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Ausgabe:

1914 Nr. 1

Spalte:

12-16

Autor/Hrsg.:

Seeberg, Erich

Titel/Untertitel:

Die Synode von Antiochien im Jahre 324/25 1914

Rezensent:

Krüger, Gustav

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Theologifche Literaturzeitung 1914 Nr. 1.

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überlegene Virtuofen.' . . . ,Oder es find familienhafte
Organifationen frommen Zufammenlebens.'

Unbeftreitbar fcheint, daß die myftifch-fpiritualiftifche
Denkweife von derjenigen verfchieden ift, die in der
Regel den Sektenbildungen zugrunde liegt; es wird nicht
behauptet, daß jene nicht auch in Sektenbildung fich
betätige. Allgemein kann doch nur gefolgert werden,
daß die unkirchlichen Denkweifen faft immer fich irgendwelche
foziale Geftalt zu fchaffen ftreben, die der kirchlichen
mehr ähnlich oder mehr unähnlich ift, bis zur
(immerhin feltenen) völligen Gleichgültigkeit gegen das
Gemeindewefen überhaupt, wozu der myftifch-fpiritualiftifche
Individualismus allerdings am meiften geneigt ift.
Wenn aber lofe Gruppen — fie werden auch als Konven-
tikel bezeichnet — aus diefem hervorgehen, fo find folche
doch wieder nicht fpezififch für die Myftik. In England
und Schottland kann man fortwährend beobachten, wie
folche Blafen geformt werden, ohne daß Myftik und Spiritualismus
, mehr als diefe Denkweifen fonft mit der chrift-
lichen Gläubigkeit verbunden find, zugrunde liegen; vielmehr
ift es irgendein Sonntagnachmittags-Prediger, der
auf Grund einer befonderen Auslegung von Stellen des
NT. eine kleine Schar um fich fammelt, eine Bude als
Kapelle errichtet u. dgl. Es find Keimformen von Sekten,
von denen viele entliehen und vergehen, während im Vergleich
zu ihnen die altetablierte Sekte etwas von der
Fertigkeit und imponierenden Geftalt, fogar etwas von der
Autorität der Kirche an fich hat, weil fie es allmählich
erworben hat. Die unfichtbare Kirche aber ift ein fo-
ziales Gebilde überhaupt nicht; fie hat in keinem Sinne
ein objektives Dafein, ift daher auch kein möglicher
Gegenftand foziologifcher Erkenntnis.

Eine vorwiegende Rolle fpielt ferner im vorliegenden
Gedankenfyftem — es gibt wenige hiftorifche Werke, die
fo von einem Gedankenfyftem erfüllt find — die Kontrahierung
des kontinentalen Luthertums mit dem Calvinismus
Englands und Schottlands, näher mit der ,calviniftifch
beftimmten oder beeinflußten Ideenwelt' (S. 769). Ich kann
diefen Darftellungen keineswegs immer Recht geben. Ein
kosmopolitifcher, philanthropifcher, philofophifcher Liberalismus
war im 18. Jahrh. (als Aufklärung) in anderen
Ländern viel weiter verbreitet und ftärker gewurzelt als
in England; er wuchs auf dem Boden des Luthertums fo
gut wie auf dem des Calvinismns, freilich nicht ohne
lebendigen Zufammenhang mit einer rationaliftifchen, dei-
ftifchen Theologie, während er in Frankreich zum Teil
auch diefes Zufammenhanges entbehrte. Im 19. Jahrh.,
zumal in deffen zweiter Hälfte, auf die fich T. mit Vorliebe
bezieht, ift es anders. In England ift die Entwicklung
langfam aber ftetig vor fich gegangen; England
hat nicht die franzöfifche Revolution, daher auch nicht
die Reftauration, durchgemacht, auch zu der Bildung
des neuen deutschen Reiches als militärifchen Staates,
ift dort keine Analogie, fo wenig als in den Vereinigten
Staaten. Diefe bedeutete in ihren Folgen eine ungeheure
Stärkung des fpezififch preußifchen Konfervatismus, wie
fie auf der Gegenfeite mit der großen Entwicklung feiner
fchärfften Verneinung, durch die Sozialdemokratie, zu-
fammenhängt. Liegt diefen politifchen Erfcheinungen das
lutherifche Landeskirchentum zugrunde? In den älteren
Provinzen Preußens ift es als folches gar nicht mehr vorhanden
; wo es am ftärkften ift, in Schleswig-Plolftein und
Hannover, hat es für den bedeuteten Gegenfatz geringe
Bedeutung und dafelbft ift der eigentliche, durch den
Großgrundbefltz und die Gutswirtfchaften getragene Konfervatismus
wenig zu Haufe. —

Im einzelnen habe ich manche Stellen gefunden, die
mir Bedenken erregen, ja Widerfpruch wachrufen; nur
einige davon will ich herausheben.

