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Ausgabe:

1913 Nr. 20

Spalte:

632-633

Autor/Hrsg.:

Windelband, Wilhelm

Titel/Untertitel:

Über Sinn und Wert des Phänomenalismus. Festrede 1913

Rezensent:

Dorner, August

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Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 20.

632

Für den Theologen dagegen ift befonders intereffant
der Umftand, daß hier das Recht in letzter Inftanz auf
einen ethifchen Faktor zurückgeführt und auf die Ethik
bafiert wird. Freilich auf eine .theologifche' Ethik, um
diefen unerfreulichen Ausdruck zu gebrauchen, fagen wir
lieber, auf eine religiöfe oder metaphyfifche, eine trans-
empirifch begründete Ethik mag fich der Autor nicht I
berufen. Er bemüht fich, die Ethik, die er als Grundlage j
des Rechts anerkennt, empirifch zu erklären und zu fun- I
damentieren. Das ift fein gutes Recht, wie es das gute
Recht des Philofophen ift, nach einer auf alles Transzendente
verzichtenden Begründung der Ethik zu ftreben. i
Auf der anderen Seite wird es aber auch erlaubt fein, j
darauf aufmerkfam zu machen, daß zwar erfahrungsgemäß,
wie fchon leicht an dem Beifpiel des Eudämonismus darzutun
wäre, fich wohl eine bedingte Geltung der ethifchen
Normen auf rein empirifchem Wege begründen läßt,
nicht aber die, fpeziell für die ethifchen Normen charak-
teriftifche, unbedingte Geltung. Eine folche läßt fich
entweder überhaupt nicht mehr begründen oder doch
nur mittels der Verankerung der ethifchen Normen in
einem transzendenten Abfoluten. Ich könnte auf das
Exempel Kants hindeuten, der trotz allem und alledem
ohne eine Fundamentierung im Transzendenten nicht
ausgekommen ift. Und denke ich dabei weniger an die
.Kritik der Praktifchen Vernunft' als an die .Grundlegung zur
Metaphyfik der Sitten', in der die Geltung des kate-
gorifchen Imperativs fchließlich doch damit begründet
wird, daß er das Gebot des intelligibeln Ich an das em-
pirifche Ich ift. Übrigens nähert fich unwillkürlich auch
der Autor felbft, indem er an Schopenhauerfche Gedanken
anknüpft, einer transempirifchen oder metaphy-
fifchen Begründung der Ethik.

Aber noch auf eins möchte ich nach vorhergegangener
Erinnerung an die Bedeutung des Gefetzes von der He-
terogonie der Zwecke mit wenigen Worten hinweifen.
Es wird zugeftanden werden müffen und wird ja auch
wohl zugeftanden, daß es ein ethifcher Zweck ift, um
deffen Willen der Staat gewiffe Forderungen der Individuen
fich angeeignet und die individuelle Gewalt durch
die Staatsgewalt abgelöft hat: nämlich der Friede und
das Befte des ,Ganzen' der Gefellfchaft. Die Verwirklichung
diefes Zwecks wird vom Staat den individuellen
Intereffen übergeordnet, fchließt aber deren Förderung
nicht aus, fondern geradezu ein oder bildet wenigftens
die Vorausfetzung dafür, wie der Autor felbft in feiner
Auseinanderfetzung über Individualismus und Sozialismus
höchft anfprechend dartut. Umgekehrt dürfte es zutreffen,
daß jene limitierten ethifchen Forderungen des Individuums
, deren gewaltfame Durchfetzung von den .andern'
gebilligt wird, gerade diejenigen find, deren Erfüllung
für das fpeziell vom Staat verfolgte Befte des .Ganzen'
neben anderem notwendig ift. Unter folchen Umftänden
wäre felbft vom Standpunkt des Verfaffers aus zu erwägen,
namentlich, wenn man die genetifche Frage und die Geltungsfrage
fcharf auseinander hält, ob es nicht richtiger
ift, die Geltung des Rechts, ftatt auf den ethifchen Willen
des Individuums und deffen Gewalt, in Fortbildung bekannter
Iheringfcher Gedanken auf den ethifchen Staatswillen
und deffen Gewalt zu begründen. Eine Frage für
fich bliebe dann abermals die, ob die Geltung des ethifchen
Staatswillens auf rein empirifcher oder transempirifcher
Bafis zu fundamentieren fei.

Im übrigen möchten die als Ergänzung der Inhaltsangabe
hier geäußerten Bedenken vor allem dazu dienen,
eine Vorftellung von den mancherlei Anregungen zu erwecken
, die das Jungfche Buch auch dem Ethiker und
Theologen zu bieten vermag. Vielleicht darf man, ohne
von den kritifchen Bemerkungen etwas zurückzunehmen,
noch hinzufügen, daß es möglicherweife für die Gegenwart
von einem gewiffen pädagogifchen Wert ift, wenn
ihr durch den Autor zu Bewußtfein gebracht wird, wie
in dem Kollektivintereffe, auf das man fich je und je

für die Geltung des ftaatlichen Rechts berufen hat, be-
ftimmte (kann fein, ältere) individuelle Intereffen mit einbegriffen
find.

