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Ausgabe:

1914 Nr. 16

Spalte:

497-498

Autor/Hrsg.:

Wundt, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Reden und Aufsätze 1914

Rezensent:

Thieme, Karl

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Seite 1

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497

Theologifche Literaturzeitung 1914 Nr. 16.

498

keit diefes Einfluffes. Die Bezugnahme auf Kant bei dem
erfteren von diefen beiden Autoren beweift nur, daß (in
jener Zeit) die Bedeutung von Kants grundlegenden Gedanken
den gebildeten Engländern unbekannt war. Kants
Einfluß beginnt erft im dritten Viertel des vorigen Jahrhunderts
wirkfam und höchft wichtig zu werden, hauptfächlich
durch die Schriften und mehr noch durch die
Univerfitäts-Vorlefungen von T. H. Green in Oxford und
Edward Caird in Glasgow, und durch diefe Autoren und
viele andere, die von ihnen ftark beeinflußt waren, begannen
Kantifche Elemente den Strom Hegelfchen
Denkens zu verftärken, der am Ende des Jahrhunderts
in England und Amerika eine fo beträchtliche Kraft
erlangte und nun im Schwinden begriffen zu fein fcheint.
Aber der Einfluß von Kants eigenen Gedanken ift nicht
im Schwinden. Das Studium von Kants: .Grundlegung
zur Metaphyfik der Sitten' und .Kritik der praktifchen
Vernunft' ift ein Teil des regelmäßigen Kurfus in Moral-
Philofophie auf den meiften englifchen Colleges und
Universitäten. Wir müffen jedoch wiederholen, daß
Schmitt-Wendel uns ein Stück Arbeit gegeben hat, das
manchem deutfchen Gelehrten nützlich und manchem englifchen
anregend fein wird.

Manchefter, England. S. H. Mellone.

Wundt, Wilhelm: Reden und Auffätze. (VII, 397 S.) gr. 8°.

Leipzig, A. Kröner 1913. M. 7—; geb. M. 8 —

Die erfte Rede diefer Sammlung .Über den Zufammen-
hang der Philofophie mit der Zeitgefchichte' ift eine
Zentenarbetrachtung aus dem Jahre 1889, die die allmähliche
Überwindung des Individualismus der Aufklärungszeit
durch die im 19. Jahrhundert fleh regenden Triebfedern
eines neuen Staatsgefühls und einer neuen Humanität
fchildert. Eine Ergänzung diefes gefchichtlichen Bildes
gibt die zweite Rede .Über das Verhältnis des Einzelnen
zur Gemeinfchaft'. Sehr klar werden einem hier die bei
Wundt oft mißverftandenen Begriffe .Gefamtgeift' .Gefamt-
wille' gemacht. Diefe erften beiden Reden waren in der
.Deutfchen Rundfchau' fchon gedruckt. Dann folgen
Wundts zwei Beiträge zur .Kultur der Gegenwart', der
Auffatz ,Die Metaphyfik in Vergangenheit und Gegenwart
', der in diefer Zeitung 1908, Sp. 57/8 fchon gewürdigt
ift, und der Auffatz ,Die Philofophie des primitiven
Menfchen', über den in diefer Zeitung 1910, Sp. 641
berichtet ift. Das fünfte Stück der Sammlung stammt
aus der Feftfchrift zu Kuno Fifchers achtzigstem Geburtstag
und behandelt ,Die Psychologie im Beginn des
zwanzigsten Jahrhunderts'. Die nächsten zwei Reden, von
denen die erste noch nicht gedruckt, die zweite 1901
feparat erfchienen war, find Leibniz und Fechner gewidmet.

.Leibniz und Fechner', Schreibt Wundt im Vorwort, ,der Staats- und
Weltmann und der befcheidene, in Stiller Zurückgezogenheit Seiner Gedankenarbeit
lebende Gelehrte, — ein größerer Kontraft nicht bloß der
äußeren Stellung, Sondern Saft mehr noch der geiftigen Eigenart, wie er
zwischen dieSen beiden, anfcheinend nur durch den Boden der gemeinsamen
SächSiSchen Heimat verbundenen Männern befteht, läßt Sich kaum
denken. Und doch Sehlt es beiden Persönlichkeiten nicht an jener ,Coin-
cidentia oppositorum', in welcher der größere unter ihnen ein Zeugnis der
univerSellen Harmonie erblickte, die der leitende Gedanke Seiner wiSSen-
SchaStlichen wie religiöSen Überzeugungen war. Bewundern wir in Leibniz
die nie wieder erreichte Verftandesklarheit, die über alle Gebiete des
Globus intellectualis ihr Licht verbreitet, So Sühlen wir uns wohl bei dem
Späteren Denker und Dichter von der Kühnheit phantaSievoller Bilder
hingeriSSen, in denen er Natur und Geift, DiesSeits und JenSeits nicht
weniger wie der Führer der deutschen Verftaudesaufklärung, wenngleich
auf fo ganz andere Weife zu einer harmonischen Einheit zu verbinden
Strebt. Und doch ift Leibniz, vor deflen Auge Sich die Schatten des
Geheimnisvollen überall zu verflüchtigen Scheinen, im tiefllen Grunde mit
feinen philofophifchen f. berzeugungen in den Gedanken jener alten deutfchen
Myftik verankert, deren Ziel, wie das feine, die Verbindung von
Glauben und Wiffen war; und durch eine wunderbare Verkettung der
Gedanken und Gefchicke wird Fechner aus dem myftifchen Naturphilo-
fophen, der er gewefen und im Grunde immer geblieben ift, zum Begründer
exakter Meffungsmethoden der empirifchen Pfychologie'.

