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Ausgabe:

1914 Nr. 2

Spalte:

53-55

Autor/Hrsg.:

Stern, William

Titel/Untertitel:

Die differentielle Psychologie in ihren methodischen Grundlagen. An Stelle einer 2. Aufl. des Buches: Über Psychologie der individuellen Differenzen 1914

Rezensent:

Wobbermin, Georg

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Theologifche Literaturzeitung 1914 Nr. 2.

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Zitat an Zitat, hin und wieder dazwifchen ein Ton individuelleren
Denkens, aber als ein Bruchftück und los-
gelöft aus dem Gefamtzufammenhang der Gedankenwelt
des betreffenden Denkers einfach dazwifchen geftreut.
Grade diefes in der Hauptfache eben doch vielftimrnige
Unifono dürfte aber als die befondere Freude des katho-
lifchen Lefers gemeint fein. Freilich der anders orientierte
Lefer erfchrickt über diefen Geiftesmangel bei fo viel
Gehirnarbeit.

Das fchematifche Netzwerk, in welches K. den Stoff eingefangen
hat, ift folgendes: Elfter Teil. Unflerblichkeit der Seele überhaupt.
A. Begriff der Unflerblichkeit. B. Begriff der Seele. Beides erft, wie es
fich dem Pofitivismus (dahin gehört auch Schleiermacherl), dem Materialismus
, Pantheismus darftellt, und die Widerlegung davon; dann die pofi-
tiven Auffüllungen der katholifchen Denker als eine in fich gleichartige
Größe. S. 15 beginnt der zweite Teil, der Hauptteil: Die Beweife für
die Unflerblichkeit der Seele. Davon ift wieder die Hauptfache die zweite
Abteilung, welche die einzelnen Unfterblichkeitsbeweife durchgeht und
zwar 1) die traditionellen, 2) Verfuche, die Unflerblichkeit d. S. noch
auf anderm Wege darzutun. Es flehen da etwa 270 Seiten gegen reichlich
50. Das Hauptgewicht fällt alfo auf die traditionellen Beweife in 5
Kapiteln: der hiftorifche, der metaphyfifche, der teleologifche, moralifche
und theologifche. Hier fleht eben die große Maflfe des Unoriginellen
oder nur etwa in der Form Selbftändigen. Der Stoff ift hier durchweg
nach dem gleichen Schema disponiert: A. Pofitive Formulierung in drei
§§ (Grundgedanke und Name; Formulierung und Begründung; Wert und
Bedeutung); B. Polemifche Verteidigung, die fich dann aber doch dank
der Verfchiedenheit der Angriffe in den einzelnen Kapiteln verfchieden disponieren
muß. Wie mechanifch das Einteilungsverfahren ift, dafür nur ein
Beifpiel aus dem 2. Kapitell Metaphyfifcher Beweis a) aus dem Begriff der
Seele; b)aus der Natur der Seele a)im allgemeinen, ß)aus ein oder mehreren
Eigenfchaften insbefondere und zwar 1. aus einer Eigenfchaft, 2. aus zwei
Eigenfchaften, aus drei Eigenfchaften, vier Eigenfchaften. So fchematifch
geht es durch das ganze Buch hindurch mit oft feitenlanger Aufzählung
inhalüich meift ganz gleichartiger Zitate verfchiedener Verfaffer zu jedem
einzelnen Punkt.

Der Gefamteindruck ift: wohl viel Kopfarbeit, aber
wenig felbftändige und originelle. Grade darum ift es
förmlich eine Erquickung, in den langen Zitatenreihen
hin und wieder einer wirklichen Phyfiognomie zu begegnen

ftimmten Ausfchnitt von Problemen befchränkt oder aber
fie werden bis zu vollfter Unbeftimmtheit ausgeweitet.
Die berechtigte Tendenz, die gleichwohl beiden Begriffen
zu Grunde liegt, ift methodologifcher Natur. Sie können
und follen zur Beftimmung der wiffenfchaftlichen Arbeitsmethode
verwandt werden.

Sehen wir alfo von der fogenannten Völkerpfycho-
logie ab, fo bleiben von den im engeren und eigentlichen
Sinne fo zu nennenden Arbeitsgebieten der modernen
Pfychologie unter dem hier in Frage ftehenden Gefichts-
punkt des theologifchen Intereffes das der Denkpfychologie
und das der differentiellen Pfychologie hervorzuheben.
Von diefen beiden ift dasjenige der Denkpfychologie das
für uns weitaus bedeutfamere, weil von größter Bedeutung
für die entfcheidenden religionswiffenfchaftlichen und
theologifchen Prinzipienfragen. Wie fehr die Denkpfychologie
in die theologifchen Arbeitsintereffen eingreift, kann
jedem Heinrich Maiers großes und tiefgründiges — von
theologifcher Seite freilich noch keineswegs hinreichend
berückfichtigtes — Werk über ,Pfychologie des emotionalen
Denkens' aufs inftruktivfte veranfchaulichen. Und neueftens
hat Richard Hönigswald in einem auf der General-Ver-
fammlung der Kantgefellfchaft (am 20. IV. 1913) gehaltenen
und fehr gehaltvollen Vortrag die Bedeutung der ,Denk-
pfychologie' für alle wiffenfchaftstheoretifchen Prinzipienfragen
in fcharfftnnigfter Weife ins Licht geftellt1).

