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Ausgabe:

1914

Spalte:

277-279

Autor/Hrsg.:

Jodl, Friedrich

Titel/Untertitel:

Ethik u. Moralpädagogik gegen Ende des 19. Jahrh 1914

Rezensent:

Hall, Thomas Cuming

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277

Theologifche Literaturzeitung 1914 Nr- 9-

278

jorjI, Prof. Friedrich: Ethik u. Moralpädagogik gegen Ende

des 19. Jahrh. Sonderdruck aus .Gefchichte der Ethik
als phi'lofophifcher Wiffenfchaft'. II. Bd. 2. Aufl. (VII,
128 S.) gr.8 . Stuttgart, J. C. Cotta 1913. M. 3 -
Jeder ernfte Arbeiter auf dem Felde der Ethik der
dankbar die erfte Auflage von Jodls .Gefchichte der Ethik
durchgearbeitet hat, wird mit großem Intereffe die neue
Auflage in die Hand nehmen. Leider find die wertvollen
Anmerkungen immer wieder erft am Ende des Bandes
zu finden, und die Benutzung derfelben ift dadurch er-
fchwert, daß fie auf die verfchiedenen Artikel verteilt
find. Ein Namenverzeichnis am Ende ift eine große Ver-
befferung; und ein viertes Buch über die Entwicklung
der Ethik im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts führt
uns in die allermodernfte Zeit hinein. Trotzdem ift das
Werk nicht umfangreicher geworden, denn an manchen
Stellen hat der Verfaffer feine Zufammenftellung knapper
und zufammengedrängter gemacht. Zum zweiten und
dritten Kapitel des erften Buches finden wir kleine aber
nicht fehr wefentliche Änderungen; das vierte Kapitel
ift gänzlich umgefchrieben, der Standpunkt aber bleibt
derfelbe, und die Behandlung von Fichte und Schleiermacher
läßt manches zu wünfchen übrig. Auffallend ift
es auch, daß in diefem Zufammenhang die Arbeiten von
Jakob Fries gänzlich übergangen find, um fo mehr da,
ficherlich in jeder Auseinanderl'etzung mit William James
und Bergfon feine fcharf ausgeprägte .Ahndung' wieder
eine Rolle fpielen wird, denn fie hat eben fo viel Bedeutung
für die Ethik wie für die Religion. Ganz vortrefflich
ift ein neuer Abfchnitt über Max Stirner unter
der Bezeichnung ,praktifcher Solipfismus', und fehr einleuchtend
ift die Art und Weife, wie Jodl deffen Beziehung
zu Feuerbach behandelt. In dem zweiten Buch
über die ethifche Entwicklung in Frankreich wird die
Bedeutung von Jouffroy mit Recht weniger betont wie
in der erften Auflage, und die Befchreibung des franzö-
fifchen Pofitivismus bleibt eine glänzende Leiftung. Jodl
ift durchweg bemüht gewefen, zu beweifen, wie die
Tendenz, das Sittliche vom Religiöfen zu emanzipieren,
durch die ganze Gefchichte der Ethik fich hindurchzieht.
Leider aber verwechfelt er allzuoft Theologie mit Religion,
und ab und zu kann man ihn nicht von einem kraffen
Dogmatismus gänzlich freifprechen. Er fchreibt z. B.:
,Wer noch religiöfe Bedürfniffe hat, kann über die Region
nicht philofophieren, wenn er auch fonft ein philo-
fophifcher Kopf ift, fo wenig wie fich ein Kranker felbft
rnfbnden, daß die morälifchen, in^befonÄere d^ auf i behandeln und diagnoftizieren kann, wenn er gleich felber

lem Boden der Affektgruppe des Schmerzes, der Angft und der Furcht j Mediziner ift. Uber Religion hat nur derjenige ein Recht

mitzufprechen, welcher zwar felbft durch religiöfe Zu-
ftände hindurchgegangen ift, aber aufgehört hat religiös
zu fein' (Band II, S. 460). Ebenfogut könnte man fagen
,Über Äfthetik hat nur derjenige ein Recht mitzufprechen,
welcher zwar Kunft getrieben hat, aber aufgehört hat,
Künftler zu fein'. Diefe fcharfe Abneigung gegen das

