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Ausgabe:

1914 Nr. 15

Spalte:

460-463

Autor/Hrsg.:

Friedensburg, Walter (Hrsg.)

Titel/Untertitel:

Archiv für Reformationsgeschichte. Texte und Untersuchungen. 10. Jahrg 1914

Rezensent:

Bossert, Gustav

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Theologifche Literaturzeitung 1914 Nr. 15.

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daß in diefer glänzenden Darftellung der belgifchen Ver-
hältniffe eigentlich alle wefentlichen Refultate W.s fchon
enthalten find, fo daß den eingeweihten Lefer W.s überlegene
Abweisung Pirenne's (S. 35 f.) feltfam anmutet. Nur
hat W. diefe Ergebniffe übertrieben und vergröbert. So
ift feine Stellungnahme gegen Maximilian und Margarete
viel zu fcharf. Wenn Margarete mehr zu England neigte,
was den Intereffen nicht nur Antwerpens, fondern überhaupt
der nördlichen Landfchaften entfprach, die denn
auch mehrfach für Maximilian eintraten (S. 17 und 76), fo
hat fie doch deshalb noch keine antinationale Politik getrieben
, wie man nach W. meinen follte. Und Max. hat
nach W.s eigenen Angaben (S. 71 f., 73, 77k) viel gerechter
dafür geforgt, daß die Vertreter der verfchiedenen Landesteile
in der Regierung zu Worte kamen, als fpäter Chievres.
Denn, wie W. mehrmals betont (S. 5, 17 und 35), das damalige
Burgund war in Sprache, Sitten und Intereffen kein
einheitlicher Staat. Trotzdem ftellt fich W. ganz auf die
Seite der ,den alten Adel des Landes in fich vereinigenden
Nationalpartei' (S. 35), die einfeitig für die Intereffen Flanderns
, ,der wichtigften Landfchaft' (S. 32), — ein Urteil, das
gegenüber der Tatfache, daß fchon damals Holland und
Seeland die Hanfe ftark zurückgedrängt hatten, zweifelhaft
erfcheinen kann, — eintrat, und erklärt einfach: ,die
burgundifchen Intereffen trafen mit der Frankreich freundlichen
Stimmung der konfervativen Adelsregierung zu-
fammen' (S. 38).

Hat es ihm etwa der ,alte Adel' angetan? — Man follte es faft
meinen, wenn er von dem Gegner Chievres', dem Herrn von Berghes,
hervorhebt, daß er aus keinem alten Gefchlechte flammte (S. 18), von
einem andern, daß er nicht befonders vornehm war (S. 55). Und aus
diefer Vorliebe find wohl z. T. auch die feitenlangen Auszüge aus Genealogien
zu erklaren, mit denen W. feinen Text belaftet. Sie follen der
,Perfonengefchichte' dienen, die nach W. ,in das Gerüft der politifchen
Gefchichte erft Farbe und Leben, Lebenswahrheit bringt' (S. 2). Aber
da W. diefe Anhäufung von Namen hernach faft garnicht verwertet, bleibt
fie totes Material.

Daß fie jedenfalls W. nicht zu einer vertieften F.rkenntuis der politifchen
Gefchichte verholten hat, zeigt etwa der Bericht über die Verhandlungen
mit England im Jahre 1515 (S. 143t.), der fich auf eine ganz
äußerliche Aufzählung des Hin- und Herreifens der verfchiedeneu Ge-
fandten befchränkt; oder die Begeifterung W.s für die ,Ritterlichkeit'
Ludwigs XII. beim Tode Philipps des Schönen (S. 76), während doch
fchon Pirenne (III 70) richtig erkannt hatte, daß der König nur Maximilians
Regentfchaft zu verhindern fliehte (vergl. dazu Zurita VI 94b.); oder
wenn S. 31 der auch nach dem 100jährigen Kriege fortdauernde Gegen-
fatz zwifchen Frankreich und England tieffinnig folgendermaßen erklärt
wird: ,Der Rex Franciae et Angliae war noch allzu leicht zu haben gegen
den franzöfifchen König, deffen bloßes Dafein fchon jenen anfpruchsvollen
Titel zum Spott machte'. W.s Forfchungen find wohl noch nicht auf
Schottland ausgedehnt worden?

