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Ausgabe:

1913 Nr. 26

Spalte:

820-821

Autor/Hrsg.:

Vinet, Alexandre

Titel/Untertitel:

Nouveaux discours religieux. Tome III 1913

Rezensent:

Lobstein, Paul

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819 Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 26. 820

Lebenswerkes dar: erft die zweite Ausgabe von 1787
reinigt die Begründung der tranfzendentalen Einheit des
Bewußtfeins als der Möglichkeit der Gegenltände jeder
Erfahrung von dem pfychologifchen Einfchlag, nach dem
es hatte fcheinen können, als folle nicht die Grundlegung
einer objektiven, fondern einer fubjektiven Einheit der
Erkenntnis geleiftet werden. Und erft jetzt findet Kant
die endgültige Form für die Widerlegung der idealiftilchen
Lehre von der Seelenfubftanz. Alles was ihn die zumeift
verftändnislofen Stimmen über fein Werk gelehrt hatten,
fowie der gedankliche Gewinn feiner Erläuterungs- und
Kampffchrift von 1783, der .Prolegomena zu einer jeden
künftigen Metaphyfik, die als Wiffenfchaft wird auftreten
können', konnte in die Neuauflage eingearbeitet werden,
die zudem an unendlich vielen Stellen in der Form geglättet
und mit klärenden Einfchüben verfehen wurde.
Die Zeiten find für die Kantphilologie fo gut wie für die
fyftematifche Philofophie endgültig vorbei, wo klägliche
Verdächtigungen wie die Schopenhauers, Kant habe 1787,
ein Jahr nach dem Tode Friedrichs des Großen, gewiffe
Änderungen an feinem Werke aus Furcht vorgenommen
und auch fonft die urfprüngliche Einheitlichkeit des Sy-
ftems bewußt verwifcht, ernfthaft erörtert und zu Gunften
der erften Ausgabe in die Wagfchale gelegt werden
konnten. Die zweite gilt allgemein als der reife fyftematifche
Ausdruck der Vernunftkritik.

Ihn gefchloffen zu vermitteln, hat fich Görland zum
Ziel gefetzt. Er gibt daher einen Abdruck der zweiten
Ausgabe, ohne den Lefer durch Hinzufügung der Lesarten
der alten Faffung unter dem Text zu verwirren,
wozu jede Ausgabe gezwungen ift, die nicht zwei voneinander
völlig unabhängige Abdrücke beider Faffungen
geben will. Görland liefert in der zweiten Abteilung feiner
Lesarten im Anhang (S. 603—669) einen Abdruck aller
Abweichungen der erften Auflage und bietet einen Vergleich
der beiden Texte, fodaß er dem gefchichtlichen
Intereffe gerecht wird, ohne das bei feiner Ausgabe im
Vordergrunde flehende fyftematifche zu beeinträchtigen.
Soll der philologifche Teil indes wirklich von Zeile zu
Zeile benutzbar fein und nicht bloß bei den Hauptetappen
der Umgießung ganzer Kapitel, fo muß im Texte felbft
eine Zeilenzählung am Rande beigedruckt werden. Sie
mag die Schönheit des Satzfpiegels in diefem einen Bande
etwas entftellen, gehört aber jedenfalls in eine Ausgabe
der ,Kritik der reinen Vernunft', die den rechten Einklang
zwifchen hiftorifcher und fyftematifcher Abficht finden
will. Auch fcheint es mir nicht ganz folgerichtig zu fein,
daß Kants Vorrede zur Ausgabe von 1781, die doch 1787
nicht wieder abgedruckt wurde, den Text einleitet anftatt
die zweite Abteilung der Lesarten. Dagegen wird die
erfte Abteilung der Lesarten, welche den Gefamtbericht
über die textkritifche Arbeit des Herausgebers enthält
(S. 577—599), unnötig aufgefchwellt und der Überficht-
lichkeit beraubt dadurch, daß ihr gleichfalls ein Verzeichnis
aller Abweichungen der erften Auflage einverleibt
wurde mit Hinweis auf die zweite Lesartengruppe, wenn
es fich um eine bedeutendere Änderung handelt. Man
brauchte doch hier nur folche Lesarten aus dem Texte
von 1781 zu finden, die zur Befferung des Haupttextes
von 1787 herangezogen worden waren.

