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Ausgabe:

1914 Nr. 6

Spalte:

185-186

Autor/Hrsg.:

Heitmann, Ludwig

Titel/Untertitel:

Großstadt und Religion. 1. Teil: Die religiöse Situation in der Großstadt 1914

Rezensent:

Sulze, Emil

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Theologifche Literaturzeitung 1914 Nr. 6.

186

terismus, welcher dieie Wunder zum Fundament und Ob- So löfen fich die natürlichen Verbände. Jede Nation wird
jekt des Glaubens macht. — Das letzte Kapitel (263—333) atomifiert, das Leben in ihr abgeftumpft, mechanifiert.
weift nach, in welchem Sinne das Chriftentum auf dem Dies Mancheftertum ift der fchrofffte Gegenfatz zur ReWege
zur Univerfalreligion Offenbarungs- und Erlöfungs-
religion ift und bleibt. Die Epigenefis des Chriftentums
zu einer Religion, die über die finnliche Anfchauung des
Einzelnen als göttlicher Selbftbekundung zu der univer-
falen Betrachtung der Gefamtheit von Welt und Leben
als der allenthalben gleichmäßigen Betätigung des lebendigen
Gottes hinausfchreitet und auf dem Grunde diefer
Anfchauung die Univerfalreligion zu bilden imftande ift,
ift nur möglich bei der Befreiung der Offenbarungsidee
aus den Ketten der Sinnenfälligkeit (283). Erlöfungs-
religion ift das Chriftentum infofern als es Befreiung von
der Gottesferne und von dem Druck der Übel bringen
will, zugleich pofitive Verfetzung in die Gottesnähe und
Vermittelung neuer Lebenskräfte und Lebensinhalte. Gehört
diefe Beftimmung zur keimhaften Urgeftalt des allen
neuteftamentlichen Typen gemeinfamen Chriftentums, fo
wechfelt die Auffaffung von der Art der Knechtfchaft
und der Verderbtheit durch die Sünde. Die Gewißheit
der Wirkfamkeit des Erlöfungsprinzips ift dem Chriften
durch den Erlöfer felbft verbürgt: an der Anfchauung
feines Lebens wird immer wieder perfönliches neues Leben
entzündet, das fich in religiöfer Kontinuität fortpflanzt
und entwickelt.

Daß die Ausführungen Beths fich an vielen Punkten
in den Bahnen der religionsgefchichtlichen Betrachtungsweife
Troeltfch's bewegen, wird keinem Kundigen entgehen.
Dem Verf. ift es nur um eine grundfätzliche Erörterung
zu tun, weshalb er von der Heranziehung von Einzelfragen
und Einzelmaterial abfieht; auch der Begriff des
Wefens des Chriftentums und der fyftematifche Ausdruck
der chriftlichen Welt- und Lebensanfchauung konnten
keine Behandlung finden. Doch innerhalb der Grenzen,
die er fich gezogen, hat er durch feine belehrende und
anregende Behandlung des Problems, dasfelbe in dankenswerter
Weife gefördert.

Straßburg i. E. P. Lobftein.

Heitmann, Ludw.: Großftadt u. Religion. 1. Tl.: Die reli-
giöfe Situation in der Großftadt. (VII, 168 S.) gr. 8°.
Hamburg, C. Boyfen 1913. M. 2.50

Diefe Schrift ift, wie man nach dem Titel annehmen
muß, die Grundlegung eines größeren Werkes, das die
rechte Geftaltung des evangelifchen kirchlichen Gemeindelebens
darlegen wird. Der Verfaffer ftellt zunächft feine
Grundgedanken zur Diskuffion. Wir haben ihm dafür zu
danken. Seine Schrift zerfällt in fünf Hauptabfchnitte:
die religiöfe Frage der Gegenwart, Entftehung und Aufbau
der modernen Großftadt, die Seele der Großftadt,
die Vergangenheitsreligion in der Großftadt, erwachende
religiöfe Urkräfte in der Großftadt.

Die Großftadt ift nach unferem Verfaffer das Herz des
Volkslebens geworden. Nach ihr ftrömt das Leben hin,
von ihr flutet es zurück. Diefer Lebensprozeß ift die
holge einer im vorigen Jahrhundert entftandenen Umge-
ltaltung des fozialen Lebens der ganzen Welt. Sie erwuchs
nicht wie die früheren Fortfehritte aus dem inneren
heVein ^ .Nationen- Sie bracb von Außen über fie

