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Ausgabe:

1913 Nr. 5

Spalte:

138

Autor/Hrsg.:

Tillmann, Fritz

Titel/Untertitel:

Das Selbstbewußtsein des Gottessohnes. Auf Grund der synoptischen Evangelien. 1. u. 2. Aufl 1913

Rezensent:

Bauer, Walter

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Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 5.

138

nicht deutlicher auszudrücken. Eine Arbeit wie die von mir verfuchte
ift gleichfam eine Ausgrabung. Nichts verdenken wir heute einem
Ausgräber mehr, als wenn er fein Amt dazu mißbraucht, feine Rekon-
ftruktion an die Stelle des Spatenbefunds zu fetzen, fo wahrfcheinlich
diefelbe fich ihm oder fogar auch anderen machen laffen möge. Er darf
nur Schutt wegräumen, aber nichts verändern oder ergänzen, vor allem
nicht Material aus verfchiedenen Schichten kombinieren. Nicht als ob
Rekonftruktion nicht auch wiffenfchaftliche Pflicht wäre; aber diefe Arbeit
ift von der des Ausgrabens getrennt zu halten, damit jedem Forfcher
der objektive Tatbeftand immer wieder zugänglich ift. Was ich über
das Ausgraben hinaus glaube zur Erkenntnis der verfunkenen Gefchichte
beitragen zu können, habe ich in den meinem Text vorangefchickten
Unterfuchungen vorgelegt. — Die Aufgabe freilich, die Bibel Cyprians
zu rekonftruieren mit Bibel-Hff., die von feinen Zitaten nicht abweichen
wie eine Hf. von einer anderen desfelben Autors, fondern z. T. ein
wefentlich älteres (k), z. T. ein wefentlich jüngeres (e) Stadium der Bibeltextentwicklung
vertreten, würde ich überhaupt niemals unternehmen.
Dabei käme ich mir vor wie einer, der die Perikleifche Akropolis mit
Hilfe der im Perferfchutt gefundenen Fragmente der Pififtratifchen wieder
aufbauen wollte.

Die von Sanday in feinen klaffifch gewordenen Unterfuchungen
zu Wordsworths Ausgabe von k (Old Latin Biblical Texts II, 1886) für
die Erforfchung der Vetus Latina eingeführte Methode, die verfchiedenen
lateinifchen Überfetzungen beftimmter griechifcher Vokabeln ftatiftifch zu
beobachten, erklärt Hoskier immer wieder für ganz wertlos. Und
ohne daß irgend ein lexikalifcher Beweis dafür geboten wird, follen wir
glauben, daß felix gegen beatus oder similitudo gegen parabola in alt-
lateinifchen Ew. Hff. fich als direkt aus dem Syrifchen gefloffene Überfetzungen
erklärten (S. 45, 245)! Von avozripos Lk 19, 21 f. hält er
für möglich, daß es eine aus der lateinifchen Überfetzung eingedrungene
Vokabel fei, die auf merkwürdigen Umwegen ein urfprüugliches axXrjQOt
verdrängt habe (S. 26f.); ein Blick in ein beliebiges griechifches Lexikon
hätte ihn belehren können, daß avatrjQOi; ein gut, fogar klaffifch griechifches
Wort ift.

