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Ausgabe:

1913 Nr. 19

Spalte:

594-596

Autor/Hrsg.:

Pribram, Karl

Titel/Untertitel:

Die Entstehung der individualistischen Sozialphilosophie 1913

Rezensent:

Troeltsch, Ernst

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Theologifche Literaturzeitung 1913 Nr. 19.

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halt, deffen rechte Hand Mufa bei der Reformation des
Bistums 1544 —1547 war. Wir lernen hier Mufa als
tüchtigen, wohlgelehrten und überaus eifrigen Kirchenmann
kennen, der fich bei den Vifitationen, bei Errichtung
des Konfiftoriums und deffen Wirkfamkeit trefflich bewährt.

Bürger und Bauern wollen evaDgelifche Pfarrer (S. 27), fie wollen
Bibeln kaufen, aber der Dekan Fr. v. Schönberg verbietet es. Die Stifts-
geiftlichkeit leiftet der Reformation Widerftand, aber ohne Erfolg. Groß
ift die Unwiflenheit (S. 39) und das weltliche Treiben (S. 38; 44). Scharf
ift Mufas Urteil über Cordatus (seditiosus et mire impudens declamator
S. 41) und Daniel Grefer in Dresden (die heffifchen Efel wollen heffifche
Sitten nach Sachfen verpflanzen (S. 44). Gr. will ,ein feyn eullerlich bap-
ftum wider haben mit einem heffifchen senatus ecclesiasticus.' Den Wert
des religiöfen Unterrichts fchlägt Gr. nicht hoch an, der Dekalog ift ihm
eine armfelige Lehre (S. 47). Er kümmert fich nicht um das geringe Volk
(S. 45). Auch fonft finden fich neue Nachrichten, z. B. über Leipzig als
erften Druckort von Luthers Schrift contra XXXII articulos Lovaniensium
theologistarum 1545 (S. 49), über den Mordanfchlag gegen Bugenhagen
1. April 1545 (S. 45), die Geheimhaltung von Luthers Ratfchlag d. d. 6.
März 1530 (S. 61), über die Elevation und die Abendmahlsreliquien.
Sehr fchön und heute noch zeitgemäß ift Mufas Wort: Utilius ecclesiae
censeo fore, ut plus opere ponamus in explicandis dogmatis christianae
doctrine et in asserendis Ulis, que vera, que recta, queque salutaria sunt,
quam in reprehendendis flagitiis hominum et in iudicandis caussis poli-
ticis, quarum iudicium neque ad nostrum ordinem spectat neque a quo-
quam nobis mandatum est (S. 65). Er wußte fich darin völlig eins mit
Melanchthon.

Friedensburg gibt aus Brieffchaften Cervinos und
Farnefes Auszüge von Briefen aus Deutfchland über die
durch das Interim gefchaffenen Verhältniffe in den Bistümern
Halberftadt, Hildesheim, Bremen, Speier, Magdeburg
, Worms, Straßhurg, Mainz, Osnabrück und Minden.
Der Erfolg der kaiferlichen Religionspolitik ift gering, der
Widerftand namentlich im Norden ftark, der Befuch des
Provinzialkonzils in Mainz von Seiten der Bifchöfe fchlecht,
die Klage aus Worms fehr bezeichnend: in summa omnia
sunt peiora prioribus (S. 241, vgl. den Schluß meines Interims
in Württemberg S. 172 ff.).

Friedensburg beleuchtet auch die erfte Feftfetzung
der Jefuiten in Bayern. Die Univerfität Ingolftadt kränkelte.
Erft follten Prälaten und der Erzbifchof von Salzburg
Lektoren dort unterhalten, ja der Papft forderte von den
Bettelorden in Italien und Frankreich und den Niederlanden
Abfendung von zwei oder drei Gelehrten aus ver-
fchiedenen Orden. Herzog Wilhelm aber begehrte Jajus,
den Ignatius 1549 endlich auf Drängen Pauls III. mit den
aus Sizilien kommenden Salmeron und Canifius nach
Ingolftadt abfchickte. Beachtenswert ift die Charakteriftik
des Ordens durch Farnefe S. 88ft. In die Zeit nach dem
Interim führt Fr. Roth mit gewohnter Gründlichkeit, indem
er uns erft die beiden Augsburger Silv. Raid, Fuggers
Diener, und den Stadtfchreiber Ge. Fröhlich, den er als Verf.
der Historia belli Schmalcaldici, des proteftantifchen Gegen-
ftücks zu Avilas Werk, nachweift, in ihrer Entwicklung bis
zu abenteuerlichen Unternehmungen und verbrecherifchen
Wegen fchildert. Dann gibt er uns Kenntnis von dem
Leben und der Tätigkeit des Augsburger Formfehneiders
David Denecker und feines Freundes des Dichters Martin
Schrot, die ihrem Haß gegen das Papfttum in Schmäh-
fchriften Luft machen. O. Clemen weift als Verfaffer der
mit J. M. und G. M. bezeichneten Flugfchriften den
Wittenberger BüchfenmeifterGeorgMotfchidler nach,deffen
Motto: es ift affun, d. h. es ift alfo, eine Wahrheitsbekräftigung
, ihn als Oftfranken erweift, der aber nicht
der in Reins'bronn 1579 (nicht VJ587) verftorbene ritterliche
Herr fein kann. J. Kvacala beginnt mit Schilderung
der Geiftesart und der Reformgedanken des
franzöfifchen gelehrten Sonderlings Wilh. Poftell, der über-
fprudelt von originellen Miffions- und Unitätsideen, aber
es zu keiner ruhigen, geordneten Verarbeitung bringt.
Des Raums wegen muß das genauere Referat mit der
Fortfetzung im nächften Jahrgang gegeben werden.