Die Textgeftaltung verdient grundfätzlich das höchfte
Lob. Sie fucht den Wortlaut Kants wenn nur irgend
möglich zu halten, eine Auffaffung, die fich gerade bei
der ,Kritik der reinen Vernunft' als heilfam erwies, die
mehr als ein anderes Kantifches Buch unter der rabies
philologorum hat leiden müffen. So ift Görland an einer
ganzen Reihe von Stellen in der glücklichen Lage, Kant
gegen faft alle feine bisherigen Ausleger und Herausgeber
mit Erfolg verteidigen zu können, wobei er fich oft mit
dem viel angefochtenen L. Goldfchmidt Seite an Seite
findet, dem er denn auch in den Lesarten die gebührende
Hochachtung zollt — foviel ich fehe, fieht er fich nur
einmal (S. 582, zu 93, 29—30) bei der Textgeftaltung zu

! ihm in Widerfpruch. Ohne weitfchweifig zu werden, ge-
ftaltet Görland an fyntaktifch verwickelten oder fonft

] dunklen und darum umftrittenen Stellen feine Textrecht-

j fertigung zu einem dankenswerten kleinen Kommentar
fachlicher Art. Im einzelnen hat fich fein Text im Ge-

j brauche zu bewähren. In den Lesarten S. 577 ift bei 12,
29 hinzuzufetzen: .entfpricht S. 633, Zeile 1 unferer Aus-

j gäbe'. S. 573, Zeile 15 von unten lies Monatsheften ftatt
-fchriften. — Wird mit dem Schlußbande der ganzen

j Ausgabe ein alphabetifches Gefamtregifter ausgegeben
werden? Es wäre zu wünfchen. — Das fchöne Werk wird
kräftig gefördert: Band IV (Prolegomena und kleinere
Schriften bis 1791, herausgegeben von Buchenau und
Caffirer) ift bereits erfchienen.

Düffeldorf. Paul Wüft.

Vinet, Alexandre: Nouveauxdiscoursreligieux. (XXXI,393 s)
8°. Laufanne, G. Bridel. — Paris, W. Fifchbacher 1912.

Der dritte Band der großen kritifchen Ausgabe der
Werke Vinet's (f. Theolog. Lit.-Ztg. 1911, 3; 1913, 17)
bringt eine zweite Sammlung von religiöfen Reden, deren
Herausgabe der um die Bearbeitung des 1. Bandes fehr
verdiente Pfr. Chavan, a. 0. Prof. an der theologifchen
Fakultät der Univerfität Laufanne, abermals beforgt hat.
; Die ausführliche hiftorifch-kritifche Einleitung zeichnet fich
durch diefelben Eigenfchaften aus, wie die der erften
Discours sur quelques sujets religieux. Auch diesmal hat
Chavan mit peinlicher Gründlichkeit aus Vinet's Tage-
| buch und Briefwechfel alles Material zufammengetragen
I und geachtet, das über die Entftehung der einzelnen
j Reden und über die Sammlung derfelben zu einem Bande
Auskunft geben kann. Es hat einen eigentümlichen, nicht
| feiten wehmütigen Reiz, in die geiftige Arbeitftatt des
j tiefen und feinen Denkers einzudringen, der unter immer
wiederkehrenden Schwierigkeiten, bei zahlreichen durch
1 Schmerzen und Krankheiten verurfachten Unterbrechungen
feinem Beruf oblag und die in Angriff genommene Arbeit
durchführte. Am 1. November 1837 hatte der aus Bafel
in feine engere Heimat zurückgekehrte Vinet feine Lehrtätigkeit
als Profeffor der praktifchen Theologie an der
Akademie zu Laufanne angetreten. In den feminariftifchen
Übungen, die er mit feinen Studenten vornahm, ließ er
kürzere Bibeltexte oder auch längere Schriftabfchnitte,
bald in der Form bloßer Entwürfe, bald in forgfältigerer
Bearbeitung homiletifch behandeln. Die gelieferten Arbeiten
wurden gemeinfam befprochen; der Leiter des
Seminars zog das Ergebnis der Erörterungen, das fich
in der Regel zu mancherlei Vorfchlägen und Predigt-
fchemata verdichtete: zuweilen kam es auch vor, daß Vinet
diefe Konzepte zu ausführlichen Reden erweiterte, die er
dann feinem jungen Zuhörerkreis mitteilte. Auf diefem
Wege kamen von 1838—1841 die vierzehn Nouveaux
discours religieux zuftande, von denen keiner in einem
wirklichen Gemeindegottesdienft gehalten wurde. Die
gegen Ende April 1841 erfchienene erfte Ausgabe war
bereits in demselben Jahre vergriffen. Der vorliegende
Band ift unter Zugrundelegung der zweiten, im Auguft
1842 erfchienenen, ganz unwefentlich veränderten Ausgabe
hergeftellt worden. Die dritte, nach Vinet's Tod von
Lutteroth in Paris, und von den Laufanner Freunden und
Kollegen (Chappuis, Ch. Secretan, Scholl, A. Foret) be-
forgte Auflage kam im Jahr 1848 heraus. Da eine in
kleinerem Format zu billigerem Preis 1860 erfchienene
Auflage feit mehreren Jahren vergriffen war, ergab fich
! die Notwendigkeit, gerade mit diefer Sammlung bei dem
Neudruck und der kritifchen Bearbeitung der Werke
Vinet's nicht länger zu warten. Übrigens bietet der Ver-
; gleich der zwei Hauptrezenfionen der Reden kein Intereffe
und gibt in keinerlei Weife Veranlaffung zu formellen
oder auch dogmatifch wichtigen Beobachtungen, wie dies
bei der erften Sammlung der Reden Vinet's der Fall
gewefen war.