ligion. Die Sozialdemokratie eint die Mafien in mächtigen
Verbänden. Sie ift felbft manchefterlich, indem fie
revolutionär Macht gegen Macht in den Kampf ftellt.
Nur der Katholizismus, der felbft eine gefchloffene Armee
bildet, hat gegen den doppelten Anfturm fich behaupten
können. In England hat die Vielgeftaltigkeit des kirchlichen
Lebens die Erhaltung der religiöfen Gerinnung
möglich gemacht. Doch ift fie auch dort in Gefahr. Das
nur auf das Innenleben gerichtete Luthertum hat fchimpflich
diefem Angriffe gegenüber kapituliert. Die Erneuerung
des Konfeffionalismus und der alte Liberalismus find ohne
Erfolg gewefen. Aber felbft im Materialismus der Sozialdemokratie
zeigt fich das dem deutfehen Volke eigene
Bedürfnis einer einheitlichen Welt- und Lebensanfchauung.
Die rettende Liebe aber weckt das Bewußtfein, daß die
fittlichen Ideale noch über das Luthertum hinaus zu vertiefen
find. Und es erwacht das Bewußtfein, daß die Religion
in lebendigen Gemeinden eine konkrete Geftalt gewinnen
muß, wenn fie die Zerfetzung des inneren Lebens
durch das Mancheftertum, vielleicht das Mancheftertum
felbft, überwinden foll.

Das ift der Grundgedanke unferer Schrift. Mehr
kann ich aus ihr hier nicht mitteilen. Aber fie ift ein
geniales Werk. Alle auf ihre Grundfrage fich beziehenden
Erfcheinungen der Gegenwart und der Vergangenheit
werden in ihr geiftvoll beleuchtet und befprochen.
Wer in religiöfen und kirchlichen Fragen irgendwie eine
Entfcheidung zu treffen hat, follte fie lefen. Mir hat
fie die Freude bereitet, daß fie mit dem Gedanken ab-
fchließt, der mich immer beherrfcht hat. Nur die Religions-
und Kirchengefchichte der neuen Zeit wird der Verfaffer
in der Fortfetzung feines Werkes noch eingehender behandeln
müffen. Die Religion ift religiös-fittliche Freiheit.
Sie hat in den blutigften Verfolgungen und Kriegen fich
behauptet. Daß fie in der Zeit des Mancheftertums fich
nicht behaupten konnte, das muß doch noch einen anderen
Grund haben als die Innerlichkeit des Luthertums.
Hier ift des Mißbrauchs und der Verwüftung der Religion
durch die Reaktion zu gedenken, die 1850 begann.

Dresden. Sülze.

Mahling, Prof. D. Frdr.: Die Pfyche der Jugendlichen u. das
religiöfe Moment in der Jugendpflege. (Die Entwicklungsjahre
. Pfychologifche Studien üb. die Jugend zwifchen
14—25. Hrsg.v. J.Egeru. L.Heitmann. 7. Heft.) (35 S.)
8°. Leipzig, P. Eger 1913. M. —60

Mit offenem Blick und mit warmer Teilnahme unter-
fucht M. zuerft die Seele der Jugendlichen, die der Arbeiterjugend
, der Jugend in den höheren Schulen und
der Jugend auf dem Dorfe, und zwar immer unter dem
dreifachen Gefichtspunkte der wirtfehaftlichen Lage, des
Bildungsganges und der körperlichen Entwicklung. Richtig
fleht er die Lage der Arbeiterjugend in jeder Hinficht
als gefährdeter an denn die der beiden anderen Gruppen,
weil fich in ihr wirtfehaftliche Selbftändigkeit mit innerer

MenfchenÖ^ d'C Entfeffelung der Naturkräfte, die dem Unfertigkeit verbindet. Dann fragt M. nach der Stellung
ihn gewann enenr[°llten' aber zugleich die Herrfchaft über 1 der Religion in der Seele der Jugendlichen, indem er
Geftaltuno- h"' t k Mancbeftertum fah darin die rechte wieder feine drei Gruppen durchgeht. Er findet nichts
CTewordene Kanin kU Die Mafchine und das flüffig was ihrer Anerkennung durch fie im Wege fteht, aber,
chefterlichen ^eber.fchen feit dem Beginn derjnan- i viele Anknüpfungspunkte für die Religion in ihr. Das

' Evangelium Jefu als die Verbindung von Gemeinfchafts-
geift mit Perfönlichkeitsgeift kommt den Bedürfniffen der
Jugend um fo beffer entgegen, je mehr es ihr in religiöfen
Perfönlichkeiten nahegelegt wird. Jede religiöfe Beein-
fluffung der Jugend muß aber an ihre Eigenart anknüpfen,

rL0/ia.r , v ,.—"""tuen leit aem Beginn uci indii-
td G^L^ r?'e Nationen- Sie werden durch Trufte
ArbekTf A k fen außeidich zufammengehalten. Die
fchö^ lft mrchanifierb Herz, Gemüt und

De -Lohl «Iff kZTUJlch nicht mehr in ihr betätigen.
KmilÄ/ durcb die Konkurrenz. Die Exiftenz einer

fähigen Gl H 1urcb beftehen, daß alle ihre arbeits- fonft ferfehlt fie ihr Ziel. Das tut fie ebenfalls, wenn fie

g Wieder an der induftriellen Arbeit teilnehmen. | einfeitig das Leben einer Jugendorganifation beherrfcht