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Ausgabe:

1914 Nr. 2

Spalte:

649-651

Autor/Hrsg.:

Tixeront, J.

Titel/Untertitel:

Histoire des Dogmes dans l‘Antiquité chrétienne. Tome III. La fin de l’âge patristique (430 - 800) 1914

Rezensent:

Kattenbusch, Ferdinand

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649

Theologifche Literaturzeitung 1914 Nr. 24/25.

chriftlichen Religion, einfchließiich der Gottheit Chrifti
und feines Verföhnungswerkes, bedeute. Das Kapitel betitelt
.Paulus der Menfch' ift mit feinen 15. Abschnitten
einer der edelften Tribute, die je dem Äpoftel gezollt
find. Andere Kapitel handeln von ,Was beanfprucht
Paulus für fich', ,Pauli Beglaubigung' ,Paulus und der
erhöhte Chriftus' Jefus Chriftus wider feine Apoftel' ,Zwei
Gefichtspunkte, die der gefunde Menfchenverftand aus der
hiftorifchen Erfcheinung des Paulus gewinnen kann', .Einige
Stimmen der Empörung', ,Ift die Univerfität Chicago folch
eine Stimme?' und .Angefleht in Angefleht mit Paulus dem
Menfchen'. Es ift zweifelhaft, ob der Gegenftand zu
gunften der fupranaturalen Bekehrung Pauli, einfchließiich
der literarifchen Vertrauenswürdigkeit der Berichte der
Apoftelgefchichte, und zugunften der abfoluten Autorität
von Pauli Darfteilung des präexiftenten und verherrlichten
.himmlifchen Chriftus', und der ganze Aufbau der
theoretifchen und praktifchen Sätze in den Paulinifchen
Briefen jemals früher mit folcher Vollftändigkeit, Klarheit
und logifchen Kraft behandelt worden ift. Den
fupranaturalen Charakter der Bibelreligion im allgemeinen,
die Realität oder auch nur Möglichkeit der Wunder als
eines direkten Hervorbrechens göttlicher Kraft zur Beglaubigung
der Offenbarung einmal zugegeben, würde ein
Ausweichen vor der Schlußfolgerung des Verfaffers, daß
das Chriftentum Pauli nicht eine menfehliche Schöpfung
fondern eine abfolut göttliche und autoritative Vollendung
der durch Chriftus im Fleifch noch unvollendet gelaffenen
Offenbarung fei, außerordentlich fchwierig erfcheinen. Vermutlich
werden felbft fahr kritifch gerichtete deutfehe
Forfcher die Lektüre diefer meifterhaften Polemik höchft
intereffant finden.

Waco, Texas. Albert Henry Newman.

Tixer ont. ]:. Kistoire des Dogmes dans l'Antiquite chretienne.

Tome III. La fin de läge patristique (430—800).
(S83 S.) 12°. Paris, V. Lecoffre 1912. fr. 3.50

