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Ausgabe:

1913 Nr. 24

Spalte:

757-761

Autor/Hrsg.:

Bonus, Arthur

Titel/Untertitel:

Zur religiösen Krisis. In 4 Bdn 1913

Rezensent:

Thimme, Wilhelm

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Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 24.

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biegt, das okkamiftifche überlogifche Antoritätsprinzip
und das neuplatonifch-myftifche Einswerden mit Gott.
Und zwar fo, daß die unmittelbare Gewißheit, die fich
nach der einlinigen Denkweife nur auf das Überhiftorifche I
beziehen kann, gerade auf das erkenntnistheoretifch betrachtet
Unbekanntefte richtet, auf den konkreten Inhalt
der Schrift und die Perfon Jefu als die die Schrift be-
herrfchende Größe.

Für Heim bedeutet dies das Zerfchlagen aller Logik.
Daß ein hiftorifches Faktum uns unmittelbar gewiß
werden, ja unfere religiöfe Gewißheit tragen kann, fcheint
ihm die Logik zu durchbrechen. In Wahrheit fcheinen
mir auch hier Heims Gedanken eine Weiterführung zu
fordern, die die Antinomie von Erkenntnis und Willen
löfen. Wenn die Gefchichte nicht etwas lediglich Vergangenes
ift, fondern eine die Gegenwart und unfer ganzes
Leben tragende Macht, fo wird durch willensmäßige Bejahung
und erkenntnismäßige Erfahrung des in einer
konkreten Gefchichte uns entgegentretenden Inhalts die
Logik nicht geopfert.

Heim verfolgt dann weiter, wie in der altpro-
teftantifchen Theologie allmählich die ariftotelifche Scho-
laftik aufgenommen wird und fo diefelben Frageftellungen
wiederkehren. Bei Schleiermacher findet er die beiden
fchon in der Frühfcholaftik unvermittelt nebeneinander
flehenden Verfuche wieder; einmal wird die religiöfe
Gewißheit ganz unabhängig von allem hiftorifchen Chriften-
tum darauf gegründet, daß ein über die Gegenfätze von
Denken und Sein, Wiffen und Wollen, Subjekt und Objekt
hinaushebendes Wefen unfer Dafein trägt. Andrerfeits
foll der (Grund der Gewißheit des Chriften erft in der
Perfon Jefu liegen. Hierin liege ,das unentfchiedene
Ringen zweier Gewißheitsbegründungen, deren jede in ihre
Konfequenzen verfolgt die andere aufheben müßte' (S. 376).
Heim wird dem nicht gerecht, daß bei Schleiermacher
beide Begründungen der Gewißheit, die aprioriftifche,
überhiftorifche und die an der Perfon Jefu orientierte
durch einen vermittelnden Gedanken verbunden find:
Was fchon an und für fich mit dem Wefen des Geiftes
und feiner Stellung in der Welt verbunden fein follte,
ftete Bezogenheit unferes Lebens auf Gott, wird infolge
der hemmenden Schranken unferer normalen Entwicklung
erft durch den erlöfenden Einfluß der Geiftesmacht des
Chriftentums tatfächliche Wirklichkeit. Jedenfalls hat
Schleiermacher den Verfuch gemacht, beide Gedankenreihen
zur Einheit zu verbinden.

Heims Buch ift von felbftändiger Frageftellung ausgegangen
. Heim verfolgt feinen eigenen, recht eigenartigen
Weg. Interefiant und anregend bleiben feine
Ausführungen auch für den, der ihm nicht überallhin
folgen kann. Er zwingt zum gründlichen Durchdenken
der fundamentalen Probleme über die religiöfe Gewißheit
und ihren Zufammenhang mit aller Gewißheit, über logifche
Konfequenz und Willenstat. Vollftändig wird man erft
über fein Werk urteilen können, wenn ein fyftematifcher
Band über das Gewißheitsproblem vorliegt, den er zu
liefern verfprochen hat.
Bafel. Johannes Wendland.

Bonus, Arth.: Zur religiöfen Krifis. <In 4 Bdn.) 8°. Jena,

E. Diederichs.

i.Bd. Zur GermanifieruDg des Chriftentums. (207 S.) 1911. Kart.

M. 3_; geb. M. 4_. — 3- Bd- Religiöfe Spannungen. Prolegomena

zu e. neuen Mythos. (IV, 311 S.) 1912- Kart. M. 4.80; geb. M. 6 -. —
4. Bd. Vom neuen Mythos. Eine Proguofc. (125 S.) 1941. Kart.

3 —; geb. M. 4 —
Bonus verkündet uns, daß die religiöfe Frage — feiner
Meinung nach die wichtigfte Frage der Menfchheit — in
ein kritifches Stadium eingetreten ift. Das Chnftentum,
ruft er, ift greifenhaft geworden, über fein zerfetztes Dogma,
über feine weithin als fpießbürgerlich empfundene Moral
flutet das Leben der Gegenwart hinweg. Die alten Schläuche

find zerplatzt oder am Zerplatzen, neue Schläuche noch
nicht da; der religiöfe Moft droht verfchüttet zu werden.
Aber verheißungsvoll beginnt fich wieder, wenn auch zu-
nächft nur traumhaft, der religiöfe Geftaltungstrieb zu
regen, er wird der unfaßbaren Gottheit ein neues Kleid
weben, er wird einen neuen Mythos fchaffen. B. fühlt
fich dazu berufen, dem kommenden Mythos den Weg
zu bereiten und, wenn auch nicht feine lebendigen Farben
und Linien, fo doch fein Schattenbild zu zeichnen.

