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Ausgabe:

1913 Nr. 2

Spalte:

55-57

Autor/Hrsg.:

Eger, Karl

Titel/Untertitel:

Kirchenrecht der evangelischen Kirche im Großherzogtum Hessen. 2. Bd 1913

Rezensent:

Schian, Martin

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Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 2.

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anfchauung fehlt, die wirkliche Lebenskenntnis: anftatt
lebendiger abftrakte Lebensanfchauung, anftatt der wirklichen
eine papierne Welt, in der Kunft anftatt Lebensnotwendigkeiten
Originalitätsfucht und in der Praxis
allerlei Utopien wie die vom Völkerfrieden. Die rechte |
Lebenskenntnis fieht das Gegenfätzliche im Wirklichen j
in feiner ganzen Tiefe, und das echte Lebensgefühl ift
tragifch. Die wirkliche Menfchenkenntnis ift reich an 1
fchweren und bitteren Worten, auch über Oberfläch-
keit und Mittelmäßigkeit, und der Vorftellung von einem j
menfchlichen Erbübel geneigt. Gegen den Intellekt, der
nicht die Tiefen zu fehen vermag, liegt die Antwort auf
die nicht zu erdrückende Frage nach dem Sinn des Däferns
im Glauben und im Schauen, welches in erftaun-
licher Einfachheit des voll erkannten Rätfels Löfung
zugleich erfaßt, in der Gewißheit vom Geift und vom
jenfeitigen Horizont des Lebens. Auf diefem Boden er-
wächft die fehende -Liebe, die fehr etwas anderes ift als
blinder Optimismus. Da aber alle wirklichen Rätfel-
löfungen nicht als fubjektive Fündlein noch ausftehen,
fondern in ewigen Wahrheiten fchon vorliegen, ift im
bewußten Gegenfatz zu allem modernen Individualismus
und Subjektivismus in Lebensführung und Lebensanfchauung
der Anfchluß an jene gegebenen Mächte zu
vollziehen, die wirklicher Lebenswahrheit voll find: fo
eben reift perfönlicher Geift. Und über allem andern
fleht hier Chriftus und fein Wort.

Das etwa find die Hauptgedanken des Buches; und
von hier aus leuchtet es, oft ganz vortrefflich, in allerlei
Erfcheinungen des Menfchenlebens, befonders auch der
Gegenwart, hinein und weift deren Irrtum auf. Es läuft
bei der dezidiert perfönlichen Art des Verfaffers wohl
gelegentlich auch ein einfeitiges Urteil mit unter; hier
und da klingt ein Ton an, der ,vornehmer' ift im Bewußtfein
der Überlegenheit über die Mittelmäßigen, als es fich
mit dem in Chriftus und feinem Worte verkörperten
Ideal der Liebe verträgt; hier und da fteigen wir auch
in die Niederungen einer etwas nüchteren Lebensklugheit
herab: doch verfchlägt das alles wenig und tritt auch
ftark zurück hinter der fehr beachtlichen Grundrichtung,
die übrigens gar nicht danach fragt, ob fie modern ift
oder nicht, ein eben der Lebenswahrheit entwachfender Zug.

Die Auffaffung der Religion erinnert, bei konfer-
vativerem Gepräge, ftärkerer Jenfeitigkeit und weniger
erwecklich andringender Art, doch in vielem an Joh.
Müller, und dies gerade auch darin, daß die Gottesbeziehung
mehr der Hintergrund ift, auf den der Geift
zurückgreift, als die Luft, in welcher das Leben atmet.
Es ift alfo auch hier eine Erfaffung der Religion von der
geiftigen Kultur aus, als deren Grundlage und Rückhalt,
nicht aber die Souveränität der Religion, wie in den
Sprüchen Jefu, bei Paulus und etwa auch bei Auguftin.

Gnadenfeld. Th. Steinmann.

Eger, Prof. D. Karl, u. Dr. Julius Friedrich: Kirchenrecht
der evangelifchen Kirche im Großherzogtum Helfen. 2. Bd.

Das geiftliche Amt. Die Pflege des kirchl. Lebens.
(VII, 488 S.) gr. 8°. Darmftadt, J. Waitz 1911.

M. 15.50; geb. M. 17.50

Die evangelifche Kirche Heffens hat, was die Darfteilung
ihres Kirchenrechts betrifft, längft einen Vor-
fprung vor manchen andern Landeskirchen; feit 1884
befitzt fie die zufammenfaffende Arbeit von K. Köhler,
zu der 1890 ein Nachtrag herauskam. Aber drei Jahrzehnte
ließen das Werk veralten und den Wunfeh nach
einem neuen fehr rege werden. Er wird durch diefes
Buch erfüllt, und zwar, foweit der zuerft erfchienene
zweite Band fchließen läßt, in einer Weife, die zu großem
Dank Anlaß gibt. Das kleine Heffen wird, wenn der
erfte Band da fein wird, eine fo genaue, gründliche und

