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Ausgabe:

1913 Nr. 26

Spalte:

821-823

Autor/Hrsg.:

Gerdtell, Ludwig von

Titel/Untertitel:

Die urchristlichen Wunder vor dem Forum der modernen Weltanschauung. 3. Aufl 1913

Rezensent:

Wendland, Johannes

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Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 26

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Während der erfte Band einen vorwiegend apologe-
tifchen Charakter hatte und fich zunächft an folche richtete,
die der chriftlichen Wahrheit ferner ftanden, find die j
Nouveaux discours für folche beftimmt, die von dem
Evangelium perfönlich ergriffen worden find; fie follen
.einige der Grundmerkmale oder der wefentlichften An- j
Wendungen der loi chretienne befchreiben': ,da indeffen j
die einzelnen im Evangelium enthaltenen Wahrheiten ineinandergreifen
und fich gegenfeitig bedingen, fo wird |
ein ernfter und verftändiger Lefer in Siefen wenigen, ohne
abfichtlich hervortretende Verbindung aneinandergereihten
Reden den Vollgehalt und den inneren Organis- |
mus der chriftlichen Sittlichkeit wahrnehmen'. Wiederum
find bei Vinet alle ethifchen Gedanken religiös bezogen
und begründet, fo daß der innere Zufammenhang der |
evahgelifchen Heilsbotfchaft und der ethifchen Grundwahrheiten
des Chriftentums allenthalben klar und eindringlich
hervortritt.

Formell fteht diefe Sammlung nicht auf der Höhe
des erften Bandes. Diefer beftand aus Kultusreden, die
vor einer Gemeinde gehalten wurden. Jene enthält meift
außerordentlich lange Reden, die in folchem Umfang unmöglich
auf eine Kanzel hätten gebracht werden können.
Daß fie zwifchen Predigt und Abhandlung eine nicht immer
glückliche Mitte behaupten, ift z. T. durch die Verhältniffe
bedingt, aus denen das Buch hervorgegangen ift. Vielleicht
ift auch die wachfende Vorliebe für feine, allzufeine
Beziehungen, für fubtile Analyfen, für zu geiftreiche Wahl
der Texte aus demfelben Umftand zu erklären. Man lefe
z. B. die Rede über das Wort der Bergpredigt: .Wenn
ihr nur euere Brüd er begrüßt, was tut ihr Außerordentliches ?'
(Matth. 5,47), — eine Rede, in welcher Vinet den Nachweis
führen will, daß Jefus Chriftus das Außerordentliche
zum fpezififchen Charakter des Chriften und zum Gefetz
der fittlichen Welt geftempelt hat'. — Daß aber auch
diefe zweite Sammlung eine reiche Fundgrube herrlicher,
aus der Tiefe chriftlicher Erfahrung gefchöpfter, oft in
ergreifender Sprache ausgedrückter Gedanken bildet,
braucht nicht befonders hervorgehoben zu werden.

Straßburg i. E. P. Lobftein.

Gerdteil. Dr. Ludw. v.: Die urchriltlichen Wunder vor dem
Forum der modernen Weltanfchauung. 3. Aufl. (Brennende
Fragen der Weltanfchauung. 3.) (133 S.) 8°. Eilenburg,
B. Becker 1912. M. 1.50

v. Gerdteil hat in einem früheren bereits in 3. Aufl.
erfchienenen Heft: .Sind die Wunder des Urchriftentums
gefchichtswiffenfchaftlich genügend bezeugt?' die biblifchen
Wunder im Ganzen durch ftreng hiftorifche Beweisführung
als tatfächliche Ereigniffe zu rechtfertigen gefucht. Auch
in diefem Heft herrfcht die rationale Beweisführung,
v. Gerdtell will ,für den dogmatifch und philofophifch
Unbefangenen und Vorausfetzungslofen' (S. 14) die Denkbarkeit
der biblifchen Wunder beweifen. Er will ,die
prophetifch-apoftolifche Weltanfchauung' vertreten, die
er als die geoffenbarte Metaphyfik anfleht. Gott hat uns
,die einzig mögliche, allgemeingültige und objektive
Löfung des metaphyfifchen Grundproblems
verraten'. (S. 52; vom Verf. gefperrt.) Diefe .urchrift-
liche Weltanfchauung' ftehe im Gegenfatz zum Deismus
wie zum naturaliftifchen Pantheismus. Auch die orthodoxe
Weltanfchauung fei ,ein verkappter Deismus' (S. 51).
v. G. vertritt energifch die Gegenwart Gottes im Weltleben
. Er will die relative Wahrheit des Pantheismus damit
in feinen Theismus aufnehmen. Gott ift ,im Grunde
genommen die einzige Wirklichkeit' (S. 53). .Nach der
Selbftoffenbarung des lebendigen Gottes führt das Weltall
keinerlei Selbftleben aus eigener, wenn auch aner-
fchaffener Kraft' (S. 55). Das wird fo kraß wie möglich
durchgeführt: ,Gott felber . . . betätigt fich jetzt in der
Platte meines Schreibtifches. Er ift in den Gläfern meines
Kneifers fchöpferifch gegenwärtig ... Er arbeitet in den

