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Ausgabe:

1914 Nr. 2

Spalte:

664-665

Autor/Hrsg.:

Simons, Eduard

Titel/Untertitel:

Aufwärts und Einwärts. Predigten 1914

Rezensent:

Schian, Martin

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Theologifche Literaturzeitung 1914 Nr. 24/25.

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liehe, von Gefühlen und Affekten beherrfchte Wille die
Normen nicht erfüllt, und daß auch die äußeren Reaktionen
gegen ihre Verletzung, die von dem verletzten
Subjekt oder von objektiven Mächten wie Staat und Recht
ausgehen, keineswegs genügen. Helfen kann lediglich eine
Umwandlung, eine Erneuerung des Willens, damit er ohne
Gefetz aus eigener Kraft und eigenem Antrieb das leiftet,
was die Normen fordern. Sie aber geht allein von der
Religion aus, von der religiöfen Hingabe des Willens an
einen Herrn, der als Wirklichkeit in unfer Bewußtfein
tritt. So findet eine Darfteilung der Offenbarungsreligion
unter ethifchen Gefichtspunkten ihre Stelle; vor allem
die wefentlich ethifche Chriftologie ift dabei interefiant.
Der eigentliche Zielpunkt aber ift eine (auf prinzipielle
Erörterungen über das Verhältnis von Religion und Sittlichkeit
aufgebaute) Darftellung der ,aus der Religion hervorgehenden
Sittlichkeit'. Sie erfüllt nicht nur die Normen;
fondern, indem die ,Religion den Willen von der Herrfchaft
der eigenen Zuftändlichkeiten befreit und ihn feine
Luft am gebietenden Willen finden läßt', erzeugt fie eine
freie Sittlichkeit, die über alle Pflicht hinaus ein Reich
der Liebe, der Gerechtigkeit und des Friedens baut.

So erhalten wir einen eigenartigen apologetifchen
Aufriß. Die Bedeutung der Religion wird auf den Erweis
ihrer ethifchen Leiftung gegründet — ähnlich wie
bei dem Typus, den ,Ritfchls und insbefondere Herrmanns
Theologie . . . unter uns zur Geltung gebracht haben'
(2,8), aber doch ganz anders als bei diefem. Denn fo
nahe M. religiös dem fog. Ritfchl-Herrmannfchen Typus
der Theologie vielfach fleht, er bekämpft doch mit aller
Kraft deffen Anlehnung an Kant. Gegen den Kritizismus
bietet er den Empirismus auf; ftatt der natürlichen fitt-
iichen Erkenntnis bis in ihre höchften, himmelberührenden
Spitzen zu folgen, drückt er fie fo tief als möglich herab;
ftatt der pofitiven Verbindung der natürlichen Sittlichkeit
mit der Religion findet er trotz aller befferen Anfätze
doch im wefentlichen nur einen Bruch zwifchen ihnen,
einen Kontraft. Natürlich hängt das mit dem Streben
nach Anknüpfung an die altproteftantifche Erbfünden-
lehre zufammen, das nur allzu leicht in Gegenfatz zu der
doch felbft geftellten Aufgabe einer ethifchen Apologetik
gerät. Diefen Gegenfatz hat M. m. E. nicht aufzulöfen
vermocht. Er verfolgt Kants Ethik nicht umfichtig genug
bis in ihre innerften Gründe. Er überfieht völlig,
daß er bei feiner Ableitung der Normen aus der trans-
fubjektiven, verbindlichen Wirklichkeit den Gedanken
der Norm, den Imperativ oder das Gefetz felbft, fchon
vorausfetzt, ohne ihn recht zu begründen. Die Äusein-
anderfetzung mit dem an Kant anknüpfenden Typus der
ethifchen Grundlegung ift alfo durchaus ungenügend.
Immerhin ift es ein neuer Beweis für die Bedeutung
einer ethifchen Begründung der Religion in der Gegenwart
, daß auch ein fo ausgefprochener Gegner Kants fie
in feiner Weife zu leiften verfucht.

Intereffant wäre es, den dabei verfuchten Bund der
Theologie mit einer empiriftifchen Philofophie hiftorifch
zu beleuchten. Er ift ja keineswegs neu, fondern ftellt
fich überall da ein, wo man ftatt an die rationaliftifche
Philofophie vielmehr an die Erfahrungswiffenfchaft anknüpfen
will, aber den Weg zu einer ftrengen Erkenntnistheorie
und Ethik nicht findet. Auch der werdende,deutfehe
Idealismus' verfuchte ihn (in Männern wie Hamann, Herder
u. a.) — bis Kant feine kritifchen Hauptwerke fchrieb.
Hiftorifch betrachtet ift alfo M.s Verfahren eine Rückkehr
auf einen Weg, der vor Kant als Fortfehritt gelten durfte,
feitdem aber innerlich überwunden ift.

