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Ausgabe:

1914 Nr. 2

Spalte:

661-662

Autor/Hrsg.:

Wentscher, Max

Titel/Untertitel:

Hermann Lotze. 1. Bd.: Lotzes Leben und Werke 1914

Rezensent:

Mayer, Emil Walter

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Theologifche Literaturzeitung 1914 Nr. 24/25.

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vielem edler ift und höher fteht als Smith, fo ift auch das,
wie die ganze Erfcheinung des Mormonismus, ein Zeichen,
daß Religionen nicht bloß in auffteigender Linie entfliehen,
fondern daß höhere Kulturen in Barbarenvölkern Niedrigeres
fchaffen. Lehrreich ift das Bild auch im höchflien Grade
für das Chriftentum. Nicht immer fcheint mir Meyer
gerade in der Vergleichung des Chriftentums mit dem
Mormonismus glücklich zu fein. Was fleh am ftärkften
aufdrängt: der Aufftieg aus dem Enthufiasmus der Anfänge
zur Organifation und von da zur Ausföhnung mit
dem Staat und der Welt in einer neuen Kirche und einer
o-ebildeten Theologenfchaft, und vor allem die außerordentlich
intereffanten Auseinanderfetzungen der neuen
Orakel des Propheten mit der höhereren Stufe chriftlicher
Ethik das tritt verhältnismäßig zurück und fehlt in dem
Exkurs über die Anfänge des Chriftentums ganz. Statt
deffen intereffiert Meyer am meiften das enthufiaftifche
und ekftatifche Moment als folches. Bedeutfamer noch
ift, daß in der Freude an den neuen Gefichtspunkten der
Mormonenprophet für Meyer zu fehr der Typus des Propheten
überhaupt geworden ift. Da muß dann natürlich
um des ftarken Unterfchieds willen behauptet werden,
daß Jefus — wie Buddha — nicht als Prophet aufgetreten
fei; felbft Paulus wird teilweife vom Prophetentum frei-
gefprochen — der Ausdruck ift bei Meyers Stimmung
nicht falfch. Das ift gefchichtlich nicht richtig: das
Ekftatifche darf man nicht ganz aus dem Leben Jefu
ftreichen wollen, bei Paulus kann man es vollends nicht.
Und was an Smith Menfchlich-Allzumenfchliches ift, hat
man nicht in den Begriff des Propheten aufzunehmen.
Vielmehr ift diefer Begriff an den altteftamentlichen Propheten
gebildet und zu bilden. Andrerfeits ift Meyer
wieder allzu geneigt, das Allzumenfchliche auch im Ur-
chriftentum zu fuchen, nur bei den Geftalten zweiten
Ranges, etwa den Jüngern, die die Verklärung erlebt haben.
Und hier zeigt fleh noch eine aus der Freude an dem
neuen Gefichtspunkt kommende Schwäche der Betrachtung
: Meyer neigt dazu, folche Erzählungen wie die Ver-
klärungsgefchichte, weil fie gewiffe Analogien zu den mor-
monifchen darbieten, für gefchichtlich zutreffend zuhalten;
die Bedenken aus der Literarkritik wertet er kaum. Aber
mag man hier auch vieles ablehnen, ein außerordentlich
lehrreiches religionsgefchichtliches Buch voll neuer Ein-
fichten und Ausblicke liegt hier vor uns.

Jena. H. Weinel.

Wentlcher, Max: Hermann Lotze. I. Bd.: Lotzes Leben
und Werke. (VI, 376 S. m. 2 Bildniffen.) gr. 8°. Heidelberg
, C. Winter 1913. M. 8—; geb. M. 10.50

Daß Lotzes Philofophie noch für die Gegenwart Bedeutung
haben kann, braucht nicht erft gefagt zu
werden. Auf ein ihr entgegengebrachtes Intereffe wird
um fo eher zu rechnen fein, als man es heute vielfach
bei bloßen erkenntnistheoretifchen Unterfuchungen nicht
mehr bewenden laffen will und die Neigung, wieder Meta-
phyfik zu treiben, fichtlich wächft. Das vorliegende Buch
bildet nun den erften Teil eines Werkes, das die Lotze-
fche Philofophie darfteilen will. Und zwar handelt es fleh
zunächft um eine Biographie des feinfinnigen Göttinger
Denkers. Eigentlich keine ganz leichte Aufgabe! denn
Lotze hat äußerlich nichts erlebt. Das ift feinerzeit fchon
deutlich zutage getreten in der Biographie von Falcken-
berg. Diefer hat abzuhelfen gefucht durch Mitteilung
zahlreicher Briefe des Philofophen. Wentfcher erftrebt
dasfelbe dadurch, daß er ausführliche Auskunft erteilt
über Entftehung und Inhalt der Lotzefchen Schriften.
Dabei geht er mit großer Gründlichkeit und Sorgfalt vor
und bietet nicht nur eine Analyfe der wichtigften Werke
dar, fondern auch kleinerer Publikationen und vieler einzelner
Rezenfionen. So gewinnt der Lefer Einblick in
ein Gelehrtenleben, das zwar äußerlich recht ftill verlaufen

ift, aber innerlich eben fo reich war an geiftigem Gehalt.
Ein willkommenes donum superadditum find zwei an-
fprechende Porträts Lotzes aus den Jahren 1870 und 1843.