paffive Seelenleben repräfentiere die Schuttablagenmgsftätte der pfychifchen
Organifation und komme teils im Traum, teils im Wachträumen als phan-
tafieren in Bildern und Symbolen zur Realifation. Hiernach wäre die
eine Wurzel der Phantafie die Ermüdungswurzel. Die Phantafietätigkeit
habe alfo eine vorübergehende pfychifche Minderwertigkeit zur Voraussetzung
Mit anderen Worten: der Verfaffer bemüht fich zu zeigen, daß
im wesentlichen nur das Denken und Handeln als biologifche Anpaffungs-
erlcheinungen pfychologifch vollwertig feien, die Phantafie dagegen eine
piycnologilch minderwertige paffive Ermüdungserfcheinung. Das heillt
weiter nichts, als der Verfaffer begünftigt einfeitig den Pragmatismus. —
Die andere Wurzel der Phantafie findet der Verfaffer in der Richtung
aut Vermenfchltchung des Weltalls, der Angleichung des Wahrgenommeneu
an unfere eigene Organifation, in dem Prozeffe der Belebung und Be-
leelung des Toten und der Vermenfchllchung des Lebendigen, d. h. in
elner iUufionbildenden Vorftellungsreihe. Diefe Wurzel komme bei den
primitiven Völkern und bei den Kindern befonders zur Geltung und fei
ataviftifch. Hiernach find die 2 Wurzeln der Phantafie ein pfychafthe-
uifches Stadium der Seele und ein ataviftifches. Demgemäß ift der Verfaffer
genötigt zu fagen, die Phantafie allein mache noch nicht den
Künftler.

Der dritte Vortrag von Dr. Siegmund Kornfeld
unterfucht die pfychologifche Bafis des Rechtsgefühls.
Der Verfaffer will die Frage beantworten, wie aus dem
Inhalt des Begriffs des Rechts die befondere Geftaltung
der emotionellen Vorgänge abzuleiten fei, die mit Beftand-
teilen diefes Inhalts verbunden auftreten.

Er unterfcheidet nun zwei Arten von Affekten, i. den Angftaffekt,
der zur Folge haben foll eine Reflexion auf das eigene Innenleben, Unzufriedenheit
mit fich felbft, Selbftkritik, Rückfichtnahme auf die etwaigen
Rückwirkungen des eigenen Handelns auf den Nebenmenfchen; hierin
liege die Wurzel jedes Verantwortlichkeitsgefiihls und des Gewiffens.
Damit fei auch die Unterfcheiduug zwifchen Furcht und Ehrfurcht gegeben
, welch letztere die Furcht vor Verletzung des Reichs der morälifchen
Werte oder der eigenen Würde fei.

Neben den Angftaffekten beftehen 2. die ,Aflekte der Zornesreihe',
deren Erregung eine rafche Reaktion folgt. Diefe feien mit dem Typus
des Schan'finns verbunden. Der Verfaffer ift nun der Meinung, daß das
Rechtsgefühl mit dem Achtungs- und Ehrfurchtsgefühl vor der geiftigen
Arbeit in der Ausbildung des Rechts ebenfo verbunden fei, wie mit dem
Schmerzgefühl als Mitleid mit dem durch Rechtsverletzung gekränkten
Nebenmenfchen. Wenn fich hier Tieffinn entwickeln foll, fo ift auf der
anderen Seite für die Entfaltung des Rechtsgefühls der Scharffinn notwendig
, dem aber ftets die auf den Zufammenhang des Ganzen gerichtete
Phantafie nachfolgen foll, die ohne Schmerz und Angftgefühle, die tieffteu
aller Affekte, fich nicht entwickeln könne. Wenn das Recht als folches
feftgeftellt ift, fo muß fich mit dem Rechtsgefühl ferner das Machtgefühl
verbinden, das auf dem Grunde einer klaren Erkenntnis der Rechtslage
für das individuelle und foziale Leben aufgebaut ift und ein Achtungsgefühl
zu feiner Wurzel hat, fo daß die Betätigung der Macht nur im
Gefühl der Achtung vor dem Rechtsinftitut geübt wird. Kurz: der Verfaffer
meint, daß das Rechtsgefühl teils mit einem Gefühl der Achtung,
der Ehrfurcht und des Mitleids, teils mit einem Machtgefühl verbunden
fei, wobei die Stärke und Beftimmtheit des Rechtsgefühls eine große
Elaftizität der gefamten feelifchen Fähigkeiten erfordere, die bei den
verfchiedenen Individuen verfchieden fei. Wenn diefes Refultat im Grunde
Binfenwahrheiten enthält, fo kann man andererfeits die Begründung be-

