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Ausgabe:

1913 Nr. 20

Spalte:

629-632

Autor/Hrsg.:

Jung, Erich

Titel/Untertitel:

Das Problem des natürlichen Rechts 1913

Rezensent:

Mayer, Emil Walter

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Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 20.

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Richard Wagner ift tief erfaßt. Zuerft fieht Nietzfche in
ihm die ,einzige Entfchuldigung' für die Zerteilung des
einen Willens in die zahllofen Wefen. Er erwartete zu
viel. Erft fpäter erkannte er, daß auch der Wagner, der
ihm einft alles gewefen ift, zum guten Teil ,feine Vor-
ftellung war — und fein Wille'. Er fand, daß es höchfte
Zeit fei, fichauffichfelbftzurückzubefinnen. Nietzfche wurde
jetzt felbft Meifter .... Mit Freimut und doch taktvoll
berührt der Verf. die Entfremdung von Mutter und Schwe-
fter, gewiffe Deutungen der Krankheit und vor allem die
Epifode Lou Andreas. Die Interpretation des ,Zarathuftra'
hat Weite und Glanz: diefes Buch wäre der ftärkften
perfönlichen Notwendigkeit entfprungen. Schon Anfang
der 70 er Jahre fanden fich für Nietzfche antike Vorbilder.
Gewiß, es ift das Lebenswerk und der Höhepunkt, wo der
Dichterphilofoph und Prophet für einen Augenblick ftille
ftehen wollte. Der Künftler und Reformator gipfeln in
ihm und ihre Forderungen, den Peffimismus zu überwinden.
Zarathuftra ift nicht Nietzfche, weil diefer nur eine Übergang
zum höchften Menfchen fein will. Eine Brücke nur,
noch lange keine Vollendung. Ja Zarathuftra felbft ift es
noch: die Sehnfucht nach unferer Kinder glücklichem
Land.

Man wird Meyers Buch trotz mancher weit ausgreifenden
, reinliteraturgefchichtlichenBelaftungmit großer
Anteilnahme lefen. Es find — und das ift wohl die
Hauptfache — der Stammbaum von Nietzfches Ideen und
die wefentlichen Inhaltsbeftandteile feines geiftigen Lebens
klar herausgeftellt. Sie wirken als Bild, als Totalität; wie
das Geficht eines Menfchen, das uns anfchaut.

Wien. Franz Strunz.

Jung, Prof. Dr. Erich: Das Problem des natürlichen Rechts.

(IV, 334 S.) gr. 8°. Leipzig, Duncker & Humblot
1912. M. 8 —

Das Buch erfordert hier infofern eine Befprechung,
als es einen wichtigen Beitrag liefert zu einer von den
Juriften zeitweife etwas ftiefmütterlich behandelten Wiffen-
fchaft, der Rechtsphilofophie. Seit Iherings .Zweck im
Recht' dürften, abgefehen von Stammlers .Lehre vom
richtigen Recht' nicht viel Werke erfchienen fein, die in
gleicher Weife wie das vorliegende geeignet wären, das
Intereffe auch weiterer Kreife an der Diskuffion über
fundamentale rechtsphilofophifche Probleme anzuregen.
Es foll im Folgenden der Vernich gemacht werden, den
Hauptinhalt möglichft gemeinverftändlich und in gebotener
Kürze zu kennzeichnen: eine Aufgabe, deren Löfung
durch die gefällige und geiftreiche Form, in der er dargeboten
wird, wefentlich erleichtert fcheint.

Der Autor beftreitet im Gegenfatz zu einer gewiffen
pofitiviftifchen Betrachtungsweife innerhalb der hiftorifchen
Schule, daß das vorhandene fixierte Recht, das auch
wohl als das .pofitive' bezeichnet wird, die einzige Rechtsquelle
fei. Er verweift darauf, daß im heutigen prak-
tifchen Rechtsleben fortwährend Entfcheidungen getroffen
werden müffen und getroffen werden, die fich aus dem
gegebenen fixierten Recht allein nicht ableiten laffen.
Sie find vielmehr aus einer anderen Quelle gefchöpft, die
man bei landläufigen Redewendungen, wie etwa die
.Natur der Sache', die .Zweckmäßigkeit', die .Vernunft',
die .Billigkeit' und anderen im Sinne hat. Ebenfo beftreitet
er, daß das fixierte Recht allein durch fich felbft
gelte oder lediglich der Autorität des Staats und dem
ftaatlichen Zwang feine Geltung verdanke. Vielmehr
findet deffen Geltung ihren letzten Halt in derfelben
Grundlage, auf der die Geltung der bereits erwähnten,
aus dem fixierten Recht nicht ableitbaren Entfcheidungen
beruht.

