld! Zu S. 36: ,Dreißigfle'=Seelenmeffe am 30. Tage nach dem
Begräbnis vgl. etwa Franz, die Meffe in deutfehen Mittelalter (1902),
S. 234, Schade Satiren und Pasquille II 255, 19. 262,22, Eberliu v.
Günzburg hrsgeg. v. Enders I 216, Joh. Keßler, Sabbata, St. Gallen
1902, S. 539.

Zwickau i. S. O. Clemen.

Schneider, Prof. Dr. Hermann: ,Das Mährchen', eine neu
aufgeichloliene Urkunde zu Goethes Weltanichauung. i. u.

2. Aufl. (98 S.) 8°. Leipzig, J. C. Hinrichs 1911.

M. 1.50; kart. M. 2 —

Das Märchen, diefes wertvollfte und zugleich Schluß-
ftück der .Unterhaltungen deutfeher Ausgewanderten', die
Goethe 1795 zu Schillers Hören beifteuerte und mit dem
er die bedeutendften Köpfe feiner Umgebung bezauberte,
birgt nach den Erklärungen des Dichters felbft einen
tieferen Sinn. Welchen? Dem Prinzen Auguft von
Gotha fchrieb Goethe 1795, daß er feine .Auslegung' nicht
eher herauszugeben gedenke, als bis er 99 Vorgänger vor
fleh fehen werde. So hat er des Rätfels Löfung niemals
verraten und die Zahl der Auslegungen, von denen dem
Referenten beiläufig einige zwanzig bekannt find (vgl.
darüber F. Meyer von Waldeck, Goethes Märchendichtungen
1879, mit der Tabelle über 17 Deutungen der
Perfonen des Märchens) wird ins Endlofe gehen, fo lange
das Rätfellöfen ein Spiel phantafievoller Köpfe ift. Die
Deutungen zerfallen in zwei Gruppen. Die Einen fuchen
hinter den Märchenfiguren, gut verfteckt, beftimmte Perfonen
aus Goethes Umgebung mit ihren Verhältniffen
Schickfalen und Charakteren, alfo wefentlich Weimarifchen
Inhalt, wie er fich ja, nebenbei gefagt, in faft allen Dichtungen
der klaffifchen Zeit findet. Die Anderen gewahren darin
eine Allegorie auf die damalige politifche, vaterländifche,
foziale Gegenwart mit befonderer Beziehung auf die
franzöfifche Revolution und ihre Wirkungen. So hat
Baumgart in der Zeit der Errichtung des deutfehen Reiches
ein politifch nationales Glaubensbekenntnis des Dichters
darin gefunden, eine patriotifche Weisfagung auf das
kommende Reich, das die deutfehe Nation aus ihren
eigenften edlen Kräften erbauen werde.

In neuer, fubjektiver Wendung fchließt fich der gleichen
Methode der Zurückführung aller Figuren auf die Verbildlichung
geiftiger Potenzen die gegenwärtige kleine
Schrift bedeutungsvoll an.

Sie geht davon aus, daß Goethe der große Lyriker,
der die ganze Welt von Innen aus anfleht, auch die Natur,
(— anders wie Dante der Epiker und Shakefpeare der
Dramatiker, die immer in ihrer Dichtung das Ganze der
Welt verkörpern —) in diefer Märchendichtung feines reifen
Alters von fich, von feinem innerften Erlebnis fprechen
werde. So ergibt fich mittels einer bis ins Einzelne
gehenden höchft inftruktiven Kunft der Deutung, die
man felber nachlefen muß, da hier alles auf die feinen
Einzelzüge ankommt, daß die Kantifche Philofophie
und Goethes Verhältnis zu ihr der Kern ift, von dem
Goethe 1809 zu Riemer fagte: ,Es fühlt ein jeder, daß noch
etwas darin fteckt, er weiß nur nicht was'.

