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Ausgabe:

1914 Nr. 1

Spalte:

22-24

Autor/Hrsg.:

Ménégoz, Eugène

Titel/Untertitel:

Le salut par la foi indépendamment des croyances 1914

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Theologifche Literaturzeitung 1914 Nr. 1.

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Debatten kamen nicht zuftande. Einmal nur erlebte ich
einen ernfthaften Anfatz dazu; aber er fcheiterte, da der
Leiter die Frage des Interpellanten mißverftand. In
unferem Kreife hieß es damals, C. felbft habe einmal bekannt
, er habe nie katechefieren können. Mir fchien das
fehr glaublich. — Feierftunden von eigentümlicher Weihe
waren feine homiletifchen Übungen. Von homiletifcher
Technik war wenig die Rede, auf Erfaffung der Sache
(wie er fie auffaßte) und fchlichten Vortrag kam alles an.
Eindringlich und wirkfam warnte er vor der unziemenden
Gefchmacklofigkeit, Jefus mit hohen Beiwörtern zu
fchmücken. Von feinen Predigten habe ich kaum eine
verfäumt. Sie waren erfüllt von tiefftem Ernft und von
ftarker Gewißheit. Freilich, worüber er auch predigen
mochte, es war im Grunde immer diefelbe Predigt, das
Wort vom Kreuz: Sündenelend und Gnadentroft. Aber
fie konnte nicht ermüden, es fleckte immer der ganze
Mann dahinter. Und er machte den Eindruck, ein ganzer
Mann zu fein, furchtlos und tapfer, ein Feind aller Heuchelei
, der fich nicht fcheute, auch Geünnungsgenoffen
derb die Wahrheit zu fagen. Er wollte auch zu tapferer
Mannhaftigkeit erziehen. So tadelte er einft bei einer
Promotion den Lizentianden, weil er fo zahme, vorfichtige
Thefen aufgefüllt habe (er hatte freilich auch behauptet,
der Hebräerbrief fei an paläftinifche Judenchriften ge-
fchrieben). Und wenn endlich die Biographie ergreifende
Zeugniffe von Selbftkritik, von Beugung unter das Urteil
eines Freundes, von chriftlicher Demut vor Gott anführt:
fo paffen fie ganz in das Bild, das fich mir damals un-
verlöfchbar eingeprägt hat.

Diefes Bild ift mir durch die vorliegende Biographie
aus der Feder des Sohnes wieder zu voller Lebendigkeit
erweckt. Natürlich ift es auch durch viele Züge aus
Cremers Vorgefchichte und aus feiner kirchenpolitifchen
Tätigkeit (um die wir Studenten uns damals nicht kümmerten
) bereichert und ergänzt worden. Mir ift aber
wichtig, feftzuftellen, daß ich das uns vorgelegte Perfonen-
bild, foweit ich vergleichen kann, für zutreffend und lebendig
halte. Natürlich ift die von mir in jenem Rückblick angedeutete
oder ausgefprochene Kritik an dem Theologen
C. vom Sohne nicht geteilt. Aber er berichtet fo getreu
und objektiv, läßt C. felbft fo viel zu Worte kommen,
daß der unterrichtete und urteilende Lefer die feiner Auf-
faffung der Dinge entfprechende Kritik fich ohne Mühe
felber hinzufügt. Freilich beftätigt der Biograph in ge-
wiffer Weife unfern Eindruck von Cremers katechetifcher
Unfähigkeit; er berichtet nämlich, daß C.'s Vater, ein erprobter
Lehrer, geäußert habe: ,Ich habe nicht geglaubt,
daß du etwas nicht könnteft, aber zu katechefieren ver-
ftehft du nicht' (S. 63). Aber der Sohn und Schüler zieht,
naturgemäß, daraus nicht die Folgerung, die ich feinerzeit
in Greifswald auf Grund vielfacher Beobachtung zog, daß
C. nämlich wenig verftand, feine Zuhörer zu felbftändigem
theologifchen Denken zu erziehen. Das hängt mit einem
anderen Punkt zufammen. Der Biograph berichtet uns,
daß C. eigentlichen Zweifel theologifcher Art (mit reli-
giöfen Anfechtungen war er bis an fein Ende öfter gequält
) nicht durchgemacht habe. Wenn er dann aber
urteilt (S. 19), fein Beifpiel zeige, daß man die Irrwege
des Zweifels verliehen könne, auch ohne fie felbft gegangen
zu fein, fo halte ich das für eine merkwürdige Selbft-
täufchung. Das Richtigere deutet der Biograph S. 321 f
felbft an, daß C. nämlich den intellektuellen Zweifel immer
als Unglauben aufzudecken fich bemüht habe. Als Zeichen
intellektueller Redlichkeit und perfönlicher Regfamkeit
vermochte er den Zweifel nicht zu würdigen. Für das
berühmte Wort, das einft ein anderer Univerfitätslehrer
am Grabe eines in feinen Zweifeln geftorbenen Theologie-
ftudenten fprach: ,er ftarb in feinem Beruf, würde C. kein
Verftändnis gehabt haben.

_ Indeffen über die Grenzen des Denkens und der Theologie
Cremers vom Sohne ein Wort der Kritik zu erwarten
, ift vielleicht unbillig. Eher fchon möchte man

es in kirchenpolitifchen1 Fragen erwarten. Ich denke
dabei nicht an die, freilich auch durch den Sohn nicht
befriedigend erklärte Tatfache, daß C. bekanntlich feiner,
zeit Herrn von Nathufius, als verantwortlichen Redakteur
der Kreuzzeitung, die gerichtlichen Folgen für feinen Angriff
auf den Oberkirchenrat tragen ließ. Ich verliehe
das freilich nicht; doch foweit ich C. kenne, lag es nicht
an mangelndem Mut, für feine Überzeugung einzuftehen.
Aber mußte der Biograph eine aus der Hitze des Kampfes
verftändliche kränkende Mißdeutung der Motive des Oberkirchenrats
, zumal feines verehrungswürdigen Präfidenten,
jetzt noch ähnlich wiederholen? (S. 106 oben). Auch klingt
es aus dem Munde Ernft Cremers befremdlich und unerfreulich
, wenn er über Ritfchls Schüler urteilt: ,fie führen in
ermüdender Eintönigkeit die Sprache des Meifters'. Dies
Urteil ift, von anderem zu fchweigen — objektiv ebenfo
unrichtig, wie der Vergleich zwifchen Harnacks Wefen
des Chriftentums und Schleiermachers Reden. ,Wie ganz
anders hatte Schleiermacher die Perfon Jefu in den Mittelpunkt
geftelltl' In Schleiermachers Reden findet er ,die
Gedanken des pofitiven Chriftentums'; von Harnack aber
heißt es: ,war es etwas anderes als Rationalismus, was
er vortrug?' (S. 297).

Doch wir fchlagen diefe Biographie nur auf, um uns
von dem Biographen über feinen Helden unterrichten zu
laffen. Und dafür haben wir ihm zu danken; mit Umficht
und Fleiß und dem intimen Verftändnis, das nur aus
Liebe und Verehrung entfpringt, hat er ihn gefchildert.
Und er verdiente diefe Schilderung. Denn wie wir auch
über den bleibenden Wert feiner Theologie und feiner
Kirchenpolitik denken, fie ift ein Stück Gefchichte gewefen;
und er felber war, bei aller Enge und Herbigkeit feines
Wefens, ein Mann und ein Chrift.

Hannover. Schuft er.

Menegoz, Eug.: Publications diverses sur le Fideisme et

son application ä l'enseignement chretien traditionnel.
Troisicme volume. (X, 565 S.) 8°. Paris, Iufchbacher
I9!3- fr. 7.50

Le salut par la foi independamment des croyances. Ex-

traits des publications diverses sur le fideisme de Eug.
Menegoz. (VIII, 198 S.) 8«. Paris, Fifchbacher 1913.

fr. 2 —

Schon fechsmal war es dem Ref. vergönnt, kleinere
oder umfangreichere Schriften des auch unter uns hoch-
gefchätzten ehemaligen Lehrers an der evangelifch theologifchen
Fakultät zu Paris in diefem Blatt zur Anzeige
zu bringen (1895, 14 und 17; 1900, 18; 1905, 16; 1907, 20;
1909, 22). Der wuchtige Band, um den es fich heute
handelt, fchließt fich aufs engfte an die beiden 1900 und
1909 erfchienenen Sammlungen an, in denen der Verf. feinen
Grundfatz von dem nicht durch die Glaubensmeinungen
(croyances) fondern durch den Glauben (foi) bedingten
Heil (salut) mit unermüdlicher Tapferkeit vertritt und
gegen alle Mißverftändniffe, Entftellungen und Vorurteile
von rechts und links in feiner urfprünglichen Abficht und
feiner authentifchen Bedeutung verteidigt. Während die
früheren Bände auch längere Auffätze und ältere Beiträge
größeren Umfangs aufgenommen hatten, befteht diefer
dritte Band aus 120 Artikeln, die bereits alle in theologifchen
Revüen oder kirchlichen Blättern erfchienen
waren. Die journaliftifche Tätigkeit und die mit bewunderungswürdiger
Virtuofität getriebene Propaganda
durch die Organe der religiöfen Preffe find die glückliche
und erfolgreiche Fortfetzung der akademifchen Wirkfam-
keit M's und bieten ihm reichen Erfatz für den vor einigen
Jahren verlaffenen Lehrftuhl. In dem jugendlichen Eifer,

1 Den kirchenpolitifch intereffierten Lefem empfehle ich befonders
das intereflante und im Vergleich mit der Gegenwart lehrreiche Kapitel
über Cremers Berufung nach Greifswald.