Anzuerkennen ift eine bedeutende Kraft des fyfte-
matifchen Denkens und eine ausgebreitete Kenntnis der
Stoffe, inhaltlich vor allem die enge Fühlung mit der
reformatorifchen Frömmigkeit, die an wichtigen Stellen
des letzten Bandes hervortritt. Trotzdem zeigt es fich,
daß M. allzufrüh ein fo weit ausfehauendes Werk begonnen
hat. Wenigftens möchte ich es damit erklären, daß die

Darftellung befonders der erften Bände fehr formaliftifch
bleibt. Wohl kennt M. die fremden Religionen und
Syfteme einigermaßen, aber er hat nicht das innere Ver-
ftändnis für fie, das ihm erlauben würde, lebendige Bilder
zu fchauen und zu entwerfen. Daher wird, er auch den
außerchriftlichen Höhepunkten der Religionsgefchichte
fo wenig gerecht wie der natürlichen Sittlichkeit und man- ,
ehern großen Meifter der Theologie (z. B. Schleiermacher);
J aus feiner chriftlichen Überzeugung fpinnt er Urteile über
| andere Religionen heraus, die gegenüber der wirklichen
Religionsgefchichte nicht haltbar find. Zu dem forma-
liftifchen Charakter weiter Strecken des Werkes gehört
es auch, daß zuweilen auf logifchem Wege Möglichkeiten
abgeleitet werden, ohne einen wirklichen Inhalt zu empfangen
; oder der Inhalt wird durch Einpreffung in äußerlich
konfluierte Schemen verkrümmt. Ferner werden
modern-wiffenfehaftliche Begriffe überaus lax gebraucht,
ohne fcharfe Beftimmung ihrer Bedeutung (befonders
,apriorifch' und ,tranfzendental'); oder es werden manche
Punkte ganz ausführlich behandelt (z.B. 3, 253ff), dagegen
wichtige andere nur eben geftreift. Allerdings ift M.
offenbar im Laufe feiner Arbeit gewachfen; im letzten
Bande finden fich treffliche Ausführungen, denen die
erften Bände nichts an die Seite zu fetzen haben. Aber
zunächft wird dem Lefer die alte Wahrheit aufs neue
gegenwärtig, daß jede umfaffende fyftematifch-theologifche
i Arbeit eine Fülle der religiös-fittlichen Lebensanfchauung
I und eine Breite des wiffenfehaftlichen Überblicks vorausfetzt
, die auch ein wohl ausgerüfteter Syftematiker erft
fehr allmählich gewinnt.

Marburg a. d. L. Horft Stephan.

Kattenbulch, Ferdinand: Vaterlandsliebe und Weltbürgertum
. Rede, geh. beim Antritt des Rektorats der
Vereinigten Friedrichs-Univerfität Halle-Wittenberg
am 12. Juli 1913. (23 S.) gr. 40. Gotha, F.A.Perthes
1914. M. 1 —

In dem vaterländifchen Gedächtnisjahr konnte das
Thema für eine Rektoratsrede nicht glücklicher gewählt
werden. K. knüpft gefchickt an die Erlebniffe der Halle-
fchen Univerfität vor 100 Jahren an und bietet fodann,

j nach einem kurzen Hinweis auf den Ernft der gegenwärtigen
Zeit, feinfinnige und eindringende Erörterungen
über die Bedeutung der einander korrefpondierenden
Begriffspaare: Heimat und Vaterland einerfeits, Volk und
Nation andrerfeits. Hier Natur, dort Gefchichte; hier
Gemüt, unbewußtes Erleben, dort bewußt geftaltender
Wille. Dies und manches andere wird anfehaulich und
überzeugend ausgeführt. Nachdem fodann gezeigt ift,
wie unter dem Einfluß des Freiheits- und Machtwillens
die Heimat zum Vaterland, das Volk zur Nation heran-
wächft, wird zum Schluß noch das Verhältnis der ver-
fchiedenen Völker und Nationen zu einander geftreift
und fowohl der Behauptung völkifcher Eigenart und
Machtentfaltung als auch der internationalen Verftändigung
das Wort geredet. Wie fteht's nun mit dem Weltbürgertum
? Nach dem geftellten Thema erwartete man, daß
etwas mehr davon die Rede wäre. Wenn K., wie es
fcheint, das Eintreten für ein weltbürgerliches Humanitätsideal
, das fehr wohl neben den vaterländifchen Idealen
beliehen kann, als unpraktifch und wertlos beurteilt, fo
müßte ich dem widerfprechen. Es mag noch erwähnt

j werden, daß diefe Rede, mit Erläuterungen und lite-
rarifchen Bemerkungen verfetten, auch in den .Studien
und Kritiken' zu lefen ift (Jahrg. 1914, Heft 3).

Iburg. W. Thimme.

Simons, Prof. Univ.-Pred. D. Eduard: Aufwärts und Einwärts
. Predigten. (VIII, 175 S.) 8°. Tübingen, J. C. B.
Mohr 1913. M. 3—; geb. M. 4 —