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Ausgabe:

1914 Nr. 11

Spalte:

344

Autor/Hrsg.:

Bürckstümmer, Christian

Titel/Untertitel:

Der Religionsunterricht in der Volksschule 1914

Rezensent:

Kabisch, Richard

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343

Theologifche Literaturzeitung 1914 Nr. 11.

344

belehrt uns, daß die ethifche Weltordnung keine onto-
logifche Bedeutung hat, fondern nur mit dem Menfchen,
als eine von ihm geftellte Forderung entfteht und befteht,
und ,mit dem letzten Menfchen wieder verfchwindet'. ;
Zuletzt foll auch die Ethik der Mechanik untergeordnet
werden. Die ethifchen Werte haben nur eine .ideale
Natur', was in diefem Falle bedeutet, daß fie nur für
das Bewußtfein des Menfchen als Soll gelten, während
die Weltentwickelung im Großen nur ein Entftehen und
Vergehen aus inneren und äußeren Notwendigkeiten aufweift
, und fo bleibt als fein letztes Wort nur die Wahl
zwifchen einer unendlich wiederholten Wiederkehr des
Gleichen, weil doch die Subftanz und ihre Eigenart und
die Urfachen der Mechanik immer die gleichen find, und
der Annahme eines abfoluten Endes durch .innere Er-
fchöpfung der Subftanz'. So bleibt er in dem Dualismus
ftecken, daß er das menfchliche Leben von der äfthetifchen
Wertung aus als das Erhabenfte und Tragifchfte in der
ganzen Welt anfleht, als das Erhabenfte in der inneren
Gewalt des ethifchen Menfchen, die über alle Lebensfeffeln
hinaus tätig ift, als das Tragifchfte in dem .Ringen des
Menfchen um die Realifation der ethifchen Ordnung, mit
dem Ende unverrichteter Sache das Feld räumen zu
müffen'. Zum Schluß gibt er diefer .Menfchheitstragödie' j
in dem .gefeffelten Prometheus' poetifchen Ausdruck. J
Daß er übrigens mit diefer dualiftifchen Philofophie fich |
befriedigt fühlen kann, wie er in der Vorrede fagt, ift {
nur erklärlich, wenn man fich vergegenwärtigt, daß er
auf der einen Seite den noch immer mächtigen Naturalismus
für unwiderleglich hält, weil nun einmal die Empirie
das Entftehen und Vergehen aufweift, und daß er auf |
der anderen Seite fich doch auch nicht dem Eindrucke !
entziehen kann, daß die menfchliche Natur ein über die !
Empirie hinausgehendes ethifches Ideal fordert. Gänzlich
unbegreiflich aber bleibt es, wie er doch wieder in
letzter Inftanz auch diefe Bildung des Ideals auf einen !
notwendigen Naturdrang zurückführen will, da auf diefe j
Weife die Natur oder die produktive Subftanz in einen '
vollkommenen Widerfpruch mit fich felbft gerät, indem j
fie ein Ideal des Soll hervorbringt, deffen Realifation, die I
doch in dem Soll gefordert ift, fie nicht zuftande bringt, j
Er befindet fich in diefer Hinficht in einem auffallenden
Einklang mit den pejoriftifchen Peffimiften, fofern diefe
auch eine pofitive Ethik fordern, mit dem Bewußtfein,
daß zuletzt doch alles der Vernichtung anheimfällt. Diefe ;
unbewußt dualiftifchen Richtungen bilden einen Übergang :
von Naturalismus und naturaliftifchem Eudämonismus zu |
einem konfequenten der Natur ihre berechtigte Stelle
laffenden, metaphyfifch beftimmten ethifchen Idealismus.

Königsberg. Dorner.
Schubert, Botfchaftspred. Dr. Ernft: Die evangelifche Pre.
digt im Revolutionsjahre 1848. Ein Beitrag zur Gefchichte
der Predigt wie zum Problem der Zeitpredigt. (Studien
zur Gefchichte des neueren Proteftantismus, 8. Heft.)
(III, i8oS.)gr. 8°. Gießen, A.Töpelmann 1913. M. 4.80
Sollte uns die gegenwärtige Erinnerungszeit an 1813
bis 15 mehr Sinn für die Beteiligung an der Politik beibringen
, fo kann uns diefe ausgezeichnete predigtgefchicht-
liche Studie die rechten Wege weifen. Sch. hat alle
erreichbaren Predigten aus dem Jahr 1848 durchgefehen
und ihren verwertbaren Inhalt fo angeordnet, daß er zu-
erft die Stellung der Prediger zu den Ereigniffen und dann
die zu den Ideen des Jahres darfteilt. Das Bild, das fich
fo ergibt, faßt er kurz zufammen und beurteilt dann die
politifchen und die religiöfen Anflehten der kirchlichen
Gruppen, zu denen jene Prediger gehören; dabei ergibt
fich, daß die theologifch und kirchlich freien Geiftes auch in
politifcher Beziehung die liberalften und fortgefchrittenften
find, ebenfo wie die Orthodoxen in religiöfer und in politifcher
Beziehung fich konfervativ verhalten. Wertvolle
Grundfätze für die Zeitpredigt der Gegenwart machen den

Schluß: religiöfe Gefinnung und politifches Verftändnis im
Bund machen den politifch wirkfamen Prediger aus; nie
darf man den entgegengefetzten politifchen Standpunkt als
unchriftlich bekämpfen; vor allem muß die Zeitpredigt fich
ein Auge für weitere Entwicklungsmöglichkeiten wahren.

