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Ausgabe:

1913

Spalte:

725-726

Autor/Hrsg.:

Dürr, E.

Titel/Untertitel:

Erkenntnis-Theorie 1913

Rezensent:

Kohlmeyer, Ernst

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Seite 1

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Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 23.

726

1888). Ein Schriftfteller, der es fertig bringt, in diefem
kurzen Satze zwei Namen bekannter Theologen falfch zu
fchreiben, mit der Chronologie fo nonchalent umzufpringen
und in diefem Zufammenhange — um von der Nichterwähnung
Köftlins (1870—1898, bezw. 1902 hier) und
Beyfchlags (1860—1900hier) zu fchweigen, obwohl beide
an der hiefigen Univerfität und in der Wiffenfchaft mehr
bedeuteten als Jacobi —, ja in dem ganzen Werke den
Mann zu vergeffen, der ein halbes Jahrhundert hier gewirkt
hat und mindeftens feit den achtziger Jahren für die
pietiftifchen Kreife alle andern Hallenfer in den Schatten
Hellte: Martin Kaehler, — ein folcher ,Hiftoriker' darf
nicht den ,Standpunkt' des Kritikers verantwortlich machen,
wenn die Kritik, wie die meinige es tun muß, fein Buch
als gefc hi ch 11 i che Leiftung für recht unzulänglich erklärt.

Halle a. S. Loofs.

Dürr, Prof. Dr. E.: Erkenntnis-Theorie. (VIII, 362 S.) 8°.
Leipzig, Quelle & Meyer 1910. M. 8—; geb. M. 9 —

Auf 306 Seiten ift in diefem Buch ein gewaltiger
Stoff behandelt. Dazu verläuft noch die Darfteilung in
fortgehender Auseinanderfetzung mit allen wichtigen
philofophifchen Anfchauungen alter und neuer Zeit, fo-
daß der fyftematifche Wert der Schrift erheblich wächft.
Stil und Darftellungsweife find mufterhaft klar und lebendig
, man kann fich keine beffere Einführung in die behandelten
Probleme wünfchen. Nur möchte man hier
und da eine etwas ausführlichere Darlegung der eigenen
Anficht des Buches haben, eine zweite Auflage würde
dadurch gewinnen.

Der reiche Inhalt gliedert sich in drei Teile, die
Pfychologie, Wertlehre und Gegenftandslehre des Erkennens
. Es muß genügen, einige befonders wichtig er-
fcheinende Punkte herauszuheben. Der erfte, reichhal-
tigfte Teil, die Pfychologie des Erkennens, bringt die
Theorie der äußeren und inneren Wahrnehmung, der
Erinnerung, des Denkens vermittels Begriff, Urteil, Schluß
fowie kritifche Auseinandersetzungen mit der ,apriorifchen'
Erkenntnis und mit dem gefühlsmäßigen Erfaffen. In
der Theorie der äußeren Wahrnehmung fleht der Verf.
in einem gewiffen Anfchluß an Kant. Raum- und Zeit-
auffaffung find ,felbftändige pfychifche Funktionen', die
durch Sinnesempfindungen ausgelöft werden. Die Kategorien
Kants werden reduziert auf die Subftanz- und
Kaufalauffaffung, diefe aber auf die elementaren Komponenten
des Unterfcheidens und der Auffaffung der
Gleichheit und der Identität zurückgeführt. Endlich wird
die Unterfcheidung von Sinnlichkeit und Verftand abgelehnt
. So entfteht ein vereinfachtes und verändertes
Äquivalent der Kategorientafel. Indeffen foll diefe Lehre
nicht das Dafein einer befonderen Klaffe von apriorifcher
Erkenntnis neben der apofteriorifchen behaupten (S. 74
bis 84), fondern jene oben herausgeftellten befonderen
Dispofitionen liegen eher als begrifflich abftrahierbare
Merkmale in jeder Wahrnehmung. M. E. fcheint nun
bei der Auflöfung der Kategorien in elementarere Merkmale
gerade das Eigentümliche der kategorialen Verknüpfung
unerklärt zu bleiben. Wie kommt es, daß ich
von der Funktion des Unterfcheidens zweier Vorgänge
zum Begriff der kaufalen Bindung beider gelange? Ift
die kaufale Abhängigkeit wirklich mit der S. 18 gegebenen
Erklärung getroffen? Ebenfo fcheint die Ablehnung der
apriorifchen Erkenntnis, die in der Polemik gegen Mei-
nong S. 74- 84 gegeben wird, das Eigentümliche diefer
Erkenntnisart nicht zu treffen, die Notwendigkeit der
apofteriorifchen Erkenntnis z. B. ift doch bedingt durch
eine endlofe Reihe von Urfachen, die der apriorifchen
Erkenntnis aber abfolut und bedingungslos.

