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Ausgabe:

1913 Nr. 19

Spalte:

596-598

Autor/Hrsg.:

Mackintosh, H. R.

Titel/Untertitel:

The Doctrine of the Person of Jesus Christ 1913

Rezensent:

Lobstein, Paul

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Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 19.

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Mit dem dritten Kapitel geht der Verfaffer zur Ent-
ftehung des antikollektiviftifchen, nominaliftifchen Individualismus
der modernen Welt über. Er fucht die Gründe
— abgefehen von einer kurzen Andeutung der proteftan-
tifchen Ermäßigung des Kollektivismus, der Nivellierung
der Ständegliederung durch den Abfolutismus und des
privatwirtfchaftlichen Gegenfatzes gegen den Merkantilismus
— rein in der Philofophie felbft. Indem er die
logifche Entwicklung der Sozialphilofophie, d. h. der
Erklärung des Ethisch-Altruiftifchen und der Gemeinfchaft
aus dem individuellen Nützlichkeitsintereffe, auffucht, glaubt
er dadurch zugleich die foziale Bewegung felbft zu faffen.
Nur gelegentlich und ganz unvermittelt taucht dann auch
,der individualiftifche Geift' alsUrfache auf, alfo gerade das,
was es vor allem und zuerft zu erklären gegolten hätte,
S. 46. In Anlehnung an Jodl und Hasbach wird nun die
Entwicklung der modernen Philofophie, Ethik und Soziologie
gefchildert. Nur ftimmt leider das grundlegende
Schema fchlecht, indem der Individualismus' immer
wieder ftatt von nominaliftifchen umgekehrt von begriffs-
univerfaliftifchen Vorderfätzen ausgeht. Sogar Locke und
,dererftekonfequenteBefreier'derMoralvomApriori,Mande-
ville, find noch unklar beherrfcht von kollektiviftifchen Vor-
ftellungen und univerfalen Begriffshypoftafen; und Hobbes,
der den Begriff des apriorifchen Sittengefetzes am gründ-
lichften bemeiftert, zieht daraus das Gegenteil individuali-
ftifcher Folgerungen. Auch die fchottifchen Moraliften, die
durch den Rekurs auf das Gefühl das Sittliche wenigftens
punktualifieren, wollen im Gefühl doch ein kollektiv-be-
griffs-univerfaliftifches Ideal ergreifen. Auch die an Shaftes-
bury angefchloffene Lehre von einer im Weltgefetz begründeten
Harmonie egoiftifcher und altruiftifcher Triebe
liegt noch in diefem Banne. Sogar die Franzofen, Montesquieu
, Rousseau und die Phyfiokratie entwickeln ihren
Individualismus aus einer kollektiviftifch-begriffsuniverfa-
liftifchen Befangenheit, aus einem angeblichen apriorifchen
Sittengefetz. ,Das Recht auf Freiheit wird durchaus
rationaliftifch begründet S. 81'. Mit Hume erfcheint dann
endlich ein völlig konfequenter Nominalift, allein hier
ift nun gerade wieder die kollektive Autorität nicht rein
vom Individualismus hergeleitet, fondern der reinen
Macht ein erheblicher Spielraum eingeräumt. Erft Adam
Smith bringt den reinen Individualismus als die Lehre
von der automatifch-unbewußten Herftellung der Harmonie
gerade durch die egoiftifchen Triebe, welche allerdings
auf dem göttlichen Weltplan beruht. Allein das ift nun
wieder kein Nominalismus, fondern Metaphyfik, wie denn
ja Smith auch altruiftifche Triebe als Ausdruck des Sittlichen
anerkennt, nur aber ihnen allein die Gefellfchaftshar-
monie bei ihre Schwäche nicht anvertrauen will. Damit ift der
Höhepunkt erreicht. ,Erft mehrere Jahrzehnte nach Adam
Smith wird der alte Kampf in neuen Geftalten wieder
aufgenommen — vor allem in Deutfchland, deffen Dichter,
Denker und Politiker die Macht des Kollektivgedankens
nie völlig überwunden hatten S. 102'.

Man fieht: der einzige felbftändige Gedanke des
Buches, das Schema von der Korrelation der Erkenntnistheorie
mit der Sozialphilofophie, ftimmt nur beim Mittelalter
, Abfolutismus und Proteftantismus, wo der Verf.
den Sachverhalt nur ganz fchwach kennt. Es verfagt in
feiner eigenen Darftellung der Neuzeit, wo er beffer zu
Haufe ift. Der Individualismus wurzelt immer wieder in
Idee und Metaphyfik, der Nominalismus und die Skepfis
dagegen bringen nicht den reinen Individualismus, fondern
eine Mifchung von Gewalt und fubjektiver Triebfreiheit hervor
. In Wahrheit kommt es dem Verfaffer auch weniger auf
den Nominalismus und den Individualismus als auf eine
empirifch-utilitariftifche Erklärung des Sittlichen ohne den
Wahn eines aprioiorifchen Sittengefetzes an. Der Individualismus
ift ihm daher in Wahrheit der Egoismus. Das |
ift der Gedanke, auf den er bei allen Autoren losfteuert.
Über die allgemeinfte Vorausfetzung, daß der moderne
Individualismus aus der Philofophie, und gar aus der des

