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Ausgabe:

1913 Nr. 23

Spalte:

727-729

Autor/Hrsg.:

Meyer, Johs.

Titel/Untertitel:

Das soziale Naturrecht in der christlichen Kirche 1913

Rezensent:

Troeltsch, Ernst

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Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 23.

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lallt werden können. Und doch weiß jeder, der fich
längere Zeit mit den antiken Philofophen befchäftigt, daß
fie auf manche fpäteren Epochen ganz geläufige Probleme
deshalb keine eindeutige Antwort geben, weil fie ihnen
noch nicht in dem Sinne zum Problem geworden find.

Ganz fo fchwierig liegt nun in unterem Falle die Sache
doch wohl nicht. Br. wie Z. find darin einig, in Arifto-
teles bei all feiner Selbftändigkeit doch den treuen Schüler
Piatos zu fehen. Nun gehört die Lehre von der Prä-
exiftenz der Seele zu dem zentralen Beftande des Plato-
nismus. Hätte Ariftoteles fie geleugnet, fo dürften wir
erwarten, daß er feine abweichende Anficht hier wie fonft
fehr beftimmt der feines Lehrers entgegengefetzt hätte.
Und dies behauptet Br. Aber es fleht mißlich um diefe
Behauptung aus, wenn die einzige Stelle in welcher die
Präexiftenz ausdrücklich geleugnet werde, im 3. Kapitel
des Buches A der Metaphyfik gefunden wird, in jenem
knappen und vielfach unklaren Abriß der ariftotelifchen
Lehre. Und der Satz, daß die formale Urfache mit dem
Ding zugleich beginne, läßt nicht ohne weiteres einen
folchen Schluß zu, zumal Stellen, an denen der Creatia-
nismus deutlich gelehrt wird, Br. nicht aufzuweifen vermag
. Er ftützt fich in der Hauptfache auf die Bezeichnung
d-sloq, welche den Nus nicht als göttlich, fondern j
als von Gott entfprungen bezeichnen folle. (vgl. O-stog
vößoq u. dgl.). Zugegeben auch, daß Ariftoteles das Wort
gelegentlich in diefem Sinne braucht, in feiner Anwendung
auf den Nus kann es eine folche Bedeutung nicht haben,
da es ihm auch im Komparativ (de an. 14 p. 408 b 29)
und Superlativ (eth. nie. K 7 p. 1177 a 16) beigelegt wird,
was nur auf fein Wefen, nicht auf feinen Urfprung gehen
kann. Auch das ov fivrjfiovevoftsv de an. III 5 p. 430 a 23
kann, nachdem eben vorher der Nus als unfterblich und
ewig bezeichnet ift, kaum anders als auf die Präexiftenz
gedeutet werden.

Den wahren Grund, aus dem Ariftoteles Werke keine
klare Antwort auf diefe Frage geben, fcheint mir Br. felbft
angedeutet zu haben. Er bemerkt gelegentlich, daß die
Momente, welche Plato zu feiner Lehre von der Präexiftenz
führten, für Ariftoteles keine Bedeutung gehabt
haben. So hat er auf fie kein befonderes Gewicht gelegt.
Hätte er fie aber durch eine andere erfetzt, fo hätte er
diefe neue Lehre mit ganz anderer Entfchiedenheit vorgetragen
.

Straßburg Elf. Max Wundt.

Meyer, Prof. D. Johs.: Das foziale Naturrecht in der chrift-
lichen Kirche. (III, 52 S.) gr. 8°. Leipzig, A. Deichert,
Nachf. 1913. M. 1 —

