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Ausgabe:

1914 Nr. 1

Spalte:

563-565

Autor/Hrsg.:

Bridel, Ph.

Titel/Untertitel:

Vinet, Philosophie morale et sociale. Oeuvres complètes, Deuxième série. Tome I 1914

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Theologifche Literaturzeitung 1914 Nr. 18/19.

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mung fchlägt bei beiden in Ablehnung um, bei Schleier- : 358 S.) enthält. Aus diefem Bande haben nur 9 im vor-

macher, wenn Goethe in den ,Bekenntniffen einer fchönen
Seele' das Gebiet der lebendigen Religion zu betreten fich
,anmaßt', bei Goethe, wenn Schleiermacher im Fortgang
der Reden fich der pofitiven Religion immer entfchie-
dener annimmt, diefe gar in pofitives Chriftentum überzuleiten
unternimmt. Es find ,divergierende Tendenzen',
die in beiden Fällen deutlich werden: künftlerifche Natur-
anfchauung gleitet bei Goethe in ein vermittelt religiöfes
Empfinden über, ethifch-gefchichtliches Bewußtfein fchließt
fich bei Schleiermacher an urfprünglich-religiöfes Erleben
an. Ein verfchiedenes Maß fittlicher Strenge führt darum
bei Schleiermacher gelegentlich zu fcharfem Urteil, doch
ift bei dem S. 8 angeführten Brief (Briefe 1, 221) nicht
zu überfehen, dnß Schleiermacher nicht aus eigenem Antrieb
urteilt, fondern das .arrogante' Gerede eines jungen
Menfchen' aufnimmt und einfchränkt. Dennoch weift
Scholz nun einen weitgehenden Parallelismus in der Denkweife
der beiden Männer auf, der fich fchon in ihren
Denkvorausfetzungen zeigt, die bei beiden in einem Ein-
heitsbewußtfein wurzeln, eine polare Verhältnisbeftimmung
von Natur und Geift, Sinnlichkeit und Sittlichkeit bedingen
und fich fo bis in Schleiermachers Lehre von der
Sünde und dem fittlichen Ideal verfolgen laffen. Überall
erfcheint bei beiden im Gegenfatz zu allem Dualismus
Kants eine Hinneigung zu pantheiftifchem Empfinden in
Welt- und Lebensanfchauung. Scholz lucht dies bis in
,die Breite des Goethe-Schleiermacherfchen Offenbarungs-
bewußtfeins' hinein aufzuweifen. Erft mit der Wertung
Jefu und feines Kreuzes .beginnt die Geifterfcheide'. Jefus
ift für Schleiermacher ,der Eine, nicht neben anderen,
fondern außer allen anderen', Goethe hat es nur ver-

liegenden Buch Aufnahme gefunden: 2 weitere Artikel
werden in der der Philosophie religieuse gewidmeten
Sammlung, 5 andere unter den literarhiftorifchen Veröffentlichungen
eine geeignetere Stelle finden. Der von
Bridel und Bonnard hergeftellte Band enthält 31 Stücke,
deren Herausgabe in die Jahre 1825—1837 fällt; drei
bisher ungedruckte Artikel tragen kein Datum. Die von
den Herausgebern gewählte Reihenfolge ift vorwiegend
chronologifch bedingt: aus dem Jahre 1833 ftammen
neun Stücke, drei aus 1834, fieben aus 1836, vier aus
1831; je ein Beitrag entflammt aus 1825, 1828, 1830,
1837. Sie find nicht gleichwertig, und eine Anzahl unter
ihnen haben vorwiegend ein hiftorifch.es Intereffe, fofern
fie uns einen Blick in den Entwicklungsgang der Perfön-
lichkeit und der Gedankenwelt Vinet's tun laffen. Die
älteften Artikel find dem Nouvelliste vaudois entnommen,
die meiften ftammen aus dem Semeur. Unter den 31 Beiträgen
befinden fich neun Rezenfionen, deren Gegenwart
in diefer Sammlung fich dadurch rechtfertigt, daß fie
über den zufälligen Zweck der zu befprechenden Schrift
hinaus z. T. wichtige und anregende Ausführungen enthalten
. Auf Grund des Tagebuchs und der Briefe Vinet's
hat der Herausgeber über jedes der 31 Stücke alles mitgeteilt
, was zur Aufhellung der Entftehung und zur Erklärung
des Inhalts und der Eigentümlichkeit der einzelnen
Beiträge geeignet war (XVIII—XL VI).

Die Charakteriftik der philo fophifchen Grundan-
fchauung Vinet's, die Bridel in Ausficht ftellt (XVII,
Anm. 3), begrüßen wir mit dankbarer Freude. Bekanntlich
find V's. Hauptintereffen den fittlichen Fragen zugewandt
. Den rein theoretifchen Problemen und meta-

mocht .Chriftus zwifchen den großen Söhnen unferes j phyfifchen Spekulationen vermochte diefer energifche

menfchlichen Gefchlechts' zu fehen.

