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Ausgabe:

1914

Spalte:

569-570

Autor/Hrsg.:

Müller, Johannes

Titel/Untertitel:

Wegweiser 1914

Rezensent:

Niebergall, Friedrich

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56g

Theologifche Literaturzeitung 1914 Nr. 18/19.

570

Quellen zurückgreifen müffen; aber Seeberg hat es klar
und gut zufammengefaßt. Außerdem aber hat er die
fittlichen Konfequenzen mit aller Offenheit gezogen, nicht
nur verdammt, was zu verdammen ift, fondern auch die
vorhandenen Notftände erklärt und entfchuldigt und mit
wohltuendem Pathos zu ihrer Überwindung aufgefordert.
Dabei dürfe es ohne ,ftürmifche Übertreibungen' nicht
abgehen, es müßten auch Worte fallen, ,die die Kirchen-
regimentler erfchaudern laffen', ,über deren Maffivität die
Profefforen die Nafe rümpfen'; aber es feien eben grelle
Farben nötig, wenn dem ethifch verblendeten Auge etwas
fichtbar werden folle. Mit diefem Grundfatz hat Seeberg
zweifellos Recht; nur, die Tatfachen find an fich fchon
fo grell, daß es eigentlich gar keiner Übertreibung, fon-
dern nur des ununterbrochenen Hinweifes auf die Tatfachen
bedarf. Nicht ganz befriedigend ift das Kapitel
über die Rationalifierung des Gefchlechtslebens. Seeberg
gibt deren Notwendigkeit und damit auch die Einfchrän-
kung der möglichen Kinderzahl für Ausnahmefälle zu;
nur dürfe, was unter beftimmten Umftänden erlaubt fein
mag, vom fittlich unreifen Individuum nicht ohne weiteres
auf feine Lage angewendet werden. Die Entfcheidung
fei im einzelnen Fall in die Hände des, natürlich als ftreng
gewiffenhaft gedachten, Hausarztes zu legen; dann würde
die tappende Unficherheit und das fchlechte Gewiffen,
das Taufende auf diefem Gebiet plage, aufhören. Daran
ift richtig, daß die Verabreichung antikonzeptioneller Mittel
an die ärztliche Ordination gebunden werden muß. Offen
bleibt aber die Frage: wenn überhaupt eine Rationalifierung
des Gefchlechtstriebs — und die untere und weithin
auch die mittlere Schicht der Großftadt-Bevölkerung wird
allein fchon durch die Wohnungsnot zu diefer Rationalifierung
gezwungen —, wo ift dann die Grenze der Rationalifierung
? Hierauf finde ich keine Antwort, Seeberg
auch nicht Es liegt hier doch wohl eine Kollektivfchuld
vor, die den einzelnen in etwas entlaftet und die getilgt
werden muß, wenn der einzelne wieder zur Freiheit des
Gewiffens gelangen und wenn unferm Volk ein genügender
Nachwuchs erhalten bleiben foll.

Frankfurt a/M. Johannes Kübel.

Müller, Johannes: Von Weihnachten bis Pfinglten. Reden
auf Schloß Mainberg. (V, 299 S.) 8°. München, C. H.
Beck 1914. Geb. M. 3.50; in Ldr. M. 5—

— Wegweiser. (VII, 424 S.) 8°. Ebd. 1913.

Geb. M. 4.50 u. M. 6 —

Es ift gut, daß Müller bisweilen die bellen unter den
Auffätzen herausgibt, die in feinen Blättern für perfön-
liches Leben erfchienen find. Denn einmal werden fo
viele von ihnen erreicht, die fich nicht zum Halten der
Blätter entschließen können. Und dann tut es auch dem
regelmäßigen Lefen gut, unter beftimmten Gefichts-
punkten eine Auswahl aus jenen zum gründlichen Nacharbeiten
gefammelt vor fich zu fehen. Denn Müller
bedarf eines eingehenden Studiums; nicht darum, weil
feine Gedankengänge fo verwickelt wären, fondern
gerade darum, weil es der einfachfte und natürlichfte
Weg ift, d en er führen will. Zwar wird die Zahl derer
immer größer, die fich in aller inneren Lebensnot von
'hm angezogen fühlen und fich ihm anfchließen. Aber
um fo nötiger ift es, daß er immer wieder dasfelbe fagt,
um auf dasfelbe Ziel hinzuführen und vor demfelben Abwege
zu bewahren, denn auch von feinem Weg gilt es,
daß es nicht fchwer ift, den rechten Weg zu meiden.
Da es ein Lebensweg ift und keine Lehre, fo kann Müller
am klarften immer nur das bezeichnen, was er nicht will.
So führt er denn in beiden vorliegenden Bänden immer
wieder zwifchen folgenden Warnungstafeln zur Rechten
und zur Linken hindurch: weder Gedankenlofigkeit noch
Reflexion, weder Gleichgültigkeit noch Sentimentalität;
weder fich gehen laffen noch fich tyrannifieren, weder jeder

nach feinem Kopf, noch eine Kopie von ihm, Müller felbft.
Den Mittelweg durch diefe Klippen hindurch bezeichnet
er immer wieder mit den Worten: eignes Erleben mit
urfprünglichen Empfindungen und eigenartigem Aus-fich-
heraus-leben. Das zu finden muß fchließlich einem jeden
Sucher felbft überlaffen werden.