Die Brofchüre ift die Publikation eines Ferienkursvortrages
, Bericht und zugleich Reflexion über ver-
fchiedene Werke, die das Thema der chriftlichen Sozial-
gefchichte und der chriftlichen Soziallehren behandeln.
So berichtet der Verfaffer über Sommerlad, v. Eicken,
Seeberg und meine Soziallehren. Im Wefentlichen
folgt er den letzteren mit derjenigen Art von Kritik,
die aus der Vergleichung dogmengefchichtlicher Werke
und aus der Durchdenkung des vom Beurteilten felbft
dargebotenen Materials möglich ift. Er hebt hierbei vor
allem die Idee des chriftlichen Naturrechts als eines
wichtigen Mittels für das Verftändnis der älteren, vor der
Aufklärung liegenden Gefchichte heraus. ,Die Brofchüre,
fagt die mitgegebene Inhaltsüberficht zutreffend, fucht in
großen Zügen darzulegen, wie die alte Kirche den ftoifchen
Begriff des Naturrechts übernahm und ihn mit dem Offenbarungsgedanken
verkoppelte; wie dann die weitere Verwendung
des Begriffes teils in fozial-konfervativer Tendenz
(fo befonders bei Gregor L, Thomas, Luther, Calvin), teils
in fozialrevolutionärer Tendenz (fo befonders bei den
Huffiten, revolutionierenden Bauern der Reformationszeit
und dem englifchen Puritanismus) erfolgte, bis die Aufklärung
diefem ganzen kirchlich geprägten Naturrechtsgedanken
und damit der Einheitskultur ein Ende machte.'
Seit der Aufklärung fei Naturrecht und fittliches Natur-
gefetz rein fäkularifiert und rationalifiert, ebendamit dann
aber die religiöfe Moral auf die individuelle (und müßte
man hinzufetzen: private) Sphäre befchränkt. Daran
knüpft nun der Verfaffer die praktifche Gegenwartsfrage,
ob diefe alten Probleme der öffentlichen und fozialen Moral
von der .Kirche', die ihm felbftverftändlich die alleinige
Trägerin des" Chriftentums ift, nicht neu aufgenommen
und gelöft werden könnten und müßten. Zugleich bedauert
er es, daß ich auf diefe modernen Geftaltungen
des Problems nicht mehr eingegangen fei. ,Diefe Frage,
mit der wir ein Erbe der Vergangenheit für die Gegenwart
nutzbar machen möchten, führt uns hinein in die
neuen Probleme des neuzeitlichen chriftlichen Sozialismus.'
Er weift auf Stahls Verfuche einer neuen Geftaltung des
chriftlichen Naturrechts, auf Sismondi, Adam Müller und
Rofcher hin, welche zwar den Ausdruck Naturrecht vermeiden
, aber etwas fachlich dem alten lutherifchen Naturrecht
ähnliches meinen. Ebenfo fei der in der theo-
logifchen Ethik beliebte Ausdruck ,die Schöpfungsordnung
', möge fie aus der Genefis, aus der Anerkennung des
Hiftorifch-Gewordenen oder aus rationalen Konfequenzen
des Gottesbegriffes entwickelt werden, die volle Analogie
zu dem alten Naturrecht. Es ift in der Tat der heute in
der Theologie, die die alte Terminologie nicht mehr verlieht
und das liberalifierte und rationalifierte Naturrecht
geradezu (wenigftens in Deutfchland) perhorresziert, gangbare
Begriff für diefe Dinge. Der Verfaffer beftreitet nun
Brauchbarkeit und Berechtigung diefes Begriffes. Es gebe
keinen .bibliziftifchen Beweis für ein unveränderliches fozio-
logifches Ideal'. Es gebe auch keinen hiftorifch-pofitiven,
da die Gefchichte zu verfchiedene Sozialgebilde hervorgebracht
habe, fo daß für den chriftlichen Standpunkt
nur eine ganz allgemeine antirevolutionäre Pietät gegen
über den gefchichtlichen Ergebniffen gefordert werden
könne. Einen rationalen, der ja wieder auf das alte chriftliche
Naturrecht hinausliefe, gebe es erft recht nicht. ,So
fcheinen wir denn freilich zu einem rein negativen Ergebnis
zu gelangen. Es fcheint, als fei damit die Kirche
vom fozialen Leben gefchieden, da fie doch nicht die
foziologifchen Ideale, gefchweige denn die konkreten Sozialformen
, entwickeln kann.' Trotzdem will der Verfaffer nicht,
wie es bei mir fcheine, in .praktifcher Ratlofigkeit' enden.
Er .pflanzt vielmehr die Fahne des chriftlichen Sozialismus
hoch'. Er meint damit allerdings nur den chriftlichen
Sozialismus Carlyles, obwohl diefer zu patriarchalifch gedacht
habe und ,auch feine Religion uns nicht genügen
kann'. Seine Größe fei aber, daß er ,den Weg zum
fozial Gefunden nicht in der Konftruktion foziologifcher
Ideale fah, fondern in der Wirkung fozialen Sinnes in
ethifch gegründeten Perfönlichkeiten'. Dazu bedürfe es
dann freilich mehr als des Carlylefchen Heldenglaubens,
es bedürfe des Glaubens an den vollen biblifchen Jefus.
.Wenn wir nun bei Jefus chriftliche Perfönlichkeiten
werden, dann follen wir an die Arbeit, diefen Sinn, der
uns gefaßt hat, überall zu wecken. Diefer Sinn ift eine
beffere Garantie der Löfung der fozialen Frage als die
Selbftfucht. So gibt uns Carlyle eine Antwort auf die
Frage nach dem Einfluß der Kirche auf die foziale Frage,
eine Antwort, die über alle Naturrechtsgedanken weit
hinausweift: Schafft fozialen Sinn in Charakterperfönlich-
keiten, und ihr helft zur befferen Löfung der fozialen
Frage'. Daraus ergibt fich dem Verf. das heutige Programm
eines chriftlichen Sozialismus: .Sozialer Fortfehritt ift nicht
gebunden an ein beftimmtes Naturrecht, weder an
Patriarchalismus noch an eine beftimmte Form des Eigentums
. Hier flehen alle Wege offen, und Vernunft darf
autonom nach Idealen fuchen. Das ift ihr Amt. Aber
das Chriftentum und die Kirche haben auch ihr Amt:
nicht foziologifche Ideale autoritativ hinzuftellen, fondern
Menfchen zu erfüllen mit fozialem Sinn, mit Gerechtigkeit
und Liebe, daß fie es nicht laffen können, zu proteftieren