Das Alles ift von Scholz in geiftvoller und weithin
überzeugender Weife zur Anfchauung gebracht. Dennoch
bin ich bei wiederholter Lektüre ein leifes UnGegner
des Intellektualismus keine Teilnahme entgegenzubringen
. Durch Stapfer war er zu Kant hingeführt
worden, deffen Einwirkungen auf manchen Seiten feiner
Werke wahrnehmbar find. Was ihn aber von Kant

behagen nicht losgeworden. Schleiermacher ift ,mit j prinzipiell unterfcheidet, ift feine Auffaffung des Verhält

Goethe emporgewachfen'. An feiner Lektüre des Wilhelm
Meifter wird das veranfchaulicht. Aber das kommt
bei ihm erft, nachdem Herrnhut und Kant ihn für immer
aufs tieffte beeinflußt haben. Gerade indem er fich von
beiden trennt, bleibt der tieffte Untergrund feines Empfindens
und Denkens von ihnen beftimmt. Goethe umgekehrt
kommt erft fpät zu Kant hin, dann aber übt
der Alte vom Königsberge vor und in den Schillerjahren
entfchiedene Einwirkungen auf ihn aus. Das ift

niffes der Religion zur Moral. Die religiöfe Begründung
und Beziehung der Sittlichkeit ift der alles beherrfchende
Grundgedanke, den er immer wieder zur Geltung und
zum Ausdruck bringt. Wo Gottes Wille nicht die gebietende
und verpflichtende Macht ift, da treten Motive
ein, die jeder unbedingten und allgemeingiltigen Verpflichtungskraft
entbehren, das Intereffe, der Inftinkt, die
Gewohnheit, das fremde Beifpiel ufw. Die volle Verwirklichung
des religiöfen Verhältniffes in feinem innerlichen

eine gegenfätzliche Entwicklung, die bei Scholz gar nicht i unauflöslichen Zufammenhang mit der Sittlichkeit ift nur
berührt wird, die aber, meine ich, auch für die Gefamt- j im Evangelium gegeben, das deshalb auch den Schlüffel

anfchauung der beiden Männer nicht als bedeutungslos
beifeite gefchoben werden kann, fie muß fich bis in die
.Denkvorausfetzungen' hinein verfolgen laffen.

Gießen. Eck.

zum Verftändnis der menfchlichen Anlage und Beftim-
mung enthält. ,La verite chretienne n'est que l'eternelle
verite morale dans sa plenitude, dans toute sa vie, et munie
pour la seconde fois du sceau divin . .. Soyons hommes,
afin de pouvoir devenir chretiens' (267. 270). In diefer
Wahrheit liegt nach V. eine der wichtigften Errungen-
inet, Philosophie morale et sociale. [Oeuvres completes, fchaften der Reformation. Die Verkennung derfelben
Deuxieme serie. Tome I, public- par MM. Ph. Bridel j begründet z. B. das fcharfe Urteil, das Vinet über Mon-
et P. Bonnard.] (XLVI, 403 S.) Lausanne-G. Bridel, I taigne und Charron ausfpricht. Dagegen vermittelt das
Pari« Fkrhbacher loiA. fr 6— Verftändnis des Evangeliums auch in feiner fittlichen

Pans-Pischbacüer 1914. tr. 0 Bedeutung die Löfung des von Vinet öfters behandelten

Die große kritifche Ausgabe der fämtlichen Werke ; Problems des Eudämonismus. Die Wahrung des be-
Vinet's (f. Th. Lztg. 1911, Nr. 3; 1913, Nr. 17. 26) fchreitet I rechtigten Moments und die Verurteilung des verkehrten
rüftig voran. Der in diefem Jahre erfchienene vierte ; Prinzips eudämoniftifcher Moral find in der Tatfache geBand
fteht, was die äußere Ausftattung, die Wiedergabe j geben, daß das Evangelium in dem Herzen mit dem
des Textes, die hiftorifch-kritifche Einleitung (XLVI pg.) | Vertrauen zu Gott die Liebe zu Gott weckt: in der
betrifft, auf gleicher Höhe, wie die früheren. Der Heraus- Kraft derfelben geftaltet fich der Gehorfam gegen den

geber, Prof. Ph. Bridel, dem Pfr. P. Bonnard zur Seite
ftand, hat die ihm obliegende ziemlich komplizierte Aufgabe
aufs glücklichfte gelöft. Vinet felbft hatte im Jahr
1837 einen Band herausgegeben, der 15 Beiträge aus der
Zeitfchrift Le Semeur (1831 —1836) unter der Überfchrift
Essais de philosophie morale et de morale religieuse,
suivis de quelques essais de critique litteraire (XXXII p.,

göttlichen Willen zur Erfüllung unferes Selbftzwecks und
zum Erlebnis unferer höchften Seligkeit. An den einzelnen
Problemen wie an der Betrachtung des Ganzen zeigt
fich immer wieder, daß die in ihrer wahren Natur und
ihrer vollen Ausdehnung verftandene Moral genötigt ift,
in Gott einen erften Ring zu fuchen, an welchem fie
ihre ganze Kette befeftigen kann (100—101). — In diefem