Anftelle der verachteten fprachflatiftifchen Unterfuchungen werden
nun in die Textkritik Argumente eingeführt wie die folgenden. Wenn
manche Kritiker vermuten, daß in den apoftolifchen Vätern nicht oder
nicht nur unfere kanonifchen Evangelientexte, fondern vielleicht auch
fogenannte Apokryphen zitiert werden, fo machen fie fich damit
zu Wegbereitern ,for a pantheistic go-as-you-please treatment of the
most sacred matters, as can be seen in many works, which now issue
ffom the press. Take a recent and rather pretentious one: .Buddhist
and Christian Gospels now first compared' by Albert J. Edmunds (1908)'.
Folgt ein feitenlanger Exkurs gegen dies zum Glück ganz unbekannte
Buch. — S. 374 ff. werden die fogenannten Western-Interpolations (z.B.
der blutige Schweiß Luc. 22, 44) behandelt und als urfprünglich verteidigt
; wie erklärt fich aber dann ihr Fehlen in der großen Majorität
der Text zeugen? ,1 can only humbly submit that Divine Providence knew
that is was necessary to stimulate our torpid minds to fuller documen-
tary research by such startling omissions from the sacred narrative as
we are dealing with, and so allowed this for our eventual profit in the
more thorough investigation of the title-deeds to our inheritance'
(S. 381 f.). — Daß der letzte Schrei Jefu Mk. 15,39 urfprünglich fei,
wird wahrfcheinlich gemacht, weil es mit der Realität des Todesleidens
Jefu wohl harmoniere, die ihrerfeits mit altteftamentlichen Weisfagungen
erhärtet wird. Man vergleiche dazu den .Exkursus on the physical cause
of Christs dead' im 2. Band S. 3S2—405; Refultat: .rupture of the heart
from agony of mind*.

S. 62 ff. bekommen die Textkritiker eine lange Strafpredigt, daß fie
die gewagteften textgefchichtlichen Hypothefen aufftellen (warum beteiligt
fich Hoskier an diefer Sünde?), ehe fie das in taufenden von
griechifchen Minuskeln bereit liegende Material fammeln. Hat Hoskier
von dem feit 1902 erfcheiuenden Werke meines Vaters, das die Minuskel-
forfchung recht eigentlich zur Subftanz, vor allem aber zu ausgefprochenem
Anlaß hat, das ihm (S. 425) auch der Exiftenz nach bekannt ift, nichts
gelefen ? Ebenda hätte er auch die anderweit geforderten Unterfuchungen
über Überlieferung und Einfluß des Diateffarons finden können. Ganz
unbekannt ift ihm leider geblieben, daß er für fein eigenes Thema, die
Beziehungen zwifchen fyr und lat, in Merx, Die vier kanonifchen Evangelien
nach ihrem älteften bekannten Texte 1897—1911, eine außerordentlich
umfaffende und gründliche Vorarbeit hat.

Zu meinem Bedauern vermag ich fo in Hoskiers
neuer Arbeit (zu der er als Herausgeber der von Pier-
pont Morgan erworbenen Goldhandfchrift der Vulgata-
Evv. angeregt wurde) keine Förderung unferer text-
kritifchen Erkenntnis zu fehen. Das Material, das er benutzt
, die Probleme, die er angreift, find nicht neu, fondern
allgemein bekannt; die Schlüffe, die er zieht, die
Löfungen, die er verfucht, find methodifch unfundiert
und haben nicht einmal den Wert eines lehrreichen Irrtums
. Einen gewiffen Nutzen mögen dagegen die den
größten Teil des 2. Bandes füllenden Kollationen von
drei älteren Vulgatahff. der Ew. mit altlateinifchen Beftand-
teilen ftiften können; es find Kollationen von h, (Vaticana)
einer Hf, die bekanntlich in Mt altlateinifchen, in den drei
anderen Evangelien Vulgatatext hat, vom fog. Book of

Dimma und Book of Moling (vgl. Gregory, Prolegomena
zu Tifchendorfs Ed. VIII, S. 1092).

Berlin-Steglitz. Hans von Soden.

Till mann, Priv.-Doz. Dr. Fritz: Das Selbftbewußtfein des
Gotteslohnes. Auf Grund der fynopt. Evangelien. 1. u.
2. Aufl. (Biblifche Zeitfragen. IV. Folge, 11. u. 12. Heft.)
(III, 84 S.) 8°. Münfter, Afchendorff 1911. M. 1 —

Gegenftand des vorliegenden Doppelheftes der
,Biblifchen Zeitfragen' ift das Sohnesbewußtfein Jefu. Die
beiden Teile der Schrift behandeln die Vorausfetzungen,
die diefe eigentümliche Art des Selbftbewußtfeins im
Judentum hat und die Entfaltung, die fie in Jefus findet.