Atomen der Tinte, mit der ich diefe Zeilen fchreibe'(S. 131).
Von hier aus wird die Möglichkeit der Wunder verteidigt.
Die Definition des Wunders ift durchaus rational. Jede
Beziehung des Wunderbegriffs auf den religiöfen Glauben
fehlt. Das Wunder ift ,ein Ereignis, das von aller fonft
allgemein gemachten Erfahrung eine abfolute Ausnahme
macht. Ein Wunder ift infofern ein kaufalitätslofes
Gefchehen, als es ein Vorgang ift, für den man grund-
fätzlich keine natürlichen Urfachen finden kann, auf die
es nach einer feften Regel folgt' (S. 12). Daß nur der
religiöfe Glaube Wunder erleben kann, daß der irreligiöfe
Menfch in denfelben Ereigniffen, die dem Frommen
Offenbarungen der Macht und Liebe Gottes find, natürliche
Vorgänge fehen wird, davon verät v. G. keine Kenntnis
. Er Tagt: Jefus hat in feinen Wundern die prophetifch
-apoftolifche Weltanfchauung experimentell vor
aller Welt als die einzig richtige erhärtet' (S. 109). Das
Urchriftentum hat anders gedacht (cf. z.B.Joh. 14, 19—23).
v. G. traut feiner rationalen Beweisführung zu, daß fie
geeignet fei, Menfchen, die noch keinen Glauben haben,
zum Glauben an Wunder zu führen. Ein zweiter Grundmangel
der Schrift ift, daß v. G. in voreiliger und darum
falfcher Weife das religiöfe Weltverftändnis und die wiffen-
fchaftliche Erklärung der Ereigniffe ineinander fchiebt,
anftatt jede zuerft für fich in ihrer Eigenart zu erfaffen
und dann ihre Vereinbarkeit zu erweifen. Im Intereffe
der Allwirkfamkeit Gottes wird die Unverbrüchlichkeit
des Kaufalprinzips und der Naturgefetze geleugnet und
der Mechanismus der Natur (S. 110) ein täufchender Schein
genannt. Mit Hume wird die Apriorität des Kaufalprinzips
beftritten. Es wird zu einer Ärbeitshypothefe herabgewürdigt
und gefolgert, daß es kaufallofe Vorgänge geben
könne. Ebenfo wird die Unverbrüchlichkeit der Naturgefetze
beftritten, weil die Erfahrung uns nur die bisherige, nie die
ausausnahmslofe Giftigkeit beweifen kann. v. G. fieht nicht,
daß zwar die religiöfe Weltbetrachtung Gott in allem
fehen darf und muß, daß aber die wiffenfchaftliche Welt-
erklärung für das Verftändnis des Einzelnen von Unverbrüchlichkeit
des Kaufalprinzips und der Naturgefetze reden
muß. v. G. vergewaltigt letztere zu Gunften der erfteren.
Er fagt zwar mit Recht (S. 62): ,Dielandläufige Unter-
fcheidung zwifchen „Natürlichem" und „Übernatürlichem" ift
hinfallig'. Aber er folgert hieraus nicht, daß man die
abfolute Kluft zwifchen Wundern und natürlichen Ereigniffen
, die er ftatuiert, nicht aufrecht erhalten kann.
Er fieht nicht, daß die natürliche Erklärung mancher
biblifcher Wunder ihrer religiöfen Deutung keinen Eintrag
tut. Verblüffend einfach und das Übernatürliche
rationaliftifch begreifend ift feine Erklärung der Verwandlung
von Waffer in Wein. ,Gott hört einfach auf, fich
an der betreffenden Stelle in den Atomen der Waffer-
beftandteile zu betätigen . . . Gott braucht fich dann an
der Stelle der früheren Wafferatome nur in einer ent-
fprechenden Anzahl von Weinatomen zu betätigen' (S.90).
,Wir fehen jedenfalls, daß auch die fchwierigften Wunder
Jefu auf dem Boden des konfequenten Theismus natur-
wiffenfchaftlich durchaus denkmöglich werden' (S. 93).
Ich glaube, daß v. G. keinen Menfchen, der die Prinzipien
naturwiffenfchaftlicher Welterklärung anzuwenden
gewillt ift, überzeugen wird; fein Wunderrationalismus ift
unbefriedigender als der feiner zahlreichen Vorgänger.
Religiös ift er gefährlich, fofern er den chriftlichen Glauben
zu einer falfchen Auflehnung gegen berechtigte Erkenntnisprinzipien
verführt, v. G. zeigt dem fuchenden Menfchen
nicht die wahren Quellen des Glaubens. Er macht fich
die Sache zu leicht, wenn er behauptet, daß vieles .keine
Schwierigkeit' (S. 102) macht Er ift mehr bedacht,
allerlei leichte Triumphe über feine Gegner zu gewinnen
(S. 112—129), als die Gegenfätze in der Tiefe zu erfaffen.
Darum find auch folgende kränkenden Worte weniger ein
Zeugnis gründlichen Studiums als herrfchender Abneigung
und bedauerlichen Mißverftehens: ,Der unbußfertige Sünder
hat den theologifchen Freifinn bitter nötig. Diefer wird