Aber auch bei den ihm näher liegenden Beziehungen Burgunds zu
Frankreich zeigt er kein tieferes politifches Verftändnis. So geftand
Frankreich Philipp dem Schönen den günftigen Heiratsvertrag von 1501
nicht etwa deshalb zu, weil er Erbe Ferdinands war, wie W. meint (S. 52),
fondern grade umgekehrt, weil Ludwig XII. auf einen Streit Philipps mit
den Spaniern rechnete. Das kommt doch deutlich in dem Verfprechen
des Königs zum Ausdruck, Philipp eventuell mit Waffengewalt bei der
Befitznahme Spaniens zu unterftützen. Daß Ludwig XII. damit nicht etwa
gegen das offenbare Intereffe Frankreichs die Vereinigung Spaniens und
Burgunds befördern wollte, zeigt, wenn es eines Beweifes bedürfte, fein
Abfchwenken von Philipp zu Ferdinand nach dem Tode Ifabellas der
Katholifchen.

Diefe Beifpiele, die leicht zu vermehren wären, mögen
genügen. Man erhält dadurch nicht den Eindruck, daß
die Arbeit hinreichend ausgereift fei. Und dem entfpricht
auch die äußere Form. Eine Scheidung von Wichtigem
und Unwichtigem ift fo gut wie gar nicht vorgenommen
worden; und demgemäß fehlt es auch an einer fcharf
durchdachten, ftraffen Dispofition.

Ein endgültiges Urteil über W.s Quellenbenutzung ift
nur in Lille möglich. Und wenn ich auch nach einem
fchon weit zurückliegenden dortigen Aufenthalt feftftellen
kann, daß W. mit den Liller Beftänden nicht aufgeräumt
hat — über Gattinaras Entlaffung z. B. ließe fich noch
mehr fagen, als W. S. 198 beibringt —, was bei deren
Umfang ganz felbftverftändlich ift und woraus W. nicht
der geringfte Vorwurf gemacht werden foll, fo muß ich
mich doch hier an das fchon veröffentlichte Material halten.

Und da befteht W. die Probe nicht immer. Die Schlöffe, die er
S. 119 aus feinen Beilagen 10 und 11 zieht, fcheinen mir nicht fo offenbar
' zu fein wie ihm. Er behauptet (S. 118), daß nach der Liller Abmachung
vom Okt. 1513 England ,einen einheimifchen Engländer als
Erzieher des Thronfolgers und als führende Perfönlichkeit in allen ge-
heimften politifchen Fragen foll entfenden dürfen'; nach einem Brief
Margaretens, den er fclbft veröffentlicht, foll der Betreffende ,des subgeetz
et vaxaulx de mondit seigneur' [Karl] fein (S. 223), alfo nur ein nieder-
ländifcher Vertrauensmann Heinrichs VIII. — S. 129 wird durch eine
Auslaffung der Siun eines Zitats aus Commines völlig verändert. Conim.
behauptet nicht, daß iii allen Staaten die Ämter verkauft werden foudem
daß es überall gute und fchlechte Räte gebel — Das Schlimmfle aber
ift Folgendes. In dem fchon erwähnten Schlußkapitel zitiert W. eine
Denkfchrift Granvellas von 1544. Der Minifter fucht hier den Sonderfrieden
von Crespy zwifchen Karl V. und Franz I., der der Abmachung
mit England zuwiderlief, daß die Verbündeten nur gemeinfam fich mit
Frankreich vertragen follten, gegen die, wie er meint, übertriebene Ge-
wiffenhaftigkeit feines Herrn mit folgenden Worten zu rechtfertigen: ,il
y a, sire, une maxime en matieres d'estat comme en toutes choses, que il
faut regarder plus ä la realite des choses que se traictent, en y conjoignant
ce qu'est possible et faysable selon Dieu et raison, que de advanturer et
hazarder pour crainte de scrupules non fondez' (Papiers d'etat du cardinal
de Granvelle III 27). Daraus macht W.i ,überkühn aus unbegründeter
Beforgnis', während Granvella den Kaifer doch nur davor warnt, Alles aufs
Spiel zu fetzen aus Furcht vor unbegründeten Gewiffensbedenken. Natürlich
fällt denn auch die Bemerkung hin, die W. daran knüpft: .welche
Uneinheitlichkeit noch im Wefen des Mannes auf der Höhe feiner Jahre'
(S. 203).