entftehen und gedeihen, wenn mau nicht peffimiftifch denkt,

Mit dem Problem des Luftmaximums befchäftigt fich
der Vortrag von Dr. Otto Neurath, näher mit dem Begriff
des Luftmaximums einer Individuengruppe.

Während man bei der Feftftellung der Individualluft eines einzelnen
auf eine eiuheitliche GefamÜuftempfindung rekurrieren könne, fehle für

t*J2ZS^*£**l£ ei,hfli^e%Snn^ium' ,?ahrr V aUch die I religöfe Element im englifchen'Leben mach? die fonft fo
ocnwierigseiten hervorhebt, welche der Feftftellung des Luftmaximums ! , „:iL„^„ ■ n n. , tso.ii , t7.-u.-i :

einer Perfonengmppe im Wege flehen, wenn auch in gewiffen Fällen j brillante und außerft anregende Darftellung der Ethik in

ein Glucksmaximum einer Perfonengruppe exiftieren foll. | England Ott einfeitig und Viel Weniger objektiv, Wie fie

° Jk*.,.,'" ab" kommt Q« Verfaffer zu dem Refultate, daß zwar | fein follte. Aber trotz alledem ift es dem Verfaffer gelungen
, uns ein recht anfchauliches Bild der ethifchen
Entwicklung des 19. Jahrhunderts zu fchenken. Allein daß
er folche tapfere Vorkämpfer einer humanen Ethik ohne

Religion wie Benjamin Franklin und Walt Whitman nicht

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oie Forderung die Handlung jedes Einzelnen muffe ein Maximum feiner
Leoriw!r Gef»mrUuft » erzeugen trachten, zur Schaffung einer wohl-
Ä niTf4* beitraSen könne' d=üWen die Forderung, jeder
kriten Mx2 » YOr Au"en habe°. Sofort zu praktifchen Schwierigalle
maßgebend fe° "Er n'Cht d'e Entfcheidung eines Individuums für

fade welche diefelbenc ° *Tl oder nur die Individuen zufammen- einmal erwähnt, und Emerfon ganz bei Seite läßt, ift doch
haben. ^aaufchauungen über die belle Luftverteilung ' fonderbar. Dem Sozialismus ift Jodl ebenfo abgeneigt

Knn- hero- : Pr wie dem Chriftentum. Und doch betont der wiffen-

iös g • Dorner. fchaftliche Sozialismus zwar eine foziale Ethik, und verwirft
die vorhandene Ethik der herrfchenden Klaffe, hofft

Jodl, Prof. Friedrich: Gefchichte der Ethik al« nhHnrnnhirehPr aber eigentlich im Sinne des Pofitivismus, durch Propa

Wiflenfchaft. II. Bd. Kant u. diE Ifik iHo S ■ ^ "ine anderel ethi,k '^kY"1 h
ua a u u a 9- J Bedürfn Ifen der arbe tenden Klaffe beffer entfpncht. Daß

2. vollft. durchgearb. u. verm. Aufl. (X, 740 S.) gr. 8«. | auch der Pofitivismus einen Glauben nötig hat, gibt Jodl
Stuttgart, J. G. Cotta 1912. M. 14_; geb. M. 16.50 zu. Er fchreibt: ,der Kampf des Glaubens mit dem Un-