S. 699 eifcheiat als zweiter großer Begründer des modernen Naturrechts
John Locke (als erfter, als derjenige Denker, durch den das Naturrecht
und die Vertragslehre erft zu ihrer welthiilorifchen Wirkung kamen,
wird S. 697 Grotius bezeichnet) — nach ihm kommt als .dritter
Hauptbegründer' Thomas Hobbes S. 702. Schon aus diefer Reihenfolge,

die der Tatfache ins Geficht fchlägt, daß Locke ohne Hobbes gar nicht
denkbar ift, geht hervor, daß Verf. über das rationaliftifche Naturrecht
nicht ganz richtige Ideen hegt; wie es denn fchlechthin ein Irrtum ift,
wenn auch ein unabläffig wiederholter, daß Grotius diefe Lehre .begründet'
habe. Eine feltfame Folge von Namen begegnet auch S. 773: .Darwin,
Spencer, Bentham, Stuart Mill und Ruskin' — es fei ,feit diefen' gegenüber
der Tatfache, daß die calviniftifch beftimmten Völker mit ihrer
Religion auf die politifch-fozialwirtfchaftlich-teehnifche Entwicklung fich
einzurichten verftanden, vieles anders geworden. Demgegenüber möchte
ich betonen, daß in allen Kulturbezügen Schottland und England ganz
verfchiedenen Charakter zeigen: nur in Schottland war und ift der
ftrenge Calvinismus tief gewurzelt, von da weht aber auch ein fcharfer
Wind der Philofophie und Kritik, war doch Hume, Verfaffer der Natural
Hiftory of Religion (wie auch der Dialoge) ein Schotte (den Troeltfch
nicht nennt). In England hatte fchon früh der Arminianismus gewirkt,
und im Anfchluß daran wurde der Latitudinarianismus (deffen T. keine
Erwähnung tut) die Form des liekenntniffes, die fich dem gebildeten
Bewußtfein anpaßte; aber auch der Sozinianismus hatte nicht wenige
Anhänger, und der Deismus war doch in England zu feiner erften Blüte
gelangt. Diefe Entwicklungen haben auch fozialhiftorifch großes Intereffe.
In England geht die Aufklärung zunächft überwiegend mit den abfolu-
tiftifchen, aber anti-hochkirchlichen Tendenzen, während die erfte Revolution
durch den Namen .puritan rebellion' bezeichnet wird; allmählich ver-
fchieben fich diefe Verhältniffe. Die eigentliche Squirearchie, die von
1690—1832 ihre Blütezeit erlebt, etabliert fich im Znfammenhange mit
einem wefentlich konventionellen Kirchentum, das ihr zugleich öko-
nomifch als linker Arm (Verforgung der jüngeren Söhne) trefflich dient,
und dies Kirchentum ift natürlich fozial ziemlich indifferent, nicht viel
weniger als der gleichzeitige Staat alle Obergriffe und Ausfchreitungen
der Klaffenherrfchaft guiheißend oder doch dazu fchweigend. Diefe
ganze Seite der modernen Entwicklung, die doch auch auf kontinentalem
Boden ftark ift, fcheint mir bei Troeltfch nicht gehörig zu ihrem Rechte
zu kommen.

Übrigens gibt das Buch auf vielen Seiten, befonders
auch durch die literarifch reichhaltigen Anmerkungen,
viel zu denken auf. Dies gilt befonders auch von dem
Abfatze des Schlußkapitels, der die Bedeutung der
Marxiftifchen Methode für die Kirchengefchichte, auf die
im früheren Zufammenhange oft bezuggenommen wird,
prinzipiell erörtert. Es wird erkannt, daß diefe Methode
mit dem, was fich als klar berechtigt an ihr erweife, nach
und nach all untere gefchichtlichen Auffaffungen umforme
und daher auch die Auffaffungen von Gegenwart und
Zukunft (S. 975). Gleichwohl werden, nach manchen Erwägungen
, alle Verfluche, das Chriftentum zu einem
wechfelnden Spiegelbild der Wirtfchafts- und Sozialge-
fchichte zu machen, eine Modetorheit oder ein unter der
Firma der neueften Wiffenfchaftlichkeit verfteckter Angriff
auf feine religiöfe Geltung genannt. Ich will gegen diefe
Kritik, deren inneres Recht ich fonft nicht in Frage Hellen
möchte, nur die Frage aufwerfen, welches Chriftentum
in beiden Fällen gemeint ift. Es ift doch wohl etwas
anderes, ob man die Unterfchiede der chriftlichen Praxis
etwa katalonifcher Hirten und norwegifcher Bauern aus
Spiegelbildern des wirtfchaftlichen und fozialen Lebens
deuten will, oder, fagen wir, die Unterfchiede zwifchen dem
Syftem des heil. Thomas und der Theologie Schleiermachers
oder Harnacks.

Kiel. Ferdinand Tönnies.

Seeberg, Lic. Erich: Die Synode von Antiochien im Jahre
324/25. Ein Beitrag zur Gefchichte des Konzils v.
Nicäa. (Neue Studien zur Gefchichte der Theologie
u. Kirche. 16.) (VII, 224 S.) gr. 8°. Berlin, Trowitzfch
& Sohn 1913. M. 8.6b

Auch über die engeren Kreife der Fachgenoffen, d. h.
der für die Gefchichte des 4. Jahrhunderts intereffierten
Gelehrten, hinaus ift feinerzeit die Kunde von der heftigen
Kontroverfe gedrungen, die fich zwifchen Schwartz
und Harnack über die am Horizont der Wiffenfchaft
neuaufgetauchte Synode von Antiochien 324/5 erhoben
hatte. In feinen Unterfuchungen zur Gefchichte des Atha-
nafius veröffentlichte Schwartz (Göttinger Nachrichten
1905) ein im Kodex Parifinus 62, dem .gelehrteften der
fyrifchen Rechtsbücher' enthaltenes, bisher unbekanntes
Schreiben einer antiochenifchen Synode unter Beifügung
einer griechifchen Überfetzung, wies dabei auf in der
gleichen Überlieferung erhaltene Kanones eben jener