Straßburg i. E. E. W. Mayer.

Windelband, W.: Über Sinn u. Wert des Phänomenalismus.

Feftrede. (Sitzungsberichte der Heidelberger Akad.
d. Wiff, Philof.-hiftor. Kl. Jahrg. 1912, 9.) (26 S.) gr. 8°.
Heidelberg, C.Winter 1912. M. 1 —

Es ift erfreulich zu fehen, daß Windelband fich immer
energifcher der Anerkennung der Metaphyfik zuwendet.
Zunächft bemerkt er, daß die Philofophie nicht bloße
Erkenntnistheorie bleiben könne, ohne zu einer pfycho-
logifchen Entwicklungsgefchichte der Vorftellungen zu
verdorren und im Relativismus, der fich heute Pragmatismus
nenne, zu enden. Unter Phänomenalismus verfteht er die
Lehre, daß die menfchliche Erkenntnis im Ganzen oder zu
einem Teile nicht das wahre Wefen der Wirklichkeit, fondern
nur ihre Erfcheinung, d. h. die Art erfaffe, wie fie fich im
menfchlichen Bewußtfein darftellt. Er verfolgt die Ge-
fchichte des Phänomenalismus und zeigt, wie man fchon
im Altertum die rationalen Momente, die Atome oder
den urbildlichen Begriff als übereinftimmend mit dem
Wefen der Wirklichkeit angefehen habe, die finnlichen
Beftandteile dagegen als Erscheinungen. Demgemäß fei
die Phänomenalität der Sinnesqualitäten noch heute in
Geltung, dagegen werden die Eigenfchaften der Körper,
die fich auf räumliche Verhältniffe, Größe, Geftalt, Lage,
Bewegung beziehen, von der Naturwiffenfchaft als real
betrachtet, fo daß man nur in den mathematifchen, quantitativen
Beftimmungen die Gefetzmäßigkeit der Natur
finde und deshalb fie nur als das Wirkliche gelten. Andere
dagegen erkannten diefen Unterfchied zwifchen qualitativen
und quantitativen Elementen nicht an, und fetzten alles
das, worin für uns der lebendige Sinn der wahrgenommenen
Welt befteht, in den Rang abfoluter Realität (Goethes
Farbenlehre, Fechner.) Neben der mathematifchen und der
Goethefchen Weltanfchauung beftehe noch die Anficht,
welche die gefamte Außenwelt der qualitativen und
quantitativen Beftimmungen als Erfcheinung faßt, die
Kantifche, der für die theoretifche Philofophie den abfoluten
Phänomenalismus nach früheren Vorftadien behauptet
. Weil Kant nun für das Wefen nichts übrig
behalte, habe er die unhaltbare Idee von der wiffen-
fchaftlichen Unerkennbarkeit des Dinges an fich gebildet.
Hierin fei der allgemeine Gegenfatz zwifchen Wefen und
Erfcheinung in negativer Form feftgehalten (negativer
Spinozismus, Verhältnis der Inhärenz im Unbekannten).
Der Gegenfatz von Wefen und Erfcheinung gehe aber
in den von Urfache und Wirkung über (Herbart, Schopenhauer
.) Weil jeder Erfcheinung etwas Dinganfichhaftes
entfprechen foll, fo führe das fchließlich zu der Überzeugung
, daß die Erfcheinungswelt das Refultat der
Wechfelwirkung des aufnehmenden Bewußtfeins und der
wirkenden Dinge fei. Achte man auf das Bewußtfein
allein, fo ergebe fich der Pragmatismus; achte man
auf beide Seiten, fo ergebe fich die Aufgabe, unter Aus-
fcheidung der anthropologifchen Momente den übergreifenden
Vernunftbeftand des Wirklichen, die Logik
des Gegenftandes herauszuarbeiten. Kurz, der Gegenfatz
von Wefen und Erfcheinung muß in das kategoriale
Verhältnis von Urfache und Wirkung nach Windelbands
Meinung übergehen. Für den abfoluten Phänomenalismus
werde der Begriff des Wefens, des Dinges an fich als
des völlig Unerkennbaren völlig wertlos und inhaltlos,
daher der Agnoftizismus. Kant fei aber nicht abfoluter
Phänomenalift, weil er feine theoretifche Vernunft durch
die äfthetifche und praktifche Vernunft ergänze und
zwar, wie W. mit Recht hervorhebt, feien diefe Formen
der Vernunft für Kant nicht bloß Ahnungen, nicht bloß
zweckmäßige Formen (,alsob'), fondern .rational e Denk-