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Ausgabe:

1914 Nr. 1

Spalte:

8-12

Autor/Hrsg.:

Troeltsch, Ernst

Titel/Untertitel:

Gesammelte Schriften. I. Bd. Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen 1914

Rezensent:

Tönnies, Ferdinand

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Theologifche Literaturzeitung 1914 Nr. 1.

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hat der Verfaffer felbft gut herausgehoben. Das ift die
Differenz in den Ausfagen des Paulus über den Zwifchen-
zuftand der Toten (einfaches xoifiäoß-ai in I. Theff. I. Kor.—
svörjuTjaai xgbg rbv xvqlov II. Kor. 5,8, vgl. Phil. 1, 21.23).
Verfaffer hat diefem Problem tapfer ins Geficht gefchaut.
Er weift die Vermittelungsverfuche von Sokolowski (S.Iii)
und B. Weiß (S. 112—117) mit treffenden Gründen ab.
Er gefleht gegenüber dem hier fich klärlich vollziehenden
Umdenkungsprozeß fogar die Berechtigung des religions-
gefchichtlichen Problems und die Möglichkeit helleniftifcher
Einflüffe zu, obwohl er feinerfeits geneigt ift, diefe Umdenkung
aus eigenen Prämiffen des Paules abzuleiten.

Ehe ich den Gedankengängen des Verf. auf diefem
Gebiete folge, möchte ich noch einige weitere beftehen-
bleibende Probleme der paulinifchen Theologie hervorheben
. Wenn man von der einfachen jüdifchen materia-
liftifchen Auferftehungslehre feinen Ausgangspunkt nimmt,
fo ift doch in II. Kor. eine Behauptung vor allem

merkwürdig, auf welche D. fein Augenmerk nicht gerichtet
hat. Nämlich die in V. l ausgefprochene Idee,
daß der neue himmlifche Leib für die Chriften für den
Fall des Abbruches ihres Leibes — fei es bei der Parufie,
fei es beim Tode — fchon bereit liege (ganz abgefehen
von der Frage, wann fie ihn tatfächlich bekommen, unmittelbar
nach dem Tode oder bei der Parufie). Das ift
aber die allerftärkfte Durchbrechung der jüdifchen materia-
liftifchen Auferftehungshoffhung. Ja, genau befehen, ift
bei diefer Auffaffung der Begriff einer Auferftehung aufgehoben
, denn was fteht denn eigentlich noch auf, wenn
der neue Leib von oben, vom Himmel her gefchenkt wird?
Mit diefer Vorftellung ginge Paulus dann eben doch über
die Ausfagen von I. Kor. 15 hinüber. Denn dort kon-
ftruiert er in dem Bilde des Samenkornes einen Zufammen-
hang zwifchen dem alten und dem neuen Leib. Freilich
will er auch hier verneinen, daß diefer Leib fich aus dem
Grabe erhebt, und bleibt bei dem nicht ganz deutlichen
Gedanken flehen, daß das Samenkorn vergehen muß und
Gott einen neuen Leib fchenkt. Aber II. Kor. 5,1 ift jede
Beziehung des neuen Leibes zum Grabe aufgehoben.
(Wenn Paulus Rö. 8, 10 dann doch wieder von der
Lebendigmachung unteres fterblichen Leibes redet, fo
folgt er der populären Redeweife, wie wir etwa noch
immer fagen, daß die Sonne aufgeht.)

Diefe Überlegung im Zufammenhang mit der von D.
zugeftandenen Inkonfequenz macht es doch von neuem
klar, daß es fich bei der Auferftehungslehre des Paulus
um tiefgreifende Umbildungen und ein immer ftärkeres
Abrücken von der in fich klaren und gefchloffenen
jüdifch-materialiftifchen Auferftehungslehre handelt. An
einem Punkt hat diefe Entwicklung dann freilich eine
Grenze, nämlich an der energifch feltgehaltenen und im
Gefamtfyftem des Paulus einen feiten Platz einnehmenden
Hoffnung des pneumatifchen Leibes. Als ganzes betrachtet
können wir die Lehre des Paulus als eine Vermittlung
zwifchen jüdifcher und hellenifcher Hoffnung betrachten
, denn einerfeits wird eben die realiftifche Hoffnung
der Aufererftehung des Fleifches abgelehnt, andrer-
feits doch auch die Idee eines rein geiftigen perfönlichen
Fortlebens nicht angenommen und der merkwürdige und
auf den erften Blick finguläre Gedanke eines neuen Leibes
entwickelt.

