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Ausgabe:

1914 Nr. 17

Spalte:

531

Autor/Hrsg.:

Sydow, Eckart von

Titel/Untertitel:

Der Gedanke des Ideal-Reichs in der idealistischen Philosophie von Kant bis Hegel im Zusammenhange der geschichtsphilosophischen Entwicklung 1914

Rezensent:

Hirsch, Emanuel

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Theologifche Literaturzeitung 1914 Nr. 17.

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wird ihm auch die Welt der Erfcheinungen immer wieder
unvermerkt zu einer realen Welt. Wenn man, wie P. will,
Kants praktifche Vernunft nur als regulativ anüeht, fo
bleibt ihr Inhalt leere Forderung, falls das Sittliche in der
Empirie verwirklicht werden foll; bleibt aber die gute
Gefinnung zeitlos, abgefchieden von der empirifchen Welt,
in fich vollendet, fo ift die praktifche Vernunft und mit ihr die
Freiheit konftitutiv, wenn auch nur im metaphyfifchen
Gebiet. Kant wollte über beide Standpunkte hinaus.

Königsberg i/Pr. Dorner.

Sydow, Eckart v.: Der Gedanke des Ideal-Reichs in der
idealiftilchen Phüofophie von Kant bis Hegel im Zufammen-
hange der gefchichtsphilofophifchen Entwicklung. (VIII,
130 S.) 8°. Leipzig, F. Meiner 1914. M. 4.50

Ein umfaffendes Thema ift auf engem Räume behandelt
. Da die fyftematifche Einführung in das Problem
fowie die auf möglichfte hiftorifche Vollftändigkeit abzielende
Darftellung der vorbereitenden und minderen
Geifter ziemlich viel Platz einnehmen, bleiben für Kant
und die drei großen idealiftifchen Philofophen zufammen
keine 90 Seiten übrig. Das ift, zumal bei jedem Denker
die Entwicklungsgefchichte des Problems in allen feinen
Verzweigungen gegeben werden will, recht wenig und
bedingt die Schwäche der Arbeit. Nur zu oft bleibt es
beim flüchtig das Notdürftigfte fkizzierenden Referat,
beim geiftreich hingeworfenen kritifchen Apercu. Ein
liebevolles Sichverfenken in die Gedanken der behandelten
Philofophen, ein Verftehen des einzelnen aus dem Ganzen
des betreffenden Syftems heraus findet man nirgends. Dagegen
wird gern und häufig auf die Nadelfpitze eines
Zitats eine ganze Entwicklungsftufe geftellt, wobei denn
Mißverftändniffe nicht ausbleiben (z. B. S. 60. 64!.). Ganz
vergeffen ift Schleiermacher.

Dennoch ift das Buch intereffant und wertvoll. Der
Verf. verfügt über eine fcharfgefchliffene Dialektik und ift
reich an felbftändigen und anregenden Problemftellungen.
Schon die Art, wie er die Konftruktion eines Idealreiches,
in dem fämtliche Tendenzen menfchlichen Geifteslebens
abfolut vollkommen verwirklicht wären, als letzten Zieles
alles gefchichtlichen Werdens heraushebt und in ihr die
charakteriftifchegefchichtsphilofophifcheGrundgemeinfam-
keit aller idealiftifchen Syfteme erkennt, ift überaus an-
fprechend. Scharf und treffend ift auch die Aufweifung
der diefen Standpunkt drückenden inneren Antinomie.
Von Einzelheiten wäre hervorzuheben die kritifche Be-
fprechung Marx', gipfelnd in einem Nachweis des ver-
fchiedenen Verhältniffes, das Zivilifation und Kultur zum
gefchichtlichen Werden haben. Alles in allem: ein Buch
mit zahlreichen fyftematifch fruchtbaren Winken und einzelnen
glänzenden hiftorifchen Streiflichtern, von dem
doch im ganzen gilt, was der Verf. (S. 67) von Sendling
fagt: .Seine Ausführungen haben die große Gelte des
Diktators, der Ziele fetzt, Aufgaben vorzeichnet, die kein
anderer gefehen hätte. Aber die Eilfertigkeit feines Genius
hindert exakte Durcharbeitungen'. Immerhin möge
man ,den Anregungsreichen mit größtem Nutzen lefen'.

Göttingen. Em. Hirfch.

Bosanquet, B., LL. D., D. C. L.: The Value and Destiny of

the Individual. The Gifford Lectures for 1912, delivered
in Edinburgh University. (XXXII, 331 S.) gr. 8°.
London, Macmillan & Co. 1913- s. 10 —

Diefes in reichem Englifch gefchriebene Buch verbindet
eine große Gedankenfülle mit einer außerordentlichen
Meifterfchaft in der Beherrfchung des Stoffes. Diefe
wird erreicht durch eine genaue Einteilung der Gedanken,
die jeder der zehn Vorlefungen nach einem ftreng eingehaltenen
Plan ihre abgefchloffenen Stoffe zuweift. Ausführliche
Seitenüberfchriften, genaue Inhaltsangaben und

.abstracts of lectures' geben dem Lefer Hilfsmittel an die
Hand, der nicht leichten Gefamtausführung zu folgen. —
Der Grundgedanke ift, daß das Einzelwefen, alfo die
menfehliche Seele, ihre Beftimmung und ihren Wert dadurch
gewinnt, daß fie ein Teil des einzigen und endgültigen
Wirklichen, des Univerfums, wird.