Heidelberg. F. Niebergall.

Biirckftiimmer, Pfr. Chriftian: Der Religionsunterricht in der
Voiksichule. Unterfuchungen zur Reform der religiöfen
Jugendunterweifg. (V, 197 S.) 8°. München, C. H.Beck
1913- M.3.60
Der Verfaffer hat Reins Stimmen zur Reform des
Religionsunterrichts gelefen, und diefe Lektüre hat ihn,
fo fcheint es, zur Abfaffung feines Buches veranlaßt. Das
eigene, was er zu geben hat, ift trotz eines ernften und
warmen Willens zur Sache fo wenig, daß es ihn kaum zu
einer folchen Schrift getrieben haben dürfte. Aber auch
die Auseinanderfetzung mit den Gedanken anderer ift
infolge der Einfeitigkeit feiner Literaturkenntnis fehr
dürftig, ja zum größeren Teil von vornherein veraltet.
Wer, von der genannten Schrift abgefehen, über die
Herbartfche Schule eigentlich nicht hinausgekommen ift,
wer Unterfuchungen zur Reform der religiöfen Jugend-
unterweifung anftellen will und doch von Niebergall fo
gut wie nichts, von Smend, Schiele, Zurhellen, Paul, Krohn
u. a. überhaupt nichts weiß, der verurteilt fein Buch zu
einem Buch von geftern. Auch ein Überblick über den
Inhalt läßt erkennen, daß eine wirkliche Förderung in der
Reformbewegung hier kaum zu gewinnen ift. Es werden
behandelt auf S. 1—137: I. Mißftände im religiöfen und
kirchlichen Leben der Gegenwart. Mitfchuld des Religionsunterrichts
; II. Der Religionsunterricht und die Schule;

1. Gründe für die Verftaatlichung des Religionsunterrichts;

2. Die Richtlinien, die für den ftaatlichen Religionsunterricht
aufgezeigt werden; 3. wie foll man fich gegen diefe
Reformverfuche verhalten? III. Das Ziel des Religionsunterrichts
. IV. Der Weg zum Ziele. Grundlegendes. V.
Der Weg zum Ziele. Folgerungen. 1. Erziehung zur individuellen
Frömmigkeit. 2. Erziehung zur Gemeindemit-
gliedfchaft. 3. Erziehung durch Vorbild, Übung und
Zucht. — Dann folgen auf weiteren 60 Seiten VI. Der
Unterrichtsftoff und VII. Das Lehrverfahren. Da es nun
auf Lehrftoff und Lehrverfahren ja doch wohl eigentlich
ankommt, fo ift dies Verhältnis von I—V zu VI und VII
nicht eben vertrauenerweckend. Und fo fehen wir uns
denn am Ende auch nicht viel weiter gebracht als zu der
Kenntnis, daß der Lehrftoff aus Biblifcher Gefchichte,
Katechismus, Kirchengefchichte und Kirchenlied befteht
(die Bibel als eigene Größe fcheint vergeffen zu fein), und
daß beim Lehrverfahren die Formalftufen Pierbarts nützlich
fein können, wenn man ihre Verehrung nicht zur
Orthodoxie erhebt. Das wußte man wohl fchon. Aber
auch die Vorfragen find ohne die unentbehrlichen Voruntersuchungen
beantwortet. Die zugrunde gelegte Pfychologie
ift trotz einiger Zitate aus Wundt fehr verworren. Wo
dann eigene Proben der verpachten Einwirkung auf das
Gemüt des Schülers mitgeteilt werden (in ihr erblickt der
verfaffer wohl feinen Hauptfortfehritt gegen die ihm bekannten
Herbartianer), da find fie fo blaß und abftrakt
gehalten (z. B. S. 146; 180), daß fie auch von der prak-
tifchen Befähigung Bürckftümmers nicht den beften Eindruck
erwecken. Wenn er trotzdem zu fich das Zutrauen
hatte, dem Religionsunterricht durch fein Eingreifen
weiterhelfen zu können, fo wird es wohl daran liegen, daß
er die von ihm fo oft geforderte ernfte und innerliche
Perfönlichkeit in den Unterricht mitbringt, die unmittelbar
wirkt und ihn an den Erfolg feiner Methode glauben läßt.
In dem Buch freilich find davon zwar einige Spuren zu
finden, aber fo wenig, daß man es ohne großen Nutzen
wieder aus der Hand legt.

Bromberg. R. Kabifch.