Utilitarismus entftanden fei, braucht man kein Wort zu verlieren
. Die Sache liegt in Wirklichkeit eher umgekehrt.
Er deutet zwar gelegentlich an, daß diefe Theorien nur
den dndividualiftifchen Geift' rechtfertigen. Deffen eigene
Urfprünge fucht er aber nicht. Das ift ihm offenbar kein
Problem. Das wahre Problem hätte in diefem Geift felbft,
in der Frage nach dem Anteil der bloßen Theorien an
feiner Bildung und nach der Rückwirkung der Theorien
auf den ,Geift', gelegen.

Heidelberg. Troeltfch.

Mackintosh, Prof. H. R., Dr. phil., DD.: The Doctrine of
the Person of Jesus Christ. (International Theological
Library). (XIV, 540 S.) 8 °. Edinburgh, T. & T. Clark

1912. S. IO.Ö

Wenn der Verf. in den befcheidenen Worten, mit
welchen er feine Schrift einführt, den Wunfeh ausfpricht,
fie möchte in erfter Linie ein Handbuch für Studenten
fein, fo wird man ihm die Verficherung geben dürfen,
daß diefer Wunfeh fich zweifelsohne in reichem Maße erfüllen
wird. Hat er es doch vortrefflich verftanden, nicht
nur angehende Theologen, fondern felbft gebildete, für
religiöfe Fragen intereffierte Laien, auf dem von ihm bearbeiteten
Gebiet zu orientieren, die verfchiedenen Epochen
der Gefchichte der Chriftologie zu beleuchten, be-
fonders aber den gegenwärtigen Stand der Difziplin und
die umftrittenen Probleme in ihrer Genefis und ihrer Tragweite
klar zu machen. Ein jeder wird fomit in den Stand
gefetzt, zu den Fragen perfönlich Stellung zu nehmen,
und manche werden fruchtbare Anregungen zu weiteren
Unterfuchungen erhalten.

Die konservative Haltung des M.fchen Werks ift keine
einfache Repriftination der Überlieferung, fie artet niemals
in aufdringliche Apologetik aus, fie erweift fich als das
Ergebnis ernfter Gedankenarbeit und abgeklärter Glaubensüberzeugung
. Daher die innere Wärme, welche die Schrift
durchdringt und die, mit kraftvoller Nüchternheit gepaart,
nirgend fich auf Koften der Klarheit und Gründlichkeit
zu fühlen gibt. Daher auch die vornehme Irenik, die,
weit entfernt von zweideutigen Vermittelungen und Kom-
promiffen, die Frucht allleitiger Umfchau und tiefgehenden
Verftändniffes darfteilt. Bei aller Entfchiedenheit
feines Standpunktes, weiß der Verf. nicht nur dem Gegner
gerecht zu werden, er vermag auch von ihm zu
lernen, und muß felbft denjenigen Teilnahme und Hochachtung
abgewinnen, die ihm nicht auf allen feinen Gedankengängen
folgen können.

Die Schrift zerfällt in einen biblifch-theologifchen,
einen dogmenhiftorifchen und einen fyftematifchen Teil.
Da dem Referenten eine ftarke Reduktion der zuerft ein-
gefandten Anzeige des M.fchen Buchs zur unbedingten
Pflicht gemacht wurde, muß er von der Befprechung fo-
wohl der biblifch-theologifchen Begründung als auch der
dogmengefchichtlichen Darfteilung abfehen. Dem Verflach
eines Wiederaufbaus der Lehre gilt das umfangreichere
, dritte Buch der Schrift des Verf.: the recon-
struetive statement of the doctrine (285—534). — Der
allgemeine Charakter diefes Verfuchs läßt fich am bellen
aus der Stellung erkennen, die M. zur deutfehen Theologie
einnimmt. Die klare Einficht in die Eigenart der hifto-
rifchen und der religiöfen Erkenntnis Chrifti, das induktive
Verfahren, das fich von den Tatfachen und Erfahrungen
zu den denfelben zu Grunde liegenden Faktoren
erhebt, die beftimmte Unterfcheidung der unmittelbaren
Ausflögen (S. 345—426) und der transcendenten Vorausfet-
zungen (427—534) des Glaubens dokumentieren den inneren
Zufammenhang des Verfaffers mit der durch Luther,
Schleiermacher und Ritfehl vertretenen evangelifchen
Tradition, die die Chriftologie von unten nach oben aufbaut
und der von ihm verfolgten Spekulation ihren
eigentlichen Stempel aufdrückt. Denn von der Berech-