Zum Schluß noch einige Kleinigkeiten. S. 30 Z. Ii 1. hinnuleum.
S. 38 Z. 26 ftreiche vult. S. 93 Z. 6 PrincipiO. S. 94 Z. 23 1. commen-
daticia. Anm. 4. 2 Cor. 8, 13, wo Vulgata remissio hat. S. 99 Z. 8 1.
er seye. S. 119 Anm. zu dem wort: vergewist = vergewissert. S. 139
Z. 8 v. u. seyger ift zäher Wein, vinum pendulum. Grimm X, I, 199.
S. 256 Anm. 4 ift die Korrektur ,fchauen' für fchewhen zu ftreichen. Es

handelt fich um Ärgernis, das man verabfeheut. S. 266 Z. 16 villicus
iniquitatis Luc. 16, 8 Vulg. Die Anm. ift zu ftreichen. S. 271 Z. 1 ergänze
iussu ad Z. 31 plebiS. S. 242 Z. 7 wohl Paderbornensis. S. 274 Z. 5
und 275 Z. 32 ift ftatt Emaushofen wohl Emershofen zu lefen. S. 331
ftreiche die Anmerkung. Melanchthon fagt, die öffentliche Gottesläfterung,
aber auch die wahre Religion hätte in Verachtung kommen müffen. S. 345
Z. 28 ift die Korrektur von ,zuvornemen haben' in vernommen haben
unnötig. Die Korrektur S. 37 Z. 14—19 und S. 275ff. ift mangelhaft.

Stuttgart. G. Boffert.

Pribram, Priv.-Doz. Karl: Die Entftehung der individualiftifchen
Sozialphilofophie.. (V, 102 S.) gr. 8°. Leipzig, C. L. Hirfch-
feld 1912. M. 2.80

Die Entftehung des modernen Individualismus', der
als Liberalismus, Demokratie, Kapitalismus, geiftige
Autonomie und individuelle Kulturgeftaltung die Neuzeit
durchzieht und tiefgreifend beftimmt, ift eines der großen
hiftorifchen Probleme, die noch fehr wenig gelöft find.
Der Verfaffer macht fich von national-ökonomifcher Seite
her an einen Beitrag zur Löfung diefer Aufgabe, will
aber das Problem philofophifch vertiefen. Er unterbaut
daher feine Löfung mit einer theoretifchen Beftimmung
von Kollektivismus und Individualismus als den zwei
kämpfenden Prinzipien. Der Kollektivismus hypoftafiert
die bloße Idee einer Gemeinfchaft zur metaphyfifchen
Realität und vernichtet damit das Individuum, bedingt
die Afkefe ufw.; diefe Hypoftafierung entfpricht dem
platonifchen Begriffsrealismus, den auch das Chriftentum
übernommen hat. Dahingegen der Individualismus entfpricht
einer nominaliftifch-empiriftifch-pofitiviftifchen
Denkweife, die nur das tatfächliche Individuum und feine
Triebe kennt, daher Ethik und Gefellfchaft lediglich als
Mittel zur Befriedigung feiner Bedürfniffe konftruiert.
Nach diefem Schema wird der gefchichtliche Verlauf bis
zum Siege des modernen Individualismus konftruiert.

Das Mittelalter und die abfolutiftifch-konfeffionelle
Periode der europäifchen Gefchichte, deren Kenntnis der
Verfaffer aus Janet, Rehm, v. Eicken, Kuno Fifcher, Jodl,
Gierke ufw. fchöpft, ift kollektiviftifch in der Soziallehre und
der fozialen Wirklichkeit, platonifch-metaphyfifch in der
Philofophie und im Dogma. Der konfeffionelle Abfolu-
tismus zieht nur etwas mehr die ftoifche Philofophie heran
. Der Verfaffer hat vom Chriftentum und feiner wirklichen
Gefchichte kaum eine Ahnung, behandelt aber
auch die Gefchichte der Philofophie, wo Kuno Fifchers
und Jodls Einleitungen feine Hauptquellen find, höchft
desultorifch. Das im einzelnen nachzuweifen, ift hier
nicht möglich und nicht lohnend. Ich zitiere nur den
Satz S. Ii: ,das alte, dem Pharifäer Hillel zuge-
fchriebene Wort (dafür Berufung auf Janet, Hist.
de la science polit. I 301): — Tue keinem andern, was
du felbft nicht von ihm erleiden möchteft —, ein Wort,
das fpäter feit Hobbes und Gaffendi immer wieder
als Richtfchnur für das Handeln des Menfchen aufgeftellt
wird, enthält in nuce die Morallehre des nominaliftifchen
Individualismus; denn er leitet aus der individuellen
Nützlichkeit, ohne Berufung auf ein abfolut geltendes,
mit pofitivem Inhalt erfülltes Moralgebot, alle Lehren der
Sittlichkeit ab, derenlnhalt er zunächft rein formal beftimmt'.
In Wahrheit handelt es fich um die Bibelftelle Math. 7, 12,
und jeder Kenner weiß, daß diefer Spruch im ganzen
Mittelalter und Altproteftantismus als Formel für das
,Gefetz der Natur', das natürliche angeborene Sittengefetz
oder auch das Gefetz der Liebe, gilt und mit ähnlichen
Faffungen des ftoifchen fittlichen Naturgefetzes zufammen-
gereiht wird. Daß es eine utilitariftifche Benutzung zuläßt
und infofern Hobbes fehr bequem lag, liegt auf
der Hand. Allein Hobbes hat ihn nun gerade nicht für
einen nominaliftifchen _ Individualismus, fondern für das
Gegenteil, für eine mit Hilfe der mechaniftifchen Meta-
phyfik deduzierte fchroffe antiindividualiftifche Soziallehre
verwendet.