Man darf füglich gefpannt fein auf den in Ausficht
geftellten zweiten Band, der eine eingehende zufammen-
hängende Charakteriftik und eine Kritik des Lotzefchen
Syftems bringen foll.

Straßburg i. E. E. W. Mayer.

Mandel, Priv.-Doz. Lic. Herrn.: Die Erkenntnis des Über-
linnlichen. Grundriß der fyftemat. Theologie. Metho-
dologifche Einleitg. I. Hauptteil: Glaube u. Religion
des Menfchen. 1. u. 2. Teil. Gr. 8°. Leipzig, A.Deichert
Nachf. M. 19.90

I. TL: Genetifche Religionspfychologie. Ein Syftem
der natürL Religionen in den Grundzügen. (X, 279 S.)
1911. M. 5.50. — 2. Tl.: Syftem der Ethik als Grundlegung
der Religion. 1. Hälfte: Ethifche Typenlehre.
(VII, 298 S.) 1912. M. 5.80. — 2. Hälfte: Syftem
der Sittlichkeit in den Grundzügen. (IX, 446 S.) M. 8.60

Unter dem Titel ,Die Erkenntnis des Überfinnlichen'
will Mandel ein .Gefamtfyftem der Glaubensweifen' zeichnen,
das nicht nur im allgemeinen der Überleitung von der
Erfahrungswelt zur Glaubenswahrheit und dem Überblick
über die Hauptarten des Glaubens, fondern zugleich der
Wahrheitsfrage dienen foll; er glaubt eine Löfung des
religiöfen Problems zeigen zu können, ,die die Maßftäbe
empirifcher Forfchung nicht zu fcheuen braucht'. Und
zwar gliedert er das Syftem nach den bekannten Methoden
der fyftematifchen Arbeit. Der erfte Hauptteil, den die
vorliegenden drei Bände bilden, will f kizzieren, wie man mit
fubjektiven Methoden eine Erkenntnis des Überfinnlichen
zu gewinnen fucht; dagegen foll der fpäter folgende
zweite Teil die allein zum Ziel führende ,fubjektiv-objek-
tive Methode' (religiöfe Dogmatik), der dritte Teil die
,objektiven Methoden' darfteilen (das Dasein Gottes, von
der Metaphyfik oder von der Offenbarung her). Natürlich
muß das abfchließende Urteil aufgefpart werden, bis
die beiden andern Hauptteile erfchienen find. Immerhin
ift der erfte intereffant genug, um eine Anzeige zu
fordern.

Er trägt entfprechend den fubjektiven Methoden den
Sondertitel ,Glaube und Religion des Menfchen' und gibt
erft eine ,genetifche Religionspfychologie', dann eine
.Religionsethik'. Die Religionspfychologie zeigt einerfeits,
daß der Menfch von allen Seiten der ihm gegebenen
Wirklichkeit her Antriebe zum Glauben empfängt, ander-
feits aber auch, daß die dabei entfliehenden natürlichen
Religionen in Skepfis, Pantheismus oder religiöfer Sehn-
fucht enden ftatt in wirklicher Religion; wirklicher Glaube
an ein Überfinnliches ,muß transfubjektiven Urfprungs
und Inhalts sein', also vom Überfinnlichen felbft herrühren.
Eine pfychologifche Rechtfertigung der Religion erweift
fich dabei als unmöglich. Also ift das apologetifche
Ergebnis dieser Religionspfychologie wefentlich negativ.
Weiter führt erft die .Religionsethik', die auch .Syftem
der Ethik als Grundlegung der Religion' genannt wird.
Sie zerfällt wieder in zwei Unterteile, die .ethifche Typenlehre
' und das in fich felbftändige .Syftem der Sittlichkeit
in den Grundzügen'. Die Typenlehre kommt bei
ihrer kritifchen Darftellung der bisherigen Endzweck-
(Güter-), Gefetzes- und Trieb-Ethik zu der Forderung

I einer empiriftifchen Normenlehre: die fittlichen Normen
müffen aus der Wirklichkeit abgeleitet werden, und zwar
aus einer Wirklichkeit, die dem Subjekt gegenüber eben fo
felbftändig (transfubjektiv) wie verbindlich ift. Diefe
Forderung wird nun in M.s .Syftem'erfüllt: es entwickelt die

; Normen (Individual- und Transindividualnormen). Es zeigt
aber dann auf Grund einer .Willenslehre', daß der natür-