Wenn auch die ,differentielle Pfychologie' für den
Religionsforfcher und Theologen nicht von gleicher fundamentaler
Wichtigkeit ift wie die Denkpfychologie, fo
hat doch immerhin auch fie mancherlei Beziehungen zur
theologifchen Arbeit. Sie berührt fich auch darin mit
der Denkpfychologie, daß auch fie — wenngleich längft
nicht in dem Grade wie jene — die Tendenz hat, die
pfychologifche Forfchung aus der rein naturwiffenfchaft-
lichen Richtung abzulenken und in die geiftes- oder

wie derjenigen Frohfchammers, oder auch einmal Selb- j kultur-wiffenfchaftliche Richtung einzuftellen. Diefe Ten-
ftändigkeiten bei Huber, Kneib und andern, wohl gar ' denz tritt gerade in dem vorliegenden Buch Sterns fehr
einem Widerfpruch der Behauptungen etwa zwifchen 1 deutlich hervor und wird auch von ihm felbft nachdrück-
Melzer und Schaarfchmidt. Sehr zahlreich find die Doku- j lichft betont (vgl. S. 4ff, S. 320fr.). Überhaupt gewinnen
mente von Verftändnismangel für die letzten Motive eines ! die Erörterungen Sterns dadurch befondere Bedeutung,
widerlegten Argumentes: anftatt wirklicher, in die Tiefe ' daß er überall die Methoden-Frage in die erfte Linie
bohrender Auseinanderfetzung haben wir zumeift Künfte j rückt und diefe ebenfo allfeitig wie umfichtig klarzuftellen
einer wohlgefchulten Begriffsapologetik unter der Leit- I fucht. Im übrigen gibt er eine treffliche Orientierung
idee, zu zeigen, wie das in Zweifel Gezogene doch fein j über den gegenwärtigen Stand der in Betracht kommenkönne
refp. denkmöglich bleibe. Wie rafch fertig wird I den Forfchungen und ergänzt diefe Orientierung durch
diefe Apologetik doch z. B. mit Kant (S. lo6)l eine höchft dankenswerte, ausführliche Bibliographie.

Gnadenfeld. Th. Steinmann.

Stern, William: Die differentielle Pfychologie in ihren metho-
difchen Grundlagen. AnStelle einer 2. Aufl. des Buches:
t ber Pfychologie der individuellen Differenzen (Ideen
zu einer differentiellen Pfychologie). (IX, 503 S.) gr. 8°.
Leipzig, J. A. Barth 1911. M. 11—; geb. M. 12 —

Von den verfchiedenen Arbeitsgebieten der modernen
Pfychologie find es vor allem drei, denen für die Aufgaben
der Religionswiffenfchaft und Theologie befondere
Bedeutung zukommt. Das find die Gebiete der Völkerpsychologie
, der Denkpfychologie und der differentiellen
Piychologie. Von diefen drei Gebieten ift allerdings das
erltgenannte, alfo das der Völkerpfychologie, nur fehr
bedingter Weife als Arbeitsgebiet der modernen Pfycho-
A^tZ\bezeichnen- Ja der Begriff der Völkerpfychologie
llt überhaupt ein fehr problematifcher Begriff. Auch wenn
man die großen Verdienfte, die fich Wilhelm Wundt
durch feine unter diefem Wort zufammengefaßten Arbeiten
erworben hat, vorbehaltlos anerkennt, wird man zugeben
müffen, daß der Begriff der Völkerpfychologie felbft kein
eindeutiger und eindeutig zu beftimmender ift. Es verhält
fich mit ihm vielmehr ganz ähnlich wie mit dem Begriff
der Religionspfychologie. Beide Begriffe werden im heutigen
Sprachgebrauch entweder willkürlich auf einen be-

Den Begriff der differentiellen Pfychologie gebraucht
Stern im Sinne einer Pfychologie der individuellen Differenzen
, alfo in bewußter Unterfcheidung von der — natur-
wiffenfchaftlich orientierten — generellen Pfychologie in
ihrem gefamten Umfange. Die differentielle Pfychologie
deckt fich demgemäß nicht ohne weiteres mit der In-
dividualpfychologie, denn einerfeits umfaßt die letztere
auch die generelle Pfychologie des Einzelmenfchen und
andererfeits will jene nicht nur die Unterfchiede zwifchen
Individuum und Individuum, fondern auch diejenigen
zwifchen Völkern, Ständen, Gefchlechtern, Altersftufen ufw.
in den Kreis ihrer Unterfuchungen ziehen, fie will alfo
alle Differenzierungsmöglichkeiten des feelifchen Lebens
überhaupt behandeln, foweit fie pfychologifch faßbar find.
Denn daß der pfychologifchen Forfchung hier durch das
Wefen der Individualität felbft Grenzen gezogen find,
darüber ift fich Stern wenigftens grundfätzlich völlig klar,
wenn er auch im Einzelnen diefe Grenzen gelegentlich
weiterhinauszurücken fucht, als es mir berechtigt zu fein
fcheint.

Die Einteilung des Buches ergibt fich dem Verfaffer
aus der Erwägung, daß es die differentielle Pfychologie
mit Individuen und ihren Merkmalen (die in Phänomene,
Akte und Dispofitionen zerlegt werden) zu tun haben foll.

1) Der Vortrag ist inzwischen im Druck erfchienen: Reuther u.
Reichard, Berliu 1913.