Gibt man zu, daß das anmutige kleine Kunftwerk, von
dem Goethe felbft an Carlyle fchrieb (S. 96) ,es fei ein
Kunftftück, das zum zweiten Mal fchwerlich gelingen

I würde', einedurchgeführte Allegoriefeinfolie, fodürfte
die fo geiftvoll begründete Deutung nicht für unmöglich
gelten. Und vielleicht würde Referent von diefem Stand-
j punkt aus ihr leichter zuftimmen als anderen Löfungen.
(Die ihm bekannte letzte in Bielfchowskys Goethe-Biographie
.) Aber ihm fcheint die von M. Morris Goethe-Studien
II durchgeführte parabolifche Deutung der dichte-
rifchen Art Goethes beffer zu entfprechen. Danach
fchwebte dem Dichter, der zunächft ein in fich gefchloffenes
j Märchen erfindet, bei allen einzelnen menfehlichen Figuren
des Phantafiefpiels beftimmte Perfönlichkeiten feiner Umgebung
vor, nicht zum wenigften er felbft und feine Chri-
ftiane, der Herzog Karl Auguft und die Herzogin Luhe
ufw. Die Spannungen und Konflikte diefer Perfön-
I lichkeiten werden weisfagend in einer heiteren Weife auf-
I gelöft in eine allgemeine Harmonie, an der ein beglücktes
I Volk dankbaren Anteil nimmt. — Aber es macht trotz-
! dem Vergnügen, unter Anleitung des philofophifchen Ver-
faffers das Märchengebilde fich in ein Transparent der
tieffinnigften kantifchen Ideen verwandeln zu fehen, mit
deren Verwirklichung das Reich der Vernunft und des
Friedens auf Erden erfcheinen würde.

Bonn. Karl Seil.

Feigel, Lic. Dr. Friedrich Karl: Der franzöfifche Neokritizis-
mus u. feine religionsphilofophifchen Folgerungen. (VII,
163 S.) gr. 8°. Tübingen, J. C. B. Mohr 1913. M. 4.60

Eine recht tüchtige, auf umfaffender und gründlicher
Quellenforfchung beruhende Arbeit über das eigenartige
philofophifche Syftem Charles Renouvier's, das der Verf.
in feinen Grundzügen und in feinen religionsphilofophifchen
Folgerungen darftellt und würdigt.

In feiner Einleitung skizziert Feigel die perfönliche
Entwicklung des am 1. Januar 1815 zu Montpellier geborenen
Denkers. Mit dem Beginn feiner philofophifchen
Studien in feinem 17. Jahr faßt er eine gründliche, zeitlebens
bewahrte Verachtung des offiziellen charakterlofen
Eklektizismus V. Cousin's. Wie bei dem 17 Jahre vor
ihm auch in Montpellier geborenen Auguft Comte, bilden
Saint-Simonismus und Mathematik die bewegenden Kräfte
feiner erften Entwicklung. Seine erften Schriften bewegen
fich ganz auf dem Boden der kartefianifchen Evidenztheorie
. Die 1850 in feinem Denken vollzogene Umwälzung
führt ihn vom Rationalismus Descartes' zum ,Neo-
kritizismus', der im .Perfonalismus' feine letzte Ausprägung
findet. — Aus dem langer intenfiver Gedankenarbeit gewidmeten
Leben des originellen Denkers, der nie ein
offizielles Lehramt bekleidete, werden von F. mit Recht
einige bedeutfame Punkte hervorgehoben: die am Ende
der vierziger Jahre verfuchte, durch Louis Napoleon's
Staatsftreich gewaltfam unterbrochene politifcheBetätigung;
der beftimmende Einfluß feines Jugendfreundes Lequier,
der den Zufammenhang von Freiheit und Wahrheit auf
die Formel brachte ,die Freiheit ift das Prinzip der Erkenntnis
'; das ethifche Intereffe, das ihn gegen alle panthe-
iftifchen Regungen feiete; fein erbitterter, nach feinem
Geftändnis mit einem kläglichen Mißerfolg endender
Kampf gegen den Katholizismus; die wachfende Ver-
einfamung feines Lebens, deren ruhige und ftrenge Regelmäßigkeit
in mancher Hinficht an Kant's Leben erinnert.
Daß F. in diefer Lebensfkizze der Beziehungen Renouvier's
zu Charles Secretan nicht gedenkt, ift aus einem fogleich
anzugebenden Grunde zu bedauern. Renouvier ftarb am
1. September 1903. Das Schickfal der Philofophie und
das Schickfal der Demokratie waren feine letzten Sorgen.
Dem tapferen Denker bedeutete die Philofophie wahrhaftig
eine oeuvre personnelle im höchften Sinne, wie er
es in einer charakteriftifchen Äußerung bezeugte: ,La
vraie philosophie serait celle qui nous apprendrait ä vivre
et ä mourir'.

In fünf Abfchnitten.Phänomenalismus und Apriorismus
(9—28), ,Der Satz des Widerspruchs und die Ablehnung