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Ausgabe:

1914 Nr. 9

Spalte:

263-264

Autor/Hrsg.:

Merx, Adalbert

Titel/Untertitel:

Die vier kanonischen Evangelien nach ihrem ältesten bekannten Texte. 2. Tl., Erläuterungen. 2. Hälfte (Schlußband). Das Evangelium des Johannes 1914

Rezensent:

Duensing, Hugo

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263

Theologifche Literaturzeitung 1914 Nr. 9.

264

Typus eines Galiläers fei, ift doch vage Vermutung, und
die Benennung der Zebedaiden als ,Donnersföhne' darf
fchon deshalb nicht individuell erklärt werden, weil fie
fich auf beide bezieht.

S. 16 bemerkt H. ganz fein, daß die ,Armen', die zu
Jefus kommen, nicht aus einer fozialen Schicht Mammen,
fondern aus einer ,Gefinnungsfchicht'. Ferner fucht er mit
Berufung auf Wellhaufen (S. 18) nachzuweifen, daß die
evangelifche Darfteilung der Sadduzäer und namentlich
der Pharifäer eine völlig zutreffende fei. Aber das gilt
doch nur dem Pharifäismus als Prinzip. In der konkreten
Wirklichkeit konnten die Pharifäer weder überall fo hinter
Jefu herfein, wie es z. B. die Erzählungen vom Zöllner-
gaftmahl oder vom Ahrenraufen am Sabbat vorausfetzen,
noch glichen fie alle dem Pharifäer im Tempel. Auch
die Verinnerlichung des Gefetzes ift von ihnen angebahnt;
ja das Doppelgebot der Liebe als Erfüllung des Gefetzes
kommt vielleicht auf ihre Rechnung, Luk. 10,27.
Schließlich beweift auch hier die Richtigkeit der allgemeinen
Schilderung nichts für die Gefchichtlichkeit des
einzelnen Falles.

Im letzten Abfchnitt fucht H. an hier und dort herausgegriffenen
Beifpielen die Bodenftändigkeit der Lehre Jefu
darin zu zeigen, daß Jefus an beftimmte Eindrücke oder
Erlebniffe anknüpft, die verfchiedenen Lebensverhältniffe,
Ackerbau und Viehzucht, Handel und Gewerbe berück-
fichtigt, die volkstümlichen Vorftellungen feiner Heimat
übernimmt, uns in das fchlichte Handwerkerhaus verfetzt,
aus dem er flammt, und vor allem auch die Natureindrücke
wiedergibt, die auf ihn gewirkt haben. Endlich
und vor allem aber begegnen wir (S. 22 ff) in den Reden
und Sprüchen der Evangelien einer fo fichern und vor-
urteilslofen Menfchenkenntnis und einer folchen Verbindung
von unmittelbaren Anfchauungen und Ewigkeitswahrheiten,
daß fie ,eine ftarke, felbftgewiffe, fcharfbeobachtende Per-
fönlichkeit als ihren Urheber fordern'.

Daß hinter den Evangelien eine folche Perfönlichkeit
fteht, ift ja wohl auch heute noch fürjedenUnbefangenen eine
Selbftverftändlichkeit, die auch H. in feinem inhaltsreichen
und warm gefchriebenen Heft gut beleuchtet. Nur reicht
diefe Beleuchtung nicht für Einzelzüge aus. Hier gilt
das von Wellhaufen geprägte und noch lange nicht genug
beherzigte Wort, daß eine Wahrheit immer nur fich felbft
bezeugt, und nicht ihren Urheber.

Berlin. Brückner.

Merx, Adalbert: Die vier kanoniichen Evangelien nach ihrem
ältelten bekannten Texte. 2. TL, Erläuterungen. 2. Hälfte
(Schlußband). Das Evangelium des Johannes. Mit Re-
giftern f. das ganze Werk. Hrsg. v. Julius Ruska. (VII,
587 S.) Lex. 8°. Berlin, G. Reimer 1911. M. 16—;

vollftändig M. 49 —

Der Verfaffer befchränkt nach S. 34 feine Aufgabe
darauf, ,den Text in feiner älteften erreichbaren Form zu
erforfchen und die textkritifche Lage vielfach unter das
Licht der auch aus jüdifchen Schriften zu holenden Realerklärung
zu ftellen, wie das in früheren Teilen diefes
Werkes gefcheben ift'. So ift denn fein Werk kein fortlaufender
fachlicher Kommentar, fondern eine Sammlung
von gelegentlichen Bemerkungen meift textkritifcher Natur,
in die aber auch allerlei fachliche Beobachtungen und Erklärungen
einfließen. Die ältefte erreichbare Form des
Textes findet Verf. bei den alten Syrern, die ja vielfach von
den alten Lateinern und fporadifch auch von andern Zeugen
unterftützt werden, und jedenfalls wird das der bleibende
Hauptwert feines Werkes fein, daß darin die befonderen
Lesarten der alten Syrer, d. h. wefentlich der Syra sinaitica
gebucht find und das damit identifche Textmaterial in
großer Vollftändigkeit gefammelt ift und fo ziemlich al'e
Gründe, die für die Priorität diefes von dem Verfaffer

bevorzugten Textes gegenüber dem gewöhnlichen griechi-
fchen fprechen können, aufgeführt werden.