Hiernach will es mir fcheinen, als ob W., der ftets mit der grüßten
Selbftgewißheit alle feine Vorgänger fchulmeiftert, wohl Grund zu etwas mehr
Selbftkritik gehabt hätte. Geradezu grotesk aber wird diefe Selbflficherheit,
wenn W. auf die fpanifchen Dinge zu reden kommt, in denen er offenbar
noch gar nicht befchlagen ift. Während man bisher in Kaftilien einen Mittelftand
vermißte, fpricht W. von der .breiten Schicht eines Mittelftandes, wenn
man fo fagen darf, eines ftädtifchen Adels, der Hidalgos'(1) (S. 40). Die
Zentralverwaltuug foll ,italienifch beeinflußt fein', weil ,am Hof eine Reihe
von . . Kommiffionen mit getrennten Refforts, consejo de hacienda, de
guerra, de las ordenes und andere' beliehen. Dabei wurde der consejo
de hacienda erft 1523 von Karl V. nach niederläudifchem Mufter eingerichtet
; der consejo de ordenes ift jedenfalls nicht eingefetzt worden,
bevor die Ritterorden an die Krone fielen; 1506 werden noch zwei pre-
sidentes de las ordenes genannt (Zurita VI 107 a). Ja Carvajal bezeichnet
noch 1525 den fpäter consejo de Castilla genannten Rat einfach als
consejo, offenbar eben weil es vorher diefe Abteilungen nicht gab. Dann
entdeckt W. in Kaftilien ,eine auffallende Schwäche des Königtums'
(S. 41). Ich will der Kürze halber einfach auf das verweifen, was ich
vor 25 Jahren ausgeführt habe (Deutfche Zeitfchr. für Gefchichtswiff. I
383 ff.J. Der consejo de Castilla foll eine Art Nebenregierung, die Krone
auch in ihrer äußeren Politik befchränkt gewefen fein (S. 42). Es dürfte
W. fchwer fallen, diefe Behauptungen zu beweifen; bis dahin muß ich
fie für falfch halten.

Man darf wohl wünfehen, daß W. künftig feine Werke
erft ausreifen läßt, ehe er fie veröffentlicht. Wenn er
dann mit größerer Befcheidenheit auftritt, wird es auch
nicht fchaden. Jedenfalls glaube ich dargetan zu haben,
daß wir das Buch über ,die Anfänge Karls V.' hier nicht
erhalten haben.

Straßburg i/E. J. Bernays.

Archiv für Reformationsgelchichte. Texte u. Unterfuchgn.
In Verbindg. m. dem Verein f. Reformationsgefchichte.
Hrsg. v.D.WalterFriedensburg. 10.Jahrg. (111,384s.)
gr. 8°. Leipzig, M. Heinfius Nachf. 1913. M. 12.45

Der neue Jahrgang gibt drei größere Abhandlungen
neben einer ganzen Reihe Briefe und Akten. In die Frühzeit
evangelifcher Ordnungen führt O. Winkelmann, der
gegen G. Ratzinger und Franz Ehrle, dem der Nationalökonom
L. Feuchtwanger beiftimmt, den evangelifchen
Urfprung der Nürnberger Armenordnung von 1522
erweift. Mit Genuß folgt der Lefer dem fichern, ftreng
methodifchen Gang der Unterfuchung, in dem W. die
verfchiedenen Drucke und die handfehriftliche Überlieferung
bibliographifch genau fchildert, ihre Eigenart fcharf
■zeichnet und ihre zeitliche Aufeinanderfolge ficher be-
ftimmt. Was Ehrle als urfprüngliche Faffung annimmt,
(A), weil hier die Erlaubnis zum fonft verbotenen Bettel
für Allerheiligen und Allerfeelen und die Fürbitte für die
toten Wohltäter fich findet, alfo zwei Erbftücke aus der
mittelalterlichen Zeit, und darauf die Annahme des katholifchen
Charakters der Armenordnung baut, erweift W.