Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

1913 Nr. 3

Spalte:

86-87

Titel/Untertitel:

Wissenschaftliche Beilage zum 24. Jahresbericht (1911) der philosophischen Gesellschaft an der Universität zu Wien 1913

Rezensent:

Dorner, August

Ansicht Scan:

Seite 1, Seite 2

Download Scan:

PDF

85

Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 3.

86

einfchließt, der durch das Kirchenregiment eine Difzipli-
nierung ähnlich der katholifchen verlangt. Der englifche
Konformismus, der wie Luther im Bifchof nur den Diener
am Worte fah, wurde in der Zeit der Streitigkeiten poli-
tifch verbildet. Der Ausblick, den O. nach diefer etwas
willkürlichen und einfeitigen Auswahl von Kirchentypen
eröffnet, enthält nicht viel greilbare Angaben. Sieht er
die Urfachen des Abfalls von den organifierten chrift-
iichen Gefellfchaften in allgemeiner Schwächung der
äußeren Autorität von Bibel und Bekenntnis und im
Zurücktreten der Höllenfurcht, fo beurteilt er mit vollem
Recht den Verfuch der Hochkirche, durch Wiederbelebung
jener Inftanzen die Kirche zufammenzuhalten, als zwecklos
. Statt jener ,fklavifchen Methode' erfcheint ihm eine
Kirche der freien Innerlichkeit auf Grund des .allgemeinen
Prieftertums' erreichbar, die ihre Rechte nicht in die Hand
eines Bifchofs oder Paftors legt, fondern die fich auswirkt
in der .Macht eines geiftlichen Volkes, geiftliche
Gaben zu unterfcheiden', d. i. die von Seeley gewünfchte
Union von Freiheit und Ordnung, die .keiner Heroen bedarf
, da he felbft heroifch ift'.
Wien. Beth.

Richter, Dr. A.: Die geillige Bewegung der Gegenwart an dem

Begriff der Perfönlichkeit dargelegt und kritifch beleuchtet
. (Pädagogifches Magazin, Heft 370.1 (III,
121 S.) 8° Langenfalza, H. Beyer & Söhne 1909. M. 1.50
Skupnik, Prof. Vinzenz: Perfönlichkeit. Eine theoretifche
Unterfuchung. (Pädagogifches Magazin, Heft 403.)
(22 S.) 8° Langenfalza, H. Beyer & Söhne 1910. M. — 30

Zwei Schriften, die infofern aktuell find, als fie fich
mit dem viel gemißbrauchten Begriff der .Perfönlichkeit'
befchäftigen.

Die erftere umfangreichere fetzt mit der fehr
gefunden, durchaus zutreffenden Bemerkung ein, die heute
gar nicht nachdrücklich genug betont werden kann, daß
der gegenwärtig fo beliebte Begriff der Perfönlichkeit im
Grunde ein formaler ift und von den verfchiedenen Individuen
mit verfchiedenem Inhalt ausgefüllt wird. Deshalb
läßt es fich der Autor angelegen fein, darzuftellen,
welche mannigfach differenzierten Lebensideale es find,
die innerhalb der wefteuropäifchen Kulturkreife germa-
nifchen Gepräges fich mit dem Begriff der .Perfönlichkeit'
verknüpfen. Er unterfcheidet nicht weniger als neun
Haupttypen derfelben. Allerdings bildet den größten
Beftandteil feiner einfchlägigen Ausführungen eine von
Belefenheit zeugende, oft auf Eucken zurückgreifende
Schilderung verfchiedener älterer und namentlich neuerer
Geiftesftrömungen und Weltanfchauungen, und es muß
gefagt werden, daß die eigentliche Charakteriftik der
diefen Geiftesftrömungen und Weltanfchauungen ent-
fprechenden Perfönlichkeitsideale gelegentlich etwas kümmerlich
oder anfechtbar ausfällt. So werden beifpiels-
weife folgende Definitionen aufgeftellt: ,Dem .idealiftifchen
Evolutionismus' ift Perfönlichkeit ,das felbftlofe Individuum
, das die Kulturarbeit in raftlofem Streben ohne jede
Frage nach eigenem Glück und eigenem Behagen mit
Treue und Gewiffenhaftigkeit verrichtet'; dem .natura-
"ftifchen Evolutionismus', .dasjenige menfchliche Individuum
, das all fein Denken und Dichten, Tun und Handeln
m den Dienft der Lebensförderung, fei es der des Individuums
oder der Gattung' Hellt; dem Intellektualismus
.dasjenige Individuum, das in der Erhöhung der Bewußt-
'ansklarheit des Lebens Ziel und Aufgabe fieht'. Das
Gnnftentum wird mit einer Dogmatik identifiziert; Persönlichkeit
ift ihm .dasjenige Individuum, das im Rahmen
aer kirchlichen Ordnung zu Gott durch den Glauben in
eine perfönliche Lebensgemeinfchaft zu treten fucht und
m einem Denken und Handeln den göttlichen Gnadenwillen
auf Erden zu realifieren ftrebt'.

