Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1914 Nr. 1

Spalte:

20

Autor/Hrsg.:

Markowitz, Alfr.

Titel/Untertitel:

Die Weltanschauung Henrik Ibsens 1914

Rezensent:

Reich, Emil

Ansicht Scan:

Seite 1

Download Scan:

PDF

19

Theologifche Literaturzeitung 1914 Nr. 1.

20

methodifche Einficht hat fchließlich auch das Studium Markowitz, Alfr.: Die Weltanschauung Henrik Ibfens. (382 S.
der Gefchichte gefördert. Für die der Reformation un- m. x eingeklebten Bildnis.) 8°. Leipzig, Xenien-Verlag

mittelbar naheftehende Generation hat in puncto Gefchichts-
fchreibung allerdings Melanchthon (der übrigens Großneffe
und nicht ,Vetter', wie es S. 8 heißt, Reuchlins war) die
Richtlinien geftellt. Doch fcheinen mir auch hier die
Akzente nicht immer richtig gefetzt zu fein. Daß ,die
Reformation und die ganze reformatorifche Gefchichts-
fchreibung der Glaube an den nahe drohenden Weltuntergang
beherrfcht' (S. 17), ift zu viel gefagt, fo fehr
ftark ift diefer Gedanke nicht gewefen. Und der Satz,
der wiederholt begegnet: ,die Reformation ftellt Staat
und Kirche als gleichberechtigte und ausfchlaggebende
Faktoren im gefchichtlichen Gefchehen hin' fchiebt der

1913. M. 6 —; geb. M. 7.50

Ein dicker Band mit magerem Inhalt. Des Verfaffers
Mutterfprache bleibt bei feinem Stil unklar. Klar hingegen
ift feine Unbekanntfchaft mit Ibfens Mutterfprache, ein fehr
bedauerlicher Mangel, denn es ift doch allzukühn, ein
umfaffendes Werk auf einen einzigen Satz aus einem Brief
Ibfens an einen anderen Norweger aufzubauen, wenn man
ihn nur aus der Überfetzung kennt. Der Satz: ,Der Aneignungstrieb
jagt fort von Gewinn zu Gewinn' ftimmt
zum Glück mit dem Original überein, die Bedeutung jedoch
, welche der Verf. dem Wort Aneignungstrieb ohne

Reformation Tendenzen zu, die fie noch nicht kennt. Die j jedes Bedenken als alleinige zumißt, ftimmt weder mit

Reformation hat nur den weltlichen Kreis innerhalb des
corpus Christianum gehoben, aber ihn nicht völlig emanzipiert
, fondern die Obrigkeit nur als chriftliche Obrigkeit
gelten laffen. Wenn darum Carion in feiner Chronik den

demdeutfchen noch mit dem norwegifchen Sprachgebrauch.
Verf. fleht im Aneignungstrieb ftets nur eine ideale, aufwärts
und vorwärts drängende Macht; von dem minder
vorteilhaften Aneignungstrieb von Dieben, Hochftaplern

Bericht über das weltliche Reich und den über die Kirche Sexualverbrechern fcheint er keine Kenntnis zu befitzen,
trennt, fo liegt darin kaum ,der Anfang der ftaatlich- i Auch feine Kenntnis Ibfens befchränkt fich auf die ,Sämt-
politifchen und der kirchlichen Gefchichtsfchreibung', ! liehen Werke'; daß ein Buch, welches 3'/,, Jahre nach