Die Sammlung fchließt ab Wundts Festrede zur

500jährigen Jubelfeier der Univerfität Leipzig:,Die Leipziger
Hochfchule im Wandel der Jahrhunderte'.

Leipzig. Karl Thieme.

Stange, Prof.Dr.Carl: Chriftentum u. moderne Weltanschauung.

I. Das Problem der Religion. 2. Aufl. (XXI, 118 S.) 8°.
Leipzig, A. Deichert, Nachf. 1913. M. 3 —; geb. M. 3.50

Der Text ift ein wenig veränderter Abdruck der erften
Auflage. Doch hat St. eine zwanzigfeitige Vorbemerkung
beigefügt, die wefentlich eine Auseinanderfetzung mit
feinen Rezenfenten enthält. Er weift nach einander die
Einwendungen zurück, die von Herrmann (Chriftliche Welt
1912, Sp. 717), dem Referenten (hier, Jahrgang 1913, 248 fr.),
Dunkmann (Theol. Literaturblatt 1911, 131fr.), Wehrung
(Die philofophifch-theologifche Methode Schleiermachers,
1911) gemacht worden find. Befonders die Debatte mit
Dunkmann wird durch die Ausführlichkeit intereffant, mit
der St. die Sätze des Gegners behandelt. Genauer eingehen
aber möchte ich nur auf feine Befchäftigung mit
meinen Zweifeln. Denn fie haben in diefer Zeitfchrift
gestanden, find ihm zu unbeftimmt und haben ihn durch
ihre Kürze zu Luftftreichen verführt. Ändern kann ich
allerdings mein Urteil nach keiner Seite; ich freue mich
mancher Einzelfätze und empfinde gebührende Achtung
gegenüber der vorliegenden Gedankenarbeit, halte fie aber
im ganzen für verfehlt. Natürlich führe ich hier nur das
letztere aus — zumal es bei wiederholter Lektüre doppelt
eindrücklich wird.

St. versteht scheinbar nicht, wie ich einerfeits die
Bearbeitung gewiffer Probleme, die man meist religions-
philofophifch nennt, für verdienstlich halten und anderfeits
feine Religionsphilofophie verwerfen kann. Nun mag ich
hier nicht eine Skizze der Auffaffung geben, die ich leibst
von jenen Problemen habe. Sie könnte wiederum nur
Andeutungen enthalten; und St. würde diefe ebenso wie
die vorigen nach den ihm geläufigen Gefichtspunkten
deuten und mit den dabei erwachfenden Möglichkeiten
der Deutung ironifierenden Fangball fpielen — eine fehr
unfruchtbare Art der Behandlung. Wer fich für meine
Auffaffung intereffiert, der findet fie immerhin eingehender,
als es hier gefchehen könnte, in Zeitfchr. f. Theol. und
Kirche 1913, 135—70 fkizziert.

Dagegen will ich — wenigstens bei dem wichtigsten
Kapitel — genauer zu zeigen versuchen, was ich an St.s
Buch für verfehlt halte. Durchaus das Verhängnisvollste
fcheint mir die apologetifche Orientierung, d. h. das
Streben, die Religion ,religionsphilofophifch', und zwar
durch den Nachweis ihrer Erkenntnisleistung, vor
dem Richterstuhle der Wiffenfchaft und des modernen
Geistes zu rechtfertigen. St. will fie von dem Verdachte
des Zufälligen und Willkürlichen befreien, der ihrer per-
fönlichen und gefchichtlichen Tatfächlichkeit anhafte; und
zwar indem er beweist, daß fie eine Frage beantworte, die
.notwendig' im erkennenden Bewußtfein auftauche. Nun
gebe ich zu, daß der Apologet fich auch mit folchen
Gedanken befaffen muß. Aber St. glaubt damit die
eigentliche Hauptaufgabe der Religionswiffenfchaft zu löfen
und den wiffenfchaftlichen Charakter der Theologie zu
erhärten. Und gerade das fcheint mir ein Rückfall auf
eine überwundene Stufe der Theologie, ja des Wiffen-
fchaftsbegrifles zu fein. St. lebt in der Luft der Aufklärung
und der Spekulation, die das gefchichtliche Leben
an rationalen Konstruktionen maß; nur daß er als moderner
Menfch diefe Meffung nicht mehr an Einzelgedanken
fondern an der Gefamterfcheinung der Religion durchführt.
Dadurch entstehen Konstruktionen, in denen der Glaube
fich fremd fühlt, und die einen Ballast für die Theologie
bedeuten. Ja fchlimmerl Es empfangen dadurch Gedanken
, die eine wichtige Stellung im religiöfen Glauben einnehmen
und auch von der Theologie behandelt werden
müffen, von vornherein eine Trübung. Unfer Glaube enthält