Der Hauptgegner, den der Verfaffer bekämpft, ift
der .ethifche Kraftnaturalismus' Nietzfches; das Perfön-
lichkeitsideal, für das er eintritt, das .poetifche Lebensideal
' Euckens, das, obwohl bekannt, doch etwas genauer
hätte beftimmt werden können.

Die zweite Schrift legt dar, wie weit verbreitet in der
Gegenwart das Streben nach Perfönlichkeit fei, wie fich
zugleich mit feiner Demokratifierung der Begriff der Perfönlichkeit
etwas verfchiebe, und fpricht unter energifchem
Hinweis auf den Unterfchied zwifchen Individualität und
Perfönlichkeit der Schule die Aufgabe zu, ihre Pfleglinge
zu Perfönlichkeiten zu bilden.

Straßburg i. E. E. W. Mayer.

Wiirenfchaftliche Beilage zum 24. Jahresbericht (1911) der
philolophilchen Gelellfchalt an der Univerlität zu Wien.

(III, in S.) gr. 8°. Leipzig, J. A. Barth 1912. M. 4 —

Diefe Vorträge berufen fich zum Teil auf ausführlichere
Arbeiten der Verfaffer. Der erfte derfelben: Kants
kritifcher Idealismus in feiner erkenntnistheoretifchen Bedeutung
von R. Reininger findet Kants Bedeutung darin,
daß er die Erkenntnistheorie von der Metaphyfik unabhängig
gemacht habe. Er will den inneren Realitätswert
der Erfahrung für das erkennende Bewußtfein feftftellen
und ihn gegen illufioniftifche Deutungen und fkeptifche
Angriffe fchützen. Die empirifche Welt ftelle vermöge
der ihr innewohnenden Empfindungs- und Anfchauungs-
notwendigkeit das Maximum des uns erreichbaren Reali-
tätsbewußtfeins dar. Mit dem Subjekt falle auch das
Objekt weg. Zwar gebe es auch andere denkbare, aber
nicht realifierbare Seinsmöglichkeiten, aber für uns ftelle
nur die empirifche Gefamtwirklichkeit ein Ganzes dar, das
an beftimmte Bedingungen gebunden fei, und diefe trage
natürlich keinen abfoluten Charakter. Einerfeits redet er
von einer Art von,Sein', das in der Anfchauung unmittelbar
gegenwärtig ift, was metaphyfifch ift, andererfeits wird
aber doch wieder gefagt: diefe Art von Sein hat nur für
uns Geltung.

Der zweite Vortrag von Kreibig fpricht von der
Wahrnehmung und zeigt, daß bei der Wahrnehmung
Empfindung, Wille (in der Auffaffung der Aufmerkfam-
keit) und Urteil des Denkens (Exiftenzialurteil und
Qualitätsurteil) unmittelbar verbunden feien. Er be-
fchränkt fich ausdrücklich auf diefe pfychologifche
Analyfe der Wahrnehmung. Eine eingehende Unterfuchung
hat Schrotter über die Pfychologie und Logik
der Lüge unternommen, in der er von dem Ethifchen
abfieht. Er unterfcheidet Abwehrlügen, Intereffefälfchung
und Phantafielügen. Im Einzelnen wird hier allerhand
Intereffantes geboten. Stoehr redet über das Thema
Gehirn und Vorftellungsreiz und fucht zu zeigen, daß im
Gehirn nicht der Sitz der Empfindung fei, fondern in den
peripherifchen Organen, während das Gehirn nur Bewegungsorgan
fei. Endlich redet Oskar Ewald zur Analyfe
des Unfterblichkeitsproblems. Auch hier wird nur
pfychologifch verfahren. Einerfeits beobachten wir alles
in der Zeit, alfo als vergänglich, andererfeits befteht im
Ich das Bewußtfein der Dauer, des Identifchen. Der
Unfterblichkeitsglaube verbinde nun beide Seiten auf
irrationale Weife. Der radikalfte Unfterblichkeitsglaube
nehme die Zeitlofigkeit in der Unfterblichkeit an, da fei
aber der Übergang von der Zeit in die Zeitlofigkeit nicht
verftändlich. Aber auch die Annahme unbegrenzter
Fortdauer der individuellen Exiftenz fei nicht haltbar,
weil hier das Bewußtfein der Identität fehle, da die Erinnerung
fich nicht ins Unendliche fort behaupten könnte.
Das Problem fei prinzipiell unlösbar, weil das Ich als
zeitlos Identifches doch zugleich in die Zeitlichkeit gebannt
fei. Es fei hier wie mit der Metaphyfik überhaupt,
die wir ftets aus den letzten Tiefen unferes Innern fordern
müffen, ohne die rationale Erfüllbarkeit diefer Forderung
jemals begreifen zu können. Der Verfaffer hat bei der