Und fo wären wir wieder bei dem religionsgefchicht-
lichen Problem angelangt, refp. bei der Frage der größeren
oder geringeren Originalität des Paulus in der Konzeption
jener Gedanken. Da ift es nun charakteriftifch, wie
D. diefe Unterfuchung führt. Er lenkt feinen Blick in
erfter Linie auf die Stoa und Hellt in einer forgfältigen
Unterfuchung die Pneumalehre und die Eschatologie der
Stoa dar. Und er urteilt darin ganz recht, daß er jede
Möglichkeit, von hier aus die Lehre des Paulus zu verliehen
, ablehnt. Daß die epikureifche Philofophie nicht
in Frage kommt, brauchte er eigentlich gar nicht erft
zu beweifen. Richtig ift endlich, daß auch die jüdifch-

helleniftifche Literatur, vor allem die Sapientia Salomos,
nur formale, keine materiellen Parallelen zur Pfychologie
und Eschatologie des Paulus bietet. Seltfamerweife wird
dabei Philo gar nicht behandelt, obwohl hier fchon
einiges zu finden gewefen wäre. Aber find damit denn
wirklich alle Möglichkeiten erfchöpft? Ich will gar nicht
von den Piatonikern reden und von dem platonifch beeinflußten
Stoizismus (Pofeidonios). Denn auch hier
würde man vergeblich fachen. Aber es gibt eine ganze
Schicht von Literatur, die der Verfaffer gar nicht be-
rückfichtigt hat, nämlich jene myftifche Literatur, die
nicht mehr griechifche Philofophie ift und doch wiederum
nicht mehr reine orientalifche Myfterienreligion re-
präfentiert. Corpus Hermeticum und fonftige hermetifche
Schriften, Oracula Chaldaica, die von Dieterich fogenante
Mithrasliturgie, chriftlich gnoftifche Literatur, die nicht
überall wo fie verwandtes enthält einfach von Paulus abhängig
ift, wären hier heranzuziehen gewefen. Der Begriff
döSct, wäre genau zu Unteraichen gewefen, auf Grund
des vortrefflichen Materials, das Reitzenfteins ,helleniftifche
Myfterienreligionen' bietet, (vgl. S. 117. 142. i7off). Auf
diefem Gebiet ift felbft die Vorftellung vom neuen Leibe,
einem himmlifchen Lichtleibe, in der zunächft P. ganz
fingulär dazuftehen fcheint, nachzuweifen: Corpus Hermeticum
XIII 3.14. (nach Reitzenfteins Korrektur), Mithrasliturgie
, bei Dieterich 4,3 (öcö,</« rtXsiovl) Gnoftiker des
Irenaeus I 30, 13, felbft Philo Vita Mosis III 39 (Mofes
wird zum rovg i'jlaotidtOTazog). — Auch auf das charakte-
riftifche Wort öx?]iwg und feine Parallelen in helleniftifcher
Frömmigkeit wäre zu achten gewefen. Von diefer ganzen
neuen Welt, welche uns die Arbeit der Philologen er-
fchloffen, hat D. noch keine Ahnung, und daher ift fein
Rüftzeug für derartige religionsgefchichtliche Unter-
fuchungen nicht zureichend.

Göttingen. Bouffet.

Troeltfch, D. Dr. Ernft: Gerammelte Schriften. I. Bd. Die

Soziallehren der chriftlichen Kirchen und Gruppen.
(XVI, 994 S.) gr. 8°. Tübingen, J. C. B. Mohr 1912.

M. 22 —; geb. M. 25 —

Eine wirkliche Kritik diefes großen Werkes zu fchreiben
kann nur fich anheifchig machen, wer mit dem Verf. in
Kenntnis feiner Gegenftände zu wetteifern wagt. Davon
bin ich weit entfernt. Nur in wenigen Stücken kann ich
ein Urteil für mich in Anfpruch nehmen; im übrigen muß
ich mich begnügen, Mitteilungen über den Inhalt zu
machen und dessen innere Folgerichtigkeit zu prüfen.
— Nach einer Einleitung über methodifche Vorfragen
entfaltet fich der Inhalt in drei großen Kapiteln, von
denen das erfte ,die Grundlagen in der alten Kirche'

1. das Evangelium, 2. Paulus und den Frühkatholizismus
darftellt. Das zweite Kapitel behandelt den mittelalterlichen
Katholizismus in neun Abfchnitten (1. das Problem,

2. Anfätze für die mittelalterliche Einheitskultur, 3. die
landeskirchliche Periode des Frühmittelalters, 4. die uni-
verfalkirchliche Reaktion und die katholifche Einheitskultur
, 5. die Bedeutung der Askefe im Syftem des mittelalterlichen
Lebens, 6. relative Annäherungen der tatfächlichen
fozialen Lebensformen an das kirchliche Ideal, 7. die
theoretifche Durchleuchtung der kirchlichen Einheitskultur
in der thomiftifchen Ethik, 8. die mittelalterliche Sozial-
philofophie nach den Grundlätzen des Thomismus, 9. das
abfolute Gottes- und Naturrecht und die Sekten). Das
dritte Kapitel über den Proteftantismus hat nach dem
erften Abfchnitt über das foziologifche Problem dann nur
drei fernere: 2. das Luthertum, 3. der Calvinismus, 4_Sekten-
typus und Myftik auf proteftantifchem Boden; diefer letzte
Abfchnitt zerfällt wieder in ,das Täufertum und die pro-
teftantifchen Sekten' — ,die Myftik und der Spiritualismus'.
Im ,Schluß' werden, nach einigen Bemerkungen über die
neue Lage der chriftlichen Soziallehren feit dem 18. Jahrhundert
, die Ergebniffe knapp zufammengefaßt.