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Ausgabe:

1914 Nr. 13

Spalte:

406-407

Autor/Hrsg.:

Jung, C. G.

Titel/Untertitel:

Versuch einer Darstellung der psychoanalytischen Theorie 1914

Rezensent:

Weber, Wilhelm

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4°5

Theologifche Literaturzeitung 1914 Nr. 13.

406

wenn es fich doch einftellt (S. 220), dann hat er eben
,mit feinen Urteilen mehr zurückzuhalten als es Forfcher
gewohnt find, die auf anderem Standpunkt flehen' (S. 221).
Vom Standort des naiv frommen Laien aus urteilend,
für den alle hiftorifche Forfchung im letzten Grund nur
Wert hat, fofern fie der Kirche dient, hat er kein tieferes
Verftändnis für die tragifchen Konflikte, die dem katho-
lifchen Gelehrten drohen, wenn er als ernfter Forfcher
fich betätigt. Auch die Einrichtung des Imprimatur bereitet
ihm keine Sorgen. Gerade wegen diefer offenen
unverhüllten Vertretung einer ungebrochenen katholifchen
Denkweife hat das Buch aber feinen Wert, und es enthält
trotz einzelner Seltfamkeiten auch manches Gute
und Beachtenswerte fpeziell dort, wo die Notwendigkeit
einer religiöfen Auffaffung der Weltgefchichte betont
wird.

Göttingen. Carl Mirbt.

Kleinpeter, Dr. Hans: Der Phänomenalismus. Eine natur-
wiffenfchaftl.Weltanfchaug. (VII, 285 S.) gr.8°. Leipzig,
J. A. Barth 1913. M. 5.40; geb. M. 6.20

Kleinpeter erklärt, in diefem Buche zeigen zu wollen,
daß das Syriern des Phänomenalismus an innerer Ge-
fchlofienheit hinter keinem philofophifchen Syftem zurückfleht
. Gleichwohl kann von fyftematifchen Grundzügen
oder gar von einem pofitiven Aufbau in dem ganzen
Buche nichts gefunden werden. Die erften beiden Ab-
fchnitte befchäftigen fich mit den Etappen der gefchicht-
lichen Entftehung des Phänomenalismus, und der umfangreiche
13. Abfchnitt bietet wieder eine ,Gefchichte des
Phänomenalismus', der .Anhang' (S. 263—282) Polemik.
Die zwifchenliegenden Abfchnitte 3—12 erörtern bei
fleter kritifcher Wendung grundfätzliche Fragen: der erlte
Grundgedanke des Phänomenalismus, die konftruktiven
Hilfsmittel der Wiffenfchaft, die Welt als Empfindung und
Dichtung, der Begriff der Erkenntnis, der Wahrheit, der
Wiffenfchaft, die Relativität aller Erkenntnis, das biologifch-
voluntariftifche Erkenntnisideal. Metaphyfik und Erkenntnislehre
, der Phänomenalismus in den einzelnen Wiflen-
fchaften. — Der erfle Philofoph in der Richtung zum
Phänomenalismus war danach Locke, der die Notwendigkeit
der unmittelbaren Erfahrung einfah, die ihrer Natur
nach nicht mitteilbar ift; Goethe fleht als der zweite
Entdecker diefer Wahrheit da. Darauf hat Nietzfche den
entfcheidenden Wurf getan, ,mit voller Klarheit' die
Schwierigkeit der bisherigen Logik erkannt und fich dadurch
als den .Schöpfer einer neuen pofitiven, auf der
Biologie bafierten Erkenntnistheorie' (siel S. 27) erwiefen.
Aber erft Mach und die gleichftrebenden Naturforfcher
bildeten die phänomenaliftifche Philofophie aus. Wie in
feinem früheren Buche ,Die Erkenntnistheorie der Natur-
forfchung der Gegenwart' (1905) geht alfo Kleinpeter mit
Mach, Clifford und Stallo zufammen, in deren Reihe er
nunmehr Vaihinger mit feiner .Philofophie des Alsob'
aufnimmt, während Kant, Cohen, Natorp, Hufferl, Külpe,
Stumpf, Riehl und Richert im wefentlichen abgelehnt
werden. Denn diefer Phänomenalismus foll nichts anderes
als im Intereffe der Exaktheit wiffenfchaftlicher Erkenntnisform
genau das wiedergeben, was nach dem heutigen
Stande der Wiffenfchaft als berechtigt angefehen werden
kann' (S. 140). Wenn nun der Verfaffer Gewicht darauf
legt, daß für die Formulierung und Wiedergabe des einzigen
Gegebenen, nämlich der Empfindungen im Sinne
von unmittelbaren Erlebniffen, die alte Logik nicht ausreicht
, fo ift das gewiß richtig, aber ebenfo wenig eine
Entdeckung des neuen Phänomenalismus, wie die von
ihm einzig auf Nietzfche zurückgeführte Einficht, daß die
eigentlichen Empfindungen (diefe immer in demfelben
Sinne genommen) nur empfindbar und nicht wiedergebbar
find. Wir wiffen es längft, daß zum vollen Verftändnis
einer Ausfage die Mit- und Nachempfindung oder das
Erleben des der Ausfage entfprechenden Komplexes von