Ebenfalls fcheint das Wefen des .Glaubens' nicht
damit erfchöpft, daß wir es lediglich als ungewiße Erkenntnis
faffen. Zeigt nicht die Pfychologie auch ein
qualitativ anderes, auf Erkenntnis überhaupt nicht reduzierbares
gefühlsmäßiges Erfaffen? Wir ftimmen dem
Verf. zu, daß gerade diefe Frage bis jetzt nicht befriedigend
behandelt ift (S. 316). Aber gerade daher fcheint
es nicht notwendig, daß wir dies unbekannte Gebiet völlig
durch das bekannte zu erklären hätten. Humes Erklärung
, der der Verf. am nächften lieht, ift doch wenig
den Tatfachen entfprechend.

In der Wertlehre des Erkennens (S. 95—206) wird
die Frage nach der Wahrheit als dem letzten Wert des
Erkennens geftellt. Das S. 202 gegebene Kriterium will
nicht recht weiterhelfen. Wenn die Wahrnehmungen
wahr find, die durch keinen weiteren Fortfehritt der Beobachtungstechnik
mehr verändert werden können, fo
bedeutet das ein unanwendbares Kriterium. Wer hat
vor Erfindung der Spektralanalyfe behaupten können,
daß die Farbenempfindungen in qualitativ andersartige,
mechanifche Schwingungen aufzulöfen, allo fubjektiven
Charakters feien? Wer weiß alfo irgendwo eine objektive
Erkenntnis nach diefem Kriterium zu konftatieren?

In der Gegenftandslehre des Erkennens endlich handelt
es fich um die Frage, ob es etwas vom Erkennen
Unabhängiges, ob es ,abfolute Gegenftände' gibt. Diefe
Frage bejaht der Verf. Er gibt dem Materialismus Recht,
fofern diefer als abfolute Gegenftände fowohl die Materie
wie die Bewußtfeinsprozeffe anfleht. Das Wirkliche ift
erkennbar. Es ift in Raum und Zeit. Das Verhältnis
von Bewußtfeinsprozeffen und Materie aber ift zu denken
nach dem pfychophyfifchen Parallelismus, fodaß mit be-
flimmten phyfifchen Prozeffen die Bewußtfeinsvorgänge
funktionell verknüpft find, in einfeitiger Abhängigkeit des
pfychifchen vom phyfifchen Gefchehen. Dielelbe Subftanz
, die weder Materie noch Seele ift, bedingt das
phyfifche und pfychifche Gefchehen. So wenig nun auch
diefe Erklärung die recht verftandenen ,Gemütsbedürf-
niffe' zu Hören braucht — die idealen Werte bleiben,
was fie find, einerlei, wie und woher fie entftanden find
— fo unterliegt fie doch einigem Bedenken. Denn derartige
moniftifche Erklärungen verfuchen die unüberbrückbare
Kluft zu überfpringen, die zwifchen phyfifchem und
pfychifchem Gefchehen, z. B. zwifchen dem Sehnervreiz
und der vifuellen Vorftellung befteht. Sie geraten ins
Metaphyfifche; jene angenommene Subftanz bleibt
mythifch.

Der Wert des Buches aber kann durch folche kritifche
Ausftellungen nicht vermindert werden, er liegt in
der klaren Befprechung der Probleme und in der Auseinanderfetzung
mit einer großen Fülle von philofophifchen
Anfchauungen.

Göttingen. E. Kohlmeyer.

Brentano, Frz.: Ariftoteles' Lehre vom Urlprung des menlch-
lichen Geiftes. (VIII, 166 S.) gr. 8°. Leipzig, Veit & Comp.
1911. M. 6 —

Diefe Schrift enthält ausfchließlich die Erneuerung
einer alten Polemik gegen Zeller. Im Jahre 1882 hatte
Brentano in den Berichten der Wiener Akademie eine
Abhandlung ,Über den Creatianismus des Ariftoteles' veröffentlicht
. Der erfte, kürzere Teil unferer Schrift legt
diefe Abhandlung wieder vor; in fechs Unterfuchungen
wird die Anficht verfochten, daß Ariftoteles nicht, wie
Zeller meint, die Präexiftenz des Nus gelehrt, fondern fich
zum Creatianismus bekannt habe, nach welchem Gott die
Seele im Augenblick der Geburt fchafft. Diefe ihre eigene
Lehre hatten die Scholaftiker fchon bei Ariftoteles finden
wollen, Br. macht fich die Deutung des Thomas von Aquino
zu eigen. Der zweite Teil wendet fich gegen Zellers Einwände
, indem er noch einmal die gleichen fechs Punkte
behandelt.

Die dreißig Jahre, welche feit diefer Polemik vergangen
find, haben ihr Feuer nicht zu dämpfen vermocht.
Man follte meinen, die Entfcheidung, auf welcher Seite
das Recht ift, müßte aus Ariftoteles Werken leicht ge-