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Ausgabe:

1914 Nr. 1

Spalte:

554-556

Autor/Hrsg.:

Geffcken, J.

Titel/Untertitel:

Friedrich Lübker‘s Reallexikon des klassischen Altertums. 8., vollst. umgearb. Aufl 1914

Rezensent:

Lietzmann, Hans

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Theologifche Literaturzeitung 1914 Nr. 18/19.

554

Art vergleichen. Abgefehen von allen Einzelfragen möchte
ich aber zwei Bedenken geltend machen. Einmal bafiert
L.s Kritik zumeift unmittelbar auf religionsgefchichtlichen
Urteilen; fie trifft unbedenklich alles, was ihm Gemeinde-
dogmatik erfcheint, ohne daß die kritifchen Thefen literar-
gefchichtlich genügend fundiert werden. Allein, wer heute
ein Buch über das Markusevangelium fchreibt, darf an
der Frage, wie und nach welchen Gefichtspunkten die
Überlieferung geformt worden ift, nicht mit kurzen Bemerkungen
vorbeigehen; andernfalls hält er, wie L. es
m. E. tut (f. Mk. 2,1 ff.), oft für Dogmatifierung, was
doch nur Stilifierung für das Bedürfnis der Miffions-
praxis genannt zu werden verdient. Freilich ift die Frage,

— dies mein zweites Bedenken — ob fich bei dem gegenwärtigen
Stande der witfenfchaftlichen Debatte der Werdegang
der urchriftlichen Literatur im engen Rahmen einer
folchen Kommentareinleitung in wiffenfchaftlicher Weife
verdeutlichen läßt.

Anders fleht es damit natürlich bei einem für wei-
tefte Kreife beftimmten Buch wie dem von Weinel. In
der Einleitung zu den von ihm überfetzten und gruppierten
Sprüchen Jefu will er Jefu Werk und die Uberlieferung
feiner Worte dem Lefer nahebringen, fo nahebringen,
daß er Geift vom Geifte Jefu fpürt und doch imftande
ift, die Überlieferung der Sprüche hiftorifch, d. h. nicht
ohne Kritik, zu würdigen. Ich finde es ftaunenswert,
was aut diefen 26 Seiten geleiftet ift. Natürlich keine
Literaturgefchichte und keine Gefchichte Jefu, überhaupt
keine eigentliche Darfteilung — und wem eine folche
Zufammendrängung der Hauptfachen unter pädagogifchem

— nicht künftlerifchem — Gefichtspunkt unfympathifch
ift, der mag überhaupt in diefe Einführung nicht hinein-
fchauen. Wer aber weiß, wieviel folch eine Summa wirken
kann, wer die Schwierigkeit erwägt, den Ton des
Leitfadens ebenfo auszufchließen wie den der impreffio-
niftifchen Skizze, der wird Abfchnitte, wie den von der
Reue (S. XI f.) ganz befonders hoch einfchätzen.

Was die beiden andern Autoren in Einleitungen zu-
fammendrängen müffen, das füllt bei Gilbert das ganze,
wohl ebenfo für angehende Theologen wie für einen
weiteren Kreis beftimmte Buch: Die Gefchichte Jefu und
ihre Quellen. Mit Weinel ift G. in der — mir etwas zu
ausfchließlichen — Orientierung an der Zweiquellentheorie
einig, ftärker noch als Weinel fcheint er der Überlieferung
zu trauen; dabei vergeffe man nicht, daß es ein ander
Ding ift, ob man in einer kurzen Einführung von kritifchen
Einzelfragen abfieht, oder ob man in einem ausführlichen
WerkErzählungen wie dieVerfuchungsgefchichte
ohne Kritik an ihren Fundamenten paffieren läßt. Sehr
intereffant aber und wenigftens in der Anordnung fehr
nachahmenswert ift die Dispofition des Buches von Gilbert
: the sources— the historical Jesus— the legendary
Jefus. Der dritte Teil erweckt befondere Hoffnungen;
hier müßten gewiffe Erzählungen der kanonifchen Evangelien
im Zufammenhang mit denen der apokryphen behandelt
werden, damit der Lefer Gleichartiges diesfeits
und jenfeits der Kanonsgrenze ,zulammenfchauen' lerne.
Und hier müßten die treibenden Kräfte der Legende
aufgezeigt und aus der Religionsgefchichte erläutert werden.
Von alledem ift leider keine Rede: es handelt fich nur
um hiftorifche Kritik auf Grund literarifcher Argumente.
Sie beweifen meift, was fie beweifen follen — aber ein
Kapitel ,the legendary Jesus' muß religionsgefchichtlich
orientiert fein, oder es kann überhaupt nicht gefchrieben
■werden.