Mir will fcheinen, daß B.s neueftes Werk — Bd. I
und III find Sammlungen von meift fchon anderswo gedruckten
Effays aus der Zeit 1895—1909, Bd. IV ift im
Zufammenhang niedergefchrieben, Bd. II noch nicht er-
fchienen — nicht nur die religiöfe Krifis der Gegenwart
auf feine Weife grell und fchonungslos beleuchtet, fondern
in erfter Linie felbft ein Dokument diefer religiöfen Krifis
ift. B. lehnt es gelegentlich (IV, 106) ausdrücklich ab, als
einfam flehender Denker oder Träumer zu reden, er fpricht
vielmehr im Namen vieler, ja er ift felfenfeft davon überzeugt
, im Namen der aufdämmernden Zukunft zu fprechen.

Über feine Schreibweife fich zu verbreiten, tut nicht not. Mau kennt
die Wucht und Pragnanz, den poetifchen Schwung feines Stils. Ob es ein
Vorzug ift, daß diefer häufig an Xietzfche gemahnt, von dem B. ja auch
fachlich tiefgehend beeinflußt ift, bleibe dahingeftellt. An Nietzfche erinnert
auch die herrifche, diktatorifche Art, mit der B. feine Sätze auf-
ftellt, und die Rückfichtslofigkeit, mit welcher er nach rechts und links
feine Keulenfchläge — um nicht zu fagen Fußtritte — austeilt. Iiisweilen
jedoch vermißt man bei ihm die Schärfe (jedoch nicht die polemifche)
des Ausdrucks. Von einem Propheten erwartet mau ja Orakel. Aber
B. fcheint hin und wieder zu vergeffen, daß er kein Prophet fein will,
,daß der allgemeine Charakter feiner Unterfuchung leider wird dialektifch
bleiben muffen' (IV, 28). B. redet viel von dem Wefensuuterfchied von
Wiffenfchaft und Mythos, aber man fragt fich bisweilen vergebens, ob
feine eigenen Behauptungen wiffenfehaftlich oder iiberwiffenfehaftlich,
,mythifch' gemeint find.

Die drei Bände find reich, überreich beinah, an fruchtbaren
und glücklichen und vielleicht auch — weniger
glücklichen Gedanken und Anregungen. Zwei Themata
find es, die B. vor allem befchäftigen: das |Wefen der
Religion und die Zukunft der Religion. Bei dem erften
Thema handelt es fich hauptfächlich um die Beftimmung
der Grenzen der Religion, ihren Unterfchied von Wiffenfchaft
, Moral, Kultur, Äfthetik und um die grundlegende
Formulierung der feelifchen religiöfen Urtatfachen, bei
dem zweiten Thema um die werdende Neugeftalt der
Religion, die Kritik des alten und die Prognofe des neuen
Mythos.

Wir leben, fagt B., im wiffenfehaftlichen Zeitalter,
j Darum erfcheint ihm die Abgrenzung der Religion gegen
die Wiffenfchaft als wichtigfte Aufgabe. Weithin, zumal
im chriftlichen Dogma, auch in dem, was die liberale
Theologie noch davon übrig läßt, und nicht minder im
,Monismus', fieht er die Religion durch Wiffenfchaft ver-
fälfcht und verdorben, und zwar durch eine Pfeudowiffen-
j fchaft, die nicht begreifen will, was fie feit Kant wiffen
I müßte, daß keine Dialektik, kein Wägen, Meffen und
Rechnen ins Innere der Natur und des Geiftes eindringen
[ kann. Wiffenfchaft kann nicht mehr bieten als eine ge-
wiffe Orientierung auf der Weltoberfläche in technifch-
praktifcher Abzweckung. Eine .wiffenfehaftliche Welt-
anfehauung' ift nach B. ein barer Unfinn. Daß er hier
in der Sache recht hat, ift klar. Immerhin wird man
darauf hinweifen dürfen, daß die Einfichtigen unter den
Theologen und Naturforfchern ihre Glaubenslehren und
Naturphilofophien nicht in dem Sinne wie formale Loo-ik
j und Mathematik oder empirifche Naturbefchreibuno- als
Wiffenfchaft gelten laffen. Nach B. follte man faft meinen,
I es gebe folche Einfichtige überhaupt nicht mehr.

Das mag man ihm hingehen laffen. Aber ein Vorwurf
muß an diefer Stelle erhoben werden. Beherrfcht
von dem Argwohn, daß man ihm nicht den Feuerwein
der Religion wiffenfehaftlich verwäffere, läßt er fich zu
einer fchlimmen Einfeitigkeit hinreißen. Er fcheidet den
intellektuellen Faktor aus der Religion aus. Er fieht die
Religion im fchöpferifchen, perfönlichen Wollen und Werten,
fonft nirgends.