Da es im wefentlichen in Mainberg vor den Gälten
! gehaltene Reden find, die er in den beiden Bänden veröffentlicht
, fo könnte man beinahe von ihnen fagen: ein
Kirchenjahr in Predigten. Der erfte Band enthält nämlich
Anfprachen, die vor der ,Mainberger Kloftergemeinde'
bei den kirchlichen Feften in der feftlichen Hälfte des
Kirchenjahres gehalten worden find. Hier kommt die
Jefus zugewandte Seite von M. in ihrer bekannten Weife
zum Vorfchein. Wie jede andere Art von Feftpredigt,
fagt auch die von Müller immer dasfelbe im wechfelnden
feftlichen Gewand. Weihnachten: Jefus bedeutet die
fchöpferifche Entfaltung des Seelifchen, den Neuanbruch
des Werdens aus den letzten Tiefen alles Seins. Char-
freitag: es gibt eine Stärke des Gliedlebens, wo man das
Leben der Gefamheit in feiner Not miterlebt. Oftern:
die Kraft und Fülle der lauteren Empfindungen des
urfprünglichen Lebens. Pfingften: die Macht der urfprünglichen
Empfindungen im Menfchen. — So dankenswert
es ift, daß uns M. hier im kirchlichen Übergewand er-
fcheint, fo ftark muß, ficher in feinem Sinn, betont werden,
daß diefe feine Eigenart zu ausgeprägt ift, um von be-
geifterten Jüngern auf der Kanzel einer Durchfchnitts-
gemeinde vorgefetzt zu werden.

Der andere Band vereinigt viele hilfreiche Reden und
Auffätze ohne einen derartigen kirchlichen Gefichtspunkt.
Diefe behandeln vielmehr in immer neuen Wendungen das
Müllerfche Doppelthema: in einem urfprünglichen Eindruck
die Welt zu erleben und diefem Erleben einen
ebenfo urfprünglichen Ausdruck zu geben. Die einen
mag etwa der Auffatz: ,Das Leben ift das was wir daraus
machen', oder .Sachlich leben' mehr anziehen,
andere vielleicht ein Thema wie: .Gedanken über das
Eigentum', oder: ,Die erzieherifche Bedeutung der Ehe',
oder: ,Was haben wir von der Natur?' ftärker fefleln.

Immer geht ein eigenartiger, faft eigenwilliger Geift
durch alles hindurch, der den aufmerkfamen Lefer bereichert
, auch wenn er widerfpricht. Wenn nur Müller
felbft vor der Gefahr bewahrt bleibt, feine aus Erleben
gefchöpften Gedanken zu fchablonifieren und zu mecha-
nifieren, einer Gefahr, die den Feind von Mechanismus
und Schablone noch lieber als andere überfallen möchte,
dann wird er noch vielen zum Segen fein können. Vielleicht
wäre endlich ein wenig formale Pfychologie mehr
nicht überflüffig, um feine Gedanken noch fchärfer heraus
arbeiten zu helfen.

Heidelberg. F. Niebergall.

Referate.

Wilke, Prof. Lic. Dr. Geo.: Beiträge zur Lebensgerchichte des Andreas
Pankratius. Eine reformationsgefchichtl. Studie. (72 S.)
gr. 8«. Halle a. S., W. Kleinfchmidt 1912. M. 1.20

Die Studie über den (treitbaren Lutheraner, denen Methodus
concionandi für die Ausgeftaltung der lutherifchen Predigttechnik
wichtig geworden ift, bringt aus archivalifchen Beftänden vornehmlich
des Amberger Kreisarchivs neues Material über die
Lebensumftände des Pankratius bei, das eine willkommene Bereicherung
unterer bisherigen Kenntniffe bedeutet, nur im einzelnen
noch forgfältiger gelichtet und — unter Preisgabe vieler
wörtlicher Zitate — enger mit der biographifchen Darltellung hätte
1 verwoben werden müffen. Auch an felbftändigen kritifchen Unter-
fuchungen fehlt es nicht: fo ftellt Wilke als Todestag des Pankratius
den 27. September 1576 fett und weilt nach, daß die anders
lautenden Angaben bei H. Beck (die Erbauungsliteratur der evan-
gelifchen Kirche, S. 327f.) auf Verwechslung unferes Pankratius
mit einem gleichnamigen Mediziner beruhen (S. 12 Anm. 2). Am
meilten Intereffe beanfpruchen des Verfaffers Ausführungen über
das im Nov. 1566 abgehaltene Amberger Kolloquium. Sie beruhen