Welches ift diefe letzte Grundlage? Welches die
letzte Quelle des Rechts? Sie ift, kurz gefagt, ethifcher
Art, das heißt, fie ift derartig, daß fie als Spezies unter

den Gattungsbegriff des Ethifchen fällt. In der Tat bilden
die Glieder der menfchlichen Gefellfchaft urfprüng-
lich eine Einheit, für welche die Einheit des Kindes mit
der Mutter im Mutterleibe ein anfchaulicb.es Paradigma
darbietet. Auf Grund deffen entwickelt fich ganz von
felbft in den Gliedern der Gefellfchaft das Bewußtfein
einer Intereffengemeinfchaft und damit zugleich das Bewußtfein
von Verpflichtungen der einzelnen gegen die
anderen und von Forderungen der einzelnen an die anderen
. Diefe Verpflichtungen, diefe Forderungen sind
eben die ethifchen im allgemeinen. Es gibt nun ein ge-
wiffes Mindeftmaß der betreffenden Forderungen, deffen
Verletzung der einzelne unter Zuftimmung der anderen
,fich nicht gefallen laffen', fondern, wiederum unter Zuftimmung
und Billigung der andern, mit Gewalt abwehren
wird. Das genannte Mindeftmaß ethifcher Forderungen
ift die urfprüngliche Quelle des Rechts und bildet zu-
fammen mit der individuellen Gewalt, durch die es ge-
fchützt wird, die letzte Grundlage für die Geltung des
Rechts. Erft fpäter hat der Staat im Intereffe des Friedens
und damit zum Betten des Ganzen der Gefellfchaft
die Forderungen der Individuen anerkannt und zu den
feinen gemacht und die individuelle Gewalt durch die
Staatsgewalt abgelöft.

Selbftverftändlich ift in diefer Theorie nicht, wie in
einigen modernen radikalen Lehren, das die Meinung, daß
das fixierte Recht überflüffig und daß in jedem Falle auf
jene im Vorftehenden gekennzeichnete letzte Quelle und
Grundlage zurückzugehen fei, die der Breviloquenz halber
das .Naturrecht' oder das .natürliche Recht' genannt werden
möge. Die nächfte Quelle für Rechtsentfcheidungen ift
und bleibt das fixierte .pofitive' Recht, das der formulierte
Ausdruck des ihm zu Grunde liegenden .natürlichen' Rechts
ift; und nur in Zweifelsfällen ift auf das letztere zurückzugreifen
. Mehr als das! Das .natürliche Recht' wird unwillkürlich
feinem Inhalt nach, fozufagen infolge einer Art
von Rückwirkung, beeinflußt durch das fixierte pofitive
Recht, gleichviel, ob diefes ein adäquater oder nicht adäquater
Ausdruck von jenem ift. Denn das .Minimum,
des Verhaltens, das der einzelne von den anderen erwartet
und erwarten darf, wird unwillkürlich variieren je
nach der Befchaffenheit des beftehenden fixierten Rechts,
j Nichtsdeftoweniger ift die letzte Quelle und Grundlage des
j fixierten gegebenen Rechts das, was hier mit dem Aus-
■ druck .natürliches Recht' belegt worden ift.

Es wird nicht überflüffig, fondern vielleicht dem
Verftändnis des Ganzen dienlich fein, fofort noch daran
zu erinnern, daß der Verfaffer felbft den Terminus .natürliches
Recht' nicht ablehnt und in gewiffem Sinne gutheißt.
Nur will er nichts davon wiflen, daß es ein überall und
allezeit gleiches, dem pofitiven Recht übergeordnetes
Naturrecht gebe. Was als folches bezeichnet werden
kann, nämlich das durch individuelle Gewalt gefchützte,
von den .anderen' gebilligte Mindeftmaß ethifcher Forderungen
des Individuums, ift an den verfchiedenen Orten
und zu verfchiedenen Zeiten fehr verfchieden, je nach den
Umftänden und Verhältniffen, je nach der Kulturftufe
und ethifchen Bildung einer Gemeinfchaft. Allein fchon
indem der Autor die Unvermeidlichkeit und Notwendigkeit
derartiger Verfchiedenheiten ausdrücklich anerkennt,
will er fich von Stammler unterfcheiden, der zur Annahme
| eines idealen allgemein gültigen Rechts neigt, nach dem
alle .pofitiven' Rechtsbildungen ihrem Wert nach zu beurteilen
find. Aber freilich unterfcheidet er fich auch
wieder andererfeits von den Pofitiviften, für die alles
Recht einfach mit dem pofitiven Recht zufammenfällt.

Aus der vorgetragenen Auffaffung leitet Jung eine
Reihe von Konfequenzen ab, die er nach den verfchie-
denften Seiten hin beleuchtet. Feffelnd und lehrreich
find unter anderem feine Ausführungen über Individualismus
und Sozialismus. Für die juriftifche Praxis wären
wohl die wichtigften Folgen diejenigen, die fich in bezug
auf die fogenannte ,Auslegungsfrage' ergeben.