B. ftellt den Gang des Einzelwefens, diefes endlichunendlichen
Wefens von feinem Urfprung an bis zu feinem
Eingang in die Welt des Ganzen, in den Bereich der abfoluten
Vollkommenheit dar. Seine höchfte Vorausfetzung
ift dabei, daß der Begriff des .einzelnen' weder der Wirklichkeit
noch dem höchften Werte entfpricht. An dem
Einzelwefen haben nämlich einmal die anderen mehr teil,
als es weiß, und fein Ziel ift weniger die Erhaltung feiner
formellen Einzelheit als die der Werte, an denen es hängt.
Da unfre wahre Natur in der Vollkommenheit des Ganzen
liegt, fo befteht das Leben in dem Streben, von der Un-
yollkommenheit des Einzeldafeins zu der Vollkommenheit
im Abfoluten und Ganzen zu gelangen.

In drei großen Abfchnitten, ftellt nun B. das Gefchick
des Einzelwefens dar. Teil A The moulding of souls
bringt eine ebenfo fchwierige wie feine Befchreibung der
Entftehung des Einzelwefens. Zwar will er nichts davon
wiffen, daß fich irdifche Geifter in den Seelen verkörpern,
aber bis zu einem metaphyfifchen Prinzip nach der Art
von Bergfons elan vital geht er zurück; wie diefes fich
dann unter dem Einfluß natürlicher und fozialer Faktoren
geftaltet zu einem Zentrum feelifchen Lebens, indem diefe
äußeren Faktoren felbft von diefem Zentrum geformt werden,
das eröffnet ganz neue Blicke in die Verwendung der
Gedanken von der Anpaffung, der Auswahl und anderer
naturwiffenfehaftlicherKategorien aufdiefefchwerenFragen.
Der denkende Wille als Produkt und als Produzent der
Außenwelt und der geiftigen Welt ift das Ergebnis diefer
fchwierigen Ausführungen.

Dann verfolgt Teil B die Zufälle und Widrigkeiten,
die der Seele in der Welt der Erfcheinungen zuftoßen.
Dabei wird ftets der Weg zum Abfoluten, zur vollkommenen
Welt des Ganzen im Auge behalten, in der allein
das endlich-unendliche Wefen fein Genüge finden kann.
Die Welt des Theismus mit ihrem Rechtsverhältnis zwifchen
Menfch und Gott wird weder dem Verftändnis noch der
Aufgabe des Lebens gerecht; dies gelingt nur einer ganz
andern Auffaffung, die eine geiftige Welt der Vollkommenheit
hinter oder unter den Dingen der Erfcheinung fchaut,
eine geiftige Welt, die alle und alles unter einander ver-
j bindet und die jedem tiefe Befriedigung gibt, der fich ihr
ganz übergibt. Einem folchen müffen Freude und Schmerz,
Gutes und Übles zum Beften dienen, weil fie allefamt im
Grunde einen Zielpunkt fehen, nämlich das Einzelwefen
zur Gliedfchaft am Ganzen zu bringen. So gewinnt es
— Teil C — feine Fertigkeit und Sicherheit, wenn es
fich in einem religiöfen Akte dem Abfoluten, der Welt
geiftiger Vollkommenheit hingibt, in der alle Wirklichkeit
enthalten ift und in der alles Üble als folches ver-
fchwindet, um in Gutes umgeftaltet zu werden, mag auch
ein folches Abfolutes etwas Anderes fein, als was die
Religion Gott nennt. In diefer Welt des Abfoluten find
unfere wichtigften Werte wohl geborgen, weshalb wir für
unfer nacktes Ego nicht zu forgen haben. Diefe Auffaffung
von dem, was werden wird, ift beffer als die vom
Nirwana oder die von der Metempfychofe oder von der
Unfterblichkeit, d enn fie legt den Nachdruck auf die
Werte und nicht auf die Exiftenzform. Darum fpricht
fie weniger von der Zukunft als von dem Ganzen, das
aller .Zeit' und allem Wefen zugrunde liegt und der Ort
der höchften Werte ift. In ihm findet das Einzelwefen
feine völlige Befriedigung und fein Ziel.

Diefer Auszug dürfte die Eigenart des Werkes erkennen
laffen, fo wenig er feiner Fülle gerecht wird: es
ift ftark religiös gerichteter, idealiftifcher und optimiftifcher
Pantheismus mit einem kennzeichnenden entwicklungs-
gefchichtlichen Einfchlag. Man muß oft an Fichte denken,