Zum Schluß noch ein Wort über den Hauptteil des
Weinelfchen Buches, deffen Einleitung oben befprochen
wurde. W. bietet Worte Jefu (im Anhang auch Worte
aus dem vierten Evangelium) in deutfcher, kritifche Bedenken
vorfichtig berückfichtigender Übertragung. Be-
deutfam ift ihre Gruppierung nach fachlichen Gefichtspunkten
: es klingen die einzelnen Töne zufammen zu
einem vollen Akkord; man lernt auch wirklich hören,

weil einem nicht nur das eine Wort Jefu im Ohre bleibt,
fondern ein anderes zur felben Sache ihm fogleich gefeilt
wird. Ganz und gar nicht befreunden kann ich
mich aber mit Überfchriften wie ,Und fein Humor' (Mt.
21, 15—17), ,Gewißheit — und Angft' (Lk. 12,49h), ,Nur
ein Becher Waffers!' (Mk. 9, 41); fie bringen an Worte
von ftarker aus dem Reich des Ewigen flammender Bewegtheit
impreffioniftifche Erregungen heran, die durchaus
.diefemÄon' angehören, und zwar fpeziell unferem Zeitalter
mit feinen fenfiblen Nerven. Ich glaube dem Stil diefer
Zeit freundlicher gegenüber zu flehen als viele andere,
aber er gehört nicht in diefe Umgebung, und er kon-
traftiert in der Tat feltfam mit der Art der Jefusworte,
die gerade in der nicht um jeden Preis originalen, aber
Gefühlswerte und auch rhythmifche Schwingungen fein
wiedergebenden Übertragung Weineis lebendig zur Geltung
kommt.

Berlin. Martin Dibelius.

Lübker's, Friedrich, Reallexikon des klaffifchen Altertums.

8., vollftändig umgearb. Aufl. Hrsg. v. J. Geffcken
u. E. Ziebarth in Verbindg. m. B. A. Müller, unter
Mitwirkg. v. W. Liebenam, E. Pernice, M. Wellmann,
E. Hoppe u. a. Mit 8 Plänen im Text. (XII, 1152 S.)
Lex.-8°. Leipzig, B. G. Teubner 1914. Geb. M. 28 —

Kaum ift die von Gercke und Norden glänzend
redigierte .Einleitung in die Altertumswiffenfchaft' in
zweiter Auflage erfchienen (Vgl. Th. L. Z. 1911, 450 ff.
1913, 362 h), fo legt derfelbe Teubnerfche Verlag eine
neue philologifche Enzyklopädie vor, diesmal ein alphabetisch
geordnetes Nachfchlagebuch. Geffcken und
Ziebarth haben im Verein mit anderen Gelehrten eine
völlige Neubearbeitung des alten Lübker'fchen Reallexikons
unternommen, die es nach Inhalt und Umfang auf
die Höhe der modernen Philologie bringen und durch
ihre überfichtliche Anlage dem Studenten fchnellfte Antwort
auf taufende von Fragen bringen foll. Hermann
Diels hat in der Deutfchen Literaturzeitung dem vollendeten
Werke warme Anerkennung ausgefprochen, und
viele dankbare Benutzer, darunter auch der Unterzeichnete
, dürfen ihm quoad mere philologica beipflichten.

Aber in einem Punkte, der in diefer Zeitfchrift vornehmlich
zu behandeln ift, unterfcheidet fich der neue
Lübker wefentlich von dem Gercke-Nordenfchen Werke.
Die biblifch-patriftifche Literatur hatte dort durch Wendland
und Norden eine meifterhafte Behandlung erfahren
: im Lübker ift das Gegenteil der Fall. Der knappe
Raum — über deffen Zumeffung ich zunächft nicht
rechten will — hätte die Herausgeber veranlaffen müffen,
einen völlig mit dem Gegenftande vertrauten Gelehrten
für die Bearbeitung diefes wichtigen Stoffes zu gewinnen
, da nur ein folcher das Wichtige in wenige Worte
zu faffen weiß. Statt deffen haben fie die biblifchen und
patriftifchen Artikel allem Anfchein nach an mehrere
Bearbeiter verteilt, die fich augenfcheinlich erft aus Kompendien
über den ihnen fremden Stoff orientieren mußten
— das Refultat ift dementfprechend ausgefallen. Es ift
bezeichnend, daß aus dem Arbeitsplan in der Vorrede
überhaupt nicht erfichtlich ift, wer die Theologica bearbeitet
hat: meine Kritik richtet fich alfo ,ohne Anfehen
der Perfon' gegen ävmvvpoi.

Über die Bibel darf man wohl einiges erwarten: der betr. Artikel
(S. 168) redet von der Septuaginta und ihren Apokryphen, nennt dann
als Ausgabe nur Swete. Holmes-Parfons, Brooke-MacLeane und ein Hinweis
auf das Göttinger LXX-Unternehmen dürfen nicht fehlen, fo wenig wie
die Konkordanzen von Trommius und Hatch-Redpath, Helbigs Grammatik
, Swetes Introduction und noch manches andere: folche Angaben
fucht doch der Student! Ausgaben, Konkordanzen, Lexika, Grammatiken
, Kommentare des Neuen Teftaments werden überhaupt nicht genannt
. Dafür gibts eine wunderliche Kanongefchichte: ,Das Murat. Fragment
läßt die katholifchen Briefe, den Hebräerbrief, 2. Petr., Jacobus
aus'. ,Vor dem 4. Jahrh. der Kanon nicht gefchaffen; 382 in Rom
393. 397, 4'9 in Nordafrika endgültige Feftftellung der kanonifchen