umfaffende Erörterung feiner gefamten kirchenrechtlichen
Verhältniffe befitzen, wie fie kaum ein anderes
Land fein eigen nennt. Selbft im Verhältnis zu P. Schoens
trefflichem preußifchen Kirchenrecht wird fie den Vorzug
noch detaillierteren Eingehens befitzen, außerdem
auch den ausführlicherer gefchichtlicher Orientierung.
Eger hat befonderen Wert darauf gelegt, ,die Rechtsentwicklung
der einzelnen Einrichtungen und Ordnungen in
großen Zügen bis zur Reformation zurückzuverfolgen',
und Friedrich wird desgleichen tun. Über die Gründe
der Stoffverteilung zwifchen beiden Bearbeitern foll erft
das Vorwort zu Bd. 1 orientieren. Wir haben uns alfo
zunächft an den zweiten Teil zu halten, der das geiftliche
Amt (Abfchn. 5) und die Pflege des kirchlichen Lebens
(Abfchn. 6) erörtert. Diefe Überfchriften könnten vielleicht
genauer gefaßt werden; auch in Abfchn. 6 erfcheint das
geiftliche Amt vorzugsweis als der Arbeitsfaktor, und die
Rechtsverhältniffe feiner Arbeit bilden weithin den Inhalt.
Tatfächlich gibt Abfchn. 5 die äußeren Rechtsverhältniffe
des geiftlichen Amts, Abfchn. 6 neben anderem die
Ordnungen für feine Arbeit. Die Teilung in die beiden
Gruppen war aber fachlich gegeben. § 1 befpricht,
vielleicht für ein Sonderkirchenrecht zu ausführlich, das
Wefen des geiftlichen Amts in der evangelifchen Kirche
überhaupt, nachher die Vorbedingungen zur Erwerbung
des Amts, Vorbildung, Prüfungen; Befetzung der Pfarr-
ftellen (diefes Thema hätte vielleicht beffer bei den
Gemeinderechten befprochen werden können); Ordination
und Amtseinführung; Pflichten und Rechte des Amts;
Dienfteinkommen; Ruhegehalt; Verforgung der Witwen
und Waifen; Vertretung im Dienft; Erledigung der Stellen;
die weltlichen Kirchendiener (gehört ftrenggenommen
nicht unter diefe Überfchrift); Aufficht über das Amt;
Pfarrkonferenzen und Dekanatsbibliotheken; Difziplin
gegen die Geiftlichen (diefe Wortverbindung fcheint mir
nicht glücklich). Abfchn. 6 erörtert: Kirchenbuch; die
gottesdienftlichen Zeiten und Tage; Gemeindegottesdienft;
Taufe; Abendmahl; Konfirmation; Trauung; Beftattung;
Religionsunterricht; Seelforge; Liebestätigkeit; Vereinsund
Verfammlungswefen; Kirchenzucht; Kirchenbücher;
pfarramtliche Gefchäftsführung. Über die Verteilung des
Stoffes bin ich gelegentlich anderer Anficht als der Ver-
faffer. Über die Rechte der Kandidaten erwartet man bei
Abfchn. 5 § 2, der fonft von ihnen handelt, erfchöpfende
Auskunft; fie kommt teilweife erft beim Gemeindegottesdienft
(S. 260f.). Über die Rechte und Pflichten des
Amtes gegenüber der Schule vermißt man in Abfchn. 5
die erwünfehte Aufklärung; fie kommt dann unter
Religionsunterricht. S. 25 fähe man gern einen Hinweis
auf das jetzt übliche Amt des .Pfarraffiftenten'; das Nötige
fleht S. 149, wo es kaum ein Recht hat. Die Katechismuslehre
ift als Anhang zu Konfirmation und Konfirmandenunterricht
befprochen (300fr.). Dagegen äußert
E. felbft Bedenken, die keineswegs ohne Grund find;
aber ohne Recht ift feine Entfcheidung auch nicht. Wenn
erft das Regifter vorliegen wird, werden diefe Fragen
der Inhaltsverteilung relativ unwichtig werden. Und
neuerlich find fie Fragen zweiten Ranges gegenüber den
Fragen der Darfteilung felbft. Diefe fondert überall auch
äußerlich gefchichtliche Entwicklung und geltendes Recht.
Für die hiftorifchen Daten dankt der Verfaffer dem verdienten
W. Diehl für Beratung; foweit ich hier zu urteilen
vermag (ich gehöre ja nicht zu den genauen Kennern
der heffifchen KG und muß mir daher Referve auferlegen),
hat E. fehr forgfältig gearbeitet, die Quellen und die
vorhandenen Vorarbeiten benutzt, namentlich wieder die
von Diehl, den er doch gelegentlich auch zu ergänzen
vermag (S. 31 Anm. 2). Zu S. 414k kann ich jetzt auf
die von mir in Deutfch-Evangelifch 1912 S. 158 ff. erftmalig
vollftändig veröffentlichte Armenordnung für Gießen
von 1720 hinweifen. Die Ergebniffe find durchweg über-
1 fichtlich zufammengeftellt und klar formuliert. Bei manchen
[ Thematen wird der gefchichtliche Teil fehr ausführlich;