Den zweiten Band diefes Werks, der die Periode der
Dogmenentwicklung zwifchen 318 und 430 (,von St. Atha-
nafius zu St. Auguftinus') behandelte, habe ich in diefer
Zeitfchrift 1910, Sp. 65—67 angezeigt. Ich konnte nicht
umhin, die umfichtige und gründliche Art der Behandlung
des Stoffes anzuerkennen. Herr Tixeront, Leiter
(doyen) der katholifch-theologifchen Fakultät zu Lyon,
ift überall guten Willens, Perfonen und Sachen zu ihrem
Rechte zu bringen. Auch den .Häretikern' ftellt er
fich nach Möglichkeit freundlich gegenüber, er läßt fie
als .Perfonen' gern dafür gelten, nicht ganz deffen bewußt
gewefen zu fein, was ihre Formeln bedeuteten. Er ift
nie gehäffig in feinen Urteilen, hat manche Entfchuldigung
für die Männer zur Hand, die dem Verdikt der .Kirche'
verfielen, zumal auch die, daß fie zu einer beftimmten
.Schule' gehörten, von diefer von allem Anfang beeinflußt
, dadurch in ihrem Urteil getrübt, letztlich faft unfrei
in ihrem Auftreten gewefen feien. Und die .Schulen' find
ihm auch nicht bloß das Werk ihrer .Stifter', oder doch
diefer wieder als Fortfetzer einer .Tradition', für deren
Entftehung vielleicht niemand allein verantwortlich ift.
So kann man T.s Dogmengefchichte ohne peinliche Empfindungen
lefen und, da fie überall von forgfältiger Quellen-
forfchung Zeugnis gibt, mit nicht geringem Nutzen gebrauchen
. Der neue Band ift feiner Vorgänger würdig.
Ich könnte alles noch einmal fagen, was ich a. a. O. zur
allgemeinen Charakteriftik des Werks vorgebracht habe.
T.s Standpunkt ift völlig korrekt der modern katho-
lifche, ftreng papaliftifche. Die Etikette, die ein Mann oder
eine Lehrweife in der Kirche erhalten hat, fteht unbedingt
feft. Es gibt eine orthodoxe und eine häretifche Linie
in der Entwicklung der einzelnen Dogmen. Alle Grundurteile
ftehen zum Voraus feft. Von jedem, der zum
Häretiker geftempelt worden, wird fo gehandelt, daß gezeigt
wird, wo er von der vorhandenen Orthodoxie, der
fchon feftgelegten .rechten Lehre' abirrt, vielleicht unbewußt
, unvorfichtig in der Bemeffung der Tragweite .feiner'
Formeln, nicht ernft genug in der Unterftellung unter die
kirchlich gebilligten, auf ökumenifchen Synoden feftge-
ftellten Formeln, deren .Tendenz' und .notwendige' Konfe-
quenz. Es rächt fich, fo etwa ftellt T. die Gefchichts-
entwicklung dar, immer die Halbheit der Hingabe an das
.Dogma'. Im Dogma lebt eine innere Triebkraft von
unwiderftehlicher Art. Wer fich nur mit ihm .abfindet',
fich nicht mit ganzer Seele ihm hingibt, wird früher oder
fpäter, nicht feiten erft nach feinem Tode (zuweilen erft
lange nachher), als Häretiker entlarvt. Es ift für denjenigen
, der nicht mit eingefpannt ift in die katholifch-
kirchliche Denkart, auf die Dauer langweilig, immer wieder
die bloße immanente Konfequenz der Dogmenentwicklung
verfolgen zu follen. Man weiß bei T. in jedem Kapitel,
was das Refultat fein wird. Etwas Abwechslung kommt
in die Monotonie der Darftellung nur dadurch, daß T.
gern zeigt, wie der Kampf hin- und herwogt, ehe er zum
Abfchluß gelangt. Nicht der äußere Verlauf des Kampfs,
die mit ihm verbundenen politifchen (kirchlichen, ftaat-
lichen) Aktionen find es, die er fchildert (darin tut er
fogar zu wenig), fondern die oft lange andauernde innere
Unficherheit der theologifchen Hauptträger der Kämpfe.
Man wird zuweilen förmlich gefpannt, ob und wo der
.Häretiker' oder aber der .Orthodoxe' wohl endlich in
dem Manne herauskommen wird. Man weiß ja, wenn man
es etwa mit dem .heiligen Cyrill' zu tun hat, daß er fich
zu guter Zeit zurechtfinden wird (se trouvera retourne).
Und daß Neftorius fchon Unrecht bekommen wird, weiß
man auch. Aber bei T. vergißt man zuweilen, daß die
Rollen in feften Händen find. Das ift nicht nur Kunft
der Darfteilung, fondern Sorgfalt der Quellenunterfuchung.
So foll T.s Werk gern als wertvoll und im einzelnen
lehrreich anerkannt werden.

Ich habe foeben nicht bloß ad libitum die Namen
Cyrill und Neftorius herausgegriffen. Diefe beiden Männer
und ihr Streit bzw. die Entfcheidung von Chalcedon find
in diefem Bande durchaus am wichtigften. Was nach
Chalcedon kam, ift Rückzugsgefecht und Siegesficherung.
In diefer Zeit fetzt die Scholaftik, zunächft mit Bezug auf
die Chriftologie, ein. Nach T.s Darftellung ift allerdings
die ganze Entwicklung der Trinitäts- und Chriftuslehre
.fcholaftifch'. Daß diefe Lehrftreitigkeiten in praktifch
religiöfenBedürfniffen wurzeln, daß eine befondere Soterio-
logie dahinter fteht, kann man bei T. nicht erkennen.
Ja T. kann diefen Gedanken nicht brauchen. Denn er
bedeutet zugleich die Erkenntnis der Relativität des reli-
giöfen Werts der Formeln über das Wefen Gottes und
Chrifti, die feit Nicäa gebildet wurden. Für T, wie
jeden katholifchen Orthodoxen, find diefe Formeln von
ewigem Werte, abfoluter Geltung, einfach die .wahren'
Formeln. T. behandelt fie kurzweg als in fich felbft
heilige Begriffsbildungen. Die Dogmengefchichte ift nichts
als logifche Gedankenentwicklung von rein autoritativem
Goffenbarungsmäßigem') Anfatz aus.

Für kaum einen Theologen der alten Kirche ift in
neuefter Zeit dem Hiftoriker fo bedeutfames Material zu-
gewachfen als für Neftorius. Nachdem Loofs der
Forfchung den Dienft getan, die alten Neftoriusfragmente
zu fammeln und zu flehten, ift die Entdeckung bzw. Veröffentlichung
einer fyrifchen Überfetzung des Liber Hera-
clidis vollends die Grundlage geworden für eine beffere
Würdigung diefes beklagenswerten Mannes. Seither erft
wiffen wir, daß er erheblich länger gelebt hat, als man
bis dahin annahm. Nicht ,bald nach 435', fondern vielleicht
erft 451, jedenfalls nicht vor dem Spätjahr 450, ift
er geftorben, er hat noch von dem Briefe Leos an Flavian
und von der in Ausficht genommenen neuen ökumenifchen
Synode gehört und konnte von diefer, wenn Leos Brief
für fie maßgebend wurde, die Wiederherftellung feines
guten Namens und die Befreiung aus feinem harten Exil