Wir find bei Tillmann an forgfältige Arbeit gewöhnt
und wiffen, daß er fich ebenfo gründlich wie in den
Quellen in der einfchlägigen Literatur umzufehen pflegt.
So macht auch feine neuefte Publikation einen durchaus
fauberen Eindruck. Wenn er die Vorftellung von den
Söhnen Gottes nicht auf heidnifchen Boden verfolgt, fo
hat das feinen Grund wohl darin, daß ihm die Ausbeute
eines folchen Streifzuges für die Erkenntnis Jefu bedeutungslos
zu fein fcheint. Von Kleinigkeiten, die notiert
zu werden verdienen, ift mir nur aufgefallen, daß Verf.
das Schmone esre als Achtzehnftundengebet erklärt.

Freilich trennen mich und die ,liberale Theologie',
die T. fortgefetzt befehdet und zu deren gründlicher
Bekämpfung er noch ein weiteres Heft in Ausficht ftellt,
nicht peripherifche Dinge von dem Verf., fondern die
großen Hauptfachen. Wir flehen dem Evangelienftoff
anders gegenüber als er und bedienen uns einer abweichenden
Methode, um den Gang der Ereigniffe zu
ermitteln. T. fetzt einfach den Jefus der in allen ihren
Teilen gleich glaubwürdigen Synoptiker dem Jefus der
Gefchichte gleich und geht über Bedenken, die etwa in
ihm oder feinen Lefern auftauchen könnten, hinweg mit
der Rede von der .annähernden Gleichzeitigkeit unferer
Quellen mit den Gefchehniffen' (S. 5). Er fieht nicht,
daß die drei erften Evangeliften nur in bedingter Weife
und gemeffen an dem vierten ein einheitliches Bild enthalten
. Er vermag feinen Quellen daher auch nicht die
Einficht abzugewinnen, daß das .Leben Jefu' fortgefetzt
umgeftaltet und bereichert worden ift und daß es, wie
innerhalb der fynoptifchen Überlieferung, fo auch vor
diefer eine Gefchichte hat, eine Gefchichte, deren treibende
Motive mannigfaltiger Art find.

Wer das Wort Mc. 10,45 vollinhaltlich auf die gleiche
Stufe mit Joh. 3,16 ftellt, fcheint mir fein Unterfcheidungs-
vermögen für einen Hiftoriker allzu wenig entwickelt zu
haben. Und wer die Frage, ob Jefus das Vater Unfer
felber gebetet hat, einfach mit dem Hinweis darauf verneint
, daß über die Lippen des Sündlofen niemals die
Worte: .vergib uns unfere Schuld' zu kommen vermochten
, der will Gefchichtsprobleme vom Standpunkt
des Dogmas aus löfen. Er wird dann aber feinen Gegnern
wohl hin und wieder Mängel nachweifen können —
auch T. bringt in diefer Hinficht manches Beachtenswerte
vor —, in der Hauptfache aber dazu verurteilt fein, viel
gröbere Verftöße gegen den Geift wahrer Gefchicht-
fchreibung zu begehen, als fie.

Marburg/Heffen. Walter Bauer.

Bruyne, D. Donatien, O.S. B.: Quelques documents nouveaux
pour l'histoire du Texte africain des tvangiles. Extrait
de la Revue Benedictine, 1910.) (65 p.) gr. 8°. Abbaye
de Maredsous 1910.

Bei feinen Vorarbeiten zu einer — längft erfebnten —
kritifchen Ausgabe aller noch vorhandenen altlateinifchen
Kapitelverzeichniffe (capitularia, summaria u. dgl.) zu den
biblifchen Büchern ift der gelehrte Dom de Bruyne aus
Maredfous auf mehrere Handfchriften geftoßen, die die
älteften Exemplare diefer Gattung aus der afrikanifchen

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