Bedeutungswerten gehört (d. i. die Einfühlung als eine
Form der .Intuition'). Wo das intuitive Anpaffen an den
Sinn der Worte fehlt, da ift eben bloß ein fymbolifches
Verftändnis der Begriffsinhalte möglich. Es ift gar nichts
fpezififch Phänomenaliftifches, was hiermit hervorgehoben
wird. Von einer anderen ihm wichtigen Auffaffung, dem
Relativismus, fagt Kl. felbft, fie fei .keine Spezialität des
Phänomenalismus' fondern ,eine erkenntnistheoretifche
Notwendigkeit' (S. 134). Gleichwohl betont er diefe .relative
Art aller Erkenntniffe' außerordentlich ftark und
ftellt fie in Gegenfatz gegen die .Begriffe' Gott, Seele und
Atom, mit denen fich das Denken ein bequemes Ruhekiffen
fchaffe. Wieder ift es nach ihm Mach gewefen, der
auf diefe grundftürzende Wahrheit hingelenkt hat. Nun
ja, Mach hat allerdings gefagt, jeder Gegenftand fei nichts
als ein Komplex unferer Sinnesempfindungen. Aber
Kant hatte fchon viel tiefer gefehen, indem er für die
Erfaffung eines Gegenftandes das Raum- (oder Form-)
Schema zu den Eigenfchaften hinzufügte, und die Phyfik
und die Biologie fügen jetzt weiter die Funktion zu den
Merkmalen eines folchen Komplexes unferer Sinnesempfindungen
. Der Verf. nimmt unter den Phänomenaliften
feinen Standpunkt deutlich auf der Seite der realiftifchen
Abneigung gegen religiöfe und metaphyfifche Fragen,
beobachtet jedoch gegen die Metaphyfiker foviel Entgegenkommen
, daß die Ablehnung der Metaphyfik keinen
.Gegenfatz' gegen die metaphyfifche Auffaffungsweife bedeuten
foll (S. 141). Aber nur eine entfchloffene Ablehnung
derfelben flimmt mit dem .pofitiven Programm des
Phänomenalismus' überein: ,er verzichtet auf alle Arten
von Idealen ... er mag auch nichts wiffen von einem
Kanon oberfter Gefetze' (S. 260). Daher ift in der Ethik
,die Annahme eines feilen fittlichen Ideals als einer felbft-
verftändlichen Vorausfetzung ein noch ungeheuerlicherer
Verfloß gegen das Prinzip der Wiffenfchaftlichkeit als das
blinde Vertrauen auf die Axiome' (S. 189). Daß es fich
hier nicht etwa um Verwechfelung des fittlichen Ideales
mit den zeitlich bedingten Formulierungen der fittlichen
Normen handelt, geht aus der Anerkennung der Nietz-
fchefchen Moral hervor. Freilich will mir fcheinen, daß
auch hiermit ein feiles Ideal angegeben fei. Schließlich
ift es ganz ungerechtfertigt, wenn Verf. als eine Neuerung
feiner phänomenaliftifchen Gewährsmänner die Forderung
der indikativifchen ftatt der imperativifchen Ethik hin-
ftellt. Es ift ihm augenfcheinlich unbekannt, daß Schleiermacher
diefe Forderung mit allem Nachdruck aufgeftellt
und auch zu realifieren verflicht hat.

Wien. K. Beth.

Jung, C. G.: Vertuen einer Darfteilung der ptychoanalytilchen
Theorie. Neun Vorlefgn., geh. in New-York im September
1912. (Aus: Jahrbuch f. pfychoanalyt. u.
pfychopatholog. Forfchgn.', V. Bd.) (V, 135 S.) gr. 8°.
Wien, F. Deuticke 1913. M. 3.60

Die Darfteilung von Jung, dem produktivften Anhänger
Freuds bedeutet eine wefentliche Veränderung der ur-
fprünglichen Freudfchen Lehre. Befonders betont er, daß
die Urfache der Neurofen in Gegenwartskonflikten, nicht
wie Freud meint in kindlichen Sexualerlebniffen zu fuchen
fei. Diefe Sexualerlebniffe aus der Kindheit feien auch
vielfach gar nicht real, fondern nur Phantafie. Trotzdem
wird ihnen eine gewiffe, mehr diagnoftifche Bedeutung
beigemeffen, weil fie die .Libido' des Neurotikers von den
Aufgaben der Wirklichkeit abziehen und auf fich abfor-
bieren. Unter Libido verlieht Jung aber nicht mehr den
Sexualtrieb ausfchließlich, fondern die Gefamtheit der
Triebkräfte und Willensenergien, welche den Menfchen
zur Erhaltung des Individuums und der Art und zur
Lebensbetätigung antreiben. In Konfequenz diefer breiteren
Auffaffung betont dann Jung auch, daß das Saugen
und andere motorifche Äußerungen der Säuglinge nicht