Die Beurteilung diefes Materiales durch den Verfaffer
vermag ich mir allerdings nur zum geringften Teile anzueignen
. Zwar macht er felbft Reftriktionen und findet
auch in dem feiner Meinung nach älteften Texte Sekundäres
, er fcheint mir aber trotzdem die Syra sinaitica
noch erheblich zu überfchätzen. Diefer Text ift m. E.
eine Bearbeitung. Am klarften ift dies wohl in dem Abfchnitt
18, 12—27 zu fehen. Hier hat felbft Wellhaufen,
doch wahrlich kein Verächter der altfyrifchen Texte,
entfcheidende Gründe für eine Bearbeitung vorgebracht
und geurteilt: ,Die Syra hat alfo vorliegende Anftöße
empfunden und zu befeitigen geflieht, aber ohne Erfolg'.
Und diefen Charakter einer Bearbeitung trägt fie nicht
nur zufällig an diefer einen Stelle, fondern er ift ihr überhaupt
eigen. Über Einzelnes wird man natürlich immer
diskutieren können und müffen; es kann ja eine Schlacht
trotz mancher Einzelfiege im Ganzen verloren fein. Warum
follte auch nicht ein Bearbeiter des zweiten Jahrhunderts
z. T. befferes textliches Material vor fich gehabt
haben, als es fpätere griechifche Hff. bieten? — Der
fyrifche Text, welchen M. benutzte, war noch nicht die
1910 erfchienene Neuausgabe der altfyrifchen Evangelien
der Frau Dr. Lewis. Da diefe manche neue Lesart bringt,
fo beftand für das vorliegende Werk die Gefahr, daß es
nicht überall eine fichere textliche Operationsbafis unter
fich hatte. Diefe Gefahr ift aber dadurch fehr herabgemindert
, daß Frau Dr. Lewis die Druckbogen einer Durchficht
unterworfen und eine große Anzahl von Verbeffe-
rungen mitgeteilt hat. Freilich enthält und befpricht das
Werk auch fo noch nicht alles, was die neue Ausgabe
gebracht hat.

Außer dem textkritifchen Material hat Verf. vermöge
einer ausgebreiteten Gelehrfamkeit auch allerlei fachlich
Wertvolles zufammengetragen. M. fieht in dem Evangelium
ein Produkt der Myftik, ein m. E. nicht genug zu
betonender Gedanke. Mit der orientalifchen Myftik gut
vertraut, fchreibt M. namentlich in den Vorbemerkungen
manches Treffliche zur Charakteriftik und zur Beurteilung
der Myftik übeihaupt, (fo über das fich Erfchöpfen und
doch fich nicht Genügen in der Befchreibung myftifcher
Vorgänge S. 1, die Myftik oft eine Ermüdungserfcheinung
S. 4), aber es kommt auch vor, daß Fragen an das Evangelium
herangebracht werden, die wohl auf dem Gebiete
orientalifcher und anderer Myftik diskutiert werden können,
beim Johannesevangelium aber nicht am Platze find, fo
S. 11 über die individuelle zeitliche Weiterexiftenz des
einzelnen. Manche der Materialien, welche der Verfaffer
beibringt, find weithergeholt und flehen nur in lofem Zu-
fammenhang mit dem evangelifchen Stoff. So lieft man
S. 221—235 einen Exkurs mit vielem Detail über die fama-
ritanifche Gnofis als Anhang zur Befprechung von Joh.
8, 48. Wertvoll ift das alles, wenn man es auch nicht
gerade hier erwartet. Der vorwiegend fachlich intereffierte
Lefer des Buches muß fich allerdings mit Ausdauer rüften,
weil die fich hindurchziehenden fachlichen Beiträge oft in
einem breiten Guß textkritifcher Erörterungen eingebettet
find. Auch ift nicht alles beigebrachte Material zuver-
läffig, und die Folgerungen, welche daraus gezogen werden,
können nicht immer Zuftimmung finden.

Dem Herausgeber, einem Schwiegerfohn des Verblichenen
, ift die Wiffenfchaft lebhaften Dank dafür fchuldig,
daß er keine Mühe gefcheut hat, diefes Monument zähen
Gelehrtenfleißes den Intereffenten zugänglich und famt
den vorangegangenen Bänden durch Anlage einer ganzen
Reihe von Regiftern leicht benutzbar zu machen.

Daffenfen, Kr. Einbeck. Plugo Duenfing.

Anm.: Diefes Buch ift zuerfl in den Händen von Neftle gewefen,
der auch den vorangegangenen Band in diefer Zeitfchrift angezeigt hat.
Durch feinen Tod erklärt fich die Verzögerung der Anzeige.