fondern nur der gut mittelalterliche Gedanke der Scheidung
der beiden Bühnen, civitas dei und civitas terrena. Wertvoll
find nun M.-G.'s Ausführungen über die Verteilung
der Mitarbeit zwifchen Melanchthon und Carion an der
Chronik; mit Erfolg wird hier über Fueter (Gefchichte
der neueren Hiftoriographie) hinausgegangen. Es gelingt,
den Anteil der beiden an der Chronik genauer abzugrenzen,
mit dem Refultat, ,daß die Chronik zum allergrößten Teil
Melanchthon zuzufchreiben ift' (S. 34). Es kann die Ausgabe
von 1532 nicht gegen die fpätere lateinifche Bearbeitung
ausgefpielt werden. ,Die beiden Werke können
als identifch und fich ergänzend angefehen werden.' M.-G.
analyfiert eingehend Melanchthons Anfchauungen von der
Gefchichte, im Urteil ihn (vgl. oben) etwas zu modern
wertend, um dann feinen Einfluß auf die proteftantifche
Gefchichtfchreibung, vorab Sleidan und Flacius Illyricus,
feftzuftellen und daran die Hiftoriographie der Gegenreformation
anzufchließen. Die Anficht, daß fie für den
Katholizismus eine neue Methode bedeute, dürfte nicht
richtig fein, wenn die proteftantifche Gefchichtsfchreibung,
die, was M.-G. richtig erkennt, von der katholifchen kopiert
wird, noch ftark mittelalterlich ift. Intereffant ift wieder
der Schlußabfchnitt, der Einflüffe der Jurisprudenz auf
Bodin und Keckermann zu fixieren fucht. Auf alle Fälle
etwas zu ftark. Warum z. B. foll der Name methodus
(sei. ad fächern historiarum cognitionem) der juriftifchen
Literatur entlehnt fein? Wenn hier überhaupt eine Entlehnung
anzunehmen ift (methodus heißt nichts anderes
als methodifche Einführung), fo wäre an des Erasmus'
methodus vor feiner Ausgabe des NT. von 1516 zu denken.
Auch in die Einteilung historia divina, humana et naturalis
fpielt die Theologie hinein mit dem Naturrechtskomplex,
der keineswegs nur ,juriftifch' ift. Die Wertung Keckermanns
als des ,erften wirklich bedeutenden Gefchichts-
theoretikers' ift neu und wird beachtet werden müffen.
Seine Gedanken find fehr intereffant, fchade, daß M.-G.
fie nicht fchärfer heraushebt. Der Satz klingt fall wie
Rickerts Gefchichtsphilofophie: historia ... est explicatio
et notitia rerum singularium sive individuorum . . . historia
non est notitia universalis. Ein Anhang berichtet über
Carions Leben und Schriften. — Das Buch M.-G.'s wäre
weit fördernder geworden, wenn er den Satz Fueters, daß
die damalige Hiftoriographie verficht habe, ,humaniftifche
Form und theologifche Gefchichtsauffaffung in eine äußerliche
Verbindung zu bringen'zum Grundprinzip genommen
und die darin gefetzten beiden Faktoren in ihrer Selb-
ftändigkeit und ihrem Ineinander fcharf herausgearbeitet
hätte.

Zürich. Walther Köhler.

dem Erfcheinen der 4 Nachlaßbände herauskommt, auch
diefe mitberückfichtigen muß, davon ahnt fein hierin recht
fchwacher Aneignungstrieb nichts. Er kennt den Nachlaß
überhaupt nichtl Da er die überreiche Ibfenliteratur
nicht zitiert, fcheint ihm auch diefe unbekannt, doch
decken fich viele feiner Erklärungen mit längft gedruckten.
Einzelne Sätze find originell und geiftreich, fo wenn Verf.
zu beweifen fucht, die begehrende Liebe fei der Quell
der aufopfernden Liebe. Im Ganzen bleibt es ein mißlungenes
Werk mit dürftigem Gedankenkern, unnötig auf-
gefchwellt durch unzählige feitenlange Zitate aus Ibfen.
Was über Gudmund, Rosmer, Ejlert und Thea gefagt wird,
ift einfach falfch. Wenn Noras Gatte drei Mal Helmfted
(ftatt Helmer) genannt wird, ift das doch bedenklich. Im
Chriftentum fieht Verf. nur die Gottesfurcht und über
fieht die Gottesliebe. Das Buch kann nicht empfohlen
werden, doch fei die hübfehe Formulierung des
Grundproblems Ibfens rühmend hervorgehoben: ,das
Problem des Kampfes zwifchen ererbter Sinnlichkeit
und erftrebter Geiftigkeit und der Verföhnung diefer
beiden Mächte des Weltlebens durch die Allmacht der
opferwilligen Liebe'.

Wien. E. Reich.

Cremer, Lic. Ernft: Hermann Cremer. Ein Lebens- u.
Charakterbild. (VII, 384 S. m. 1 Bildnis u. i4Abbildgn.)
Gütersloh, C. Bertelsmann 1912. M. 5.40; geb. M. 6 —

Dies Bild zu betrachten, ift mir überaus reizvoll gewefen
. Lebhaft verfetzte es mich in vergangene Zeit.
Meine drei letzten Studienfemefter habe ich um Cremers
willen in Greifswald verbracht, und es gibt keine Seite
feiner akademifchen Tätigkeit, die ich nicht kennen gelernt
hätte. In der Vorlefung über bibl. Theologie hörten wir
in der Einleitung wohl, wir befäßen nur wenige verba
ipsissima Jefu; nachher wurden dann aber doch die Worte
aus Synoptikern und Johannes unterfchiedslos als Zeug-
niffe gewertet. Die Glaubenslehre mußte durch den heiligen
Ernft der Überzeugung tiefen Eindruck machen.
Freilich, daß die eigenartige Verföhnungslehre wirklich
ftreng biblifch fei, war mir zweifelhaft; das Mißverftehen
der bekämpften Gegner, zumal Ritfchls, peinigte mich;
und wenn er feine Vorlefung etwa buchftäblich mit den
Worten fchloß: Meine Herren, was ich Ihnen vorgetragen
habe, daß es die Wahrheit ift, das weiß ich, Ihre Sache
dürfte es fein, fich das anzueignen (natürlich innerlich,
in Gewiffen und Herz) — fo erfchrak ich fchon damals
über diefe offenbare, aber ihm völlig unbewußte Ver-
wechfelung von Theologie und Glaube. Das dogmatifche
Seminar